Gedicht von 1990

[Martinküster]

Vor 27 Jahren habe ich mit Tusche auf Pergament folgendes Gedicht geschrieben und meinen Eltern zu Weihnachten geschenkt:
 
"ENGLISCHER GARTEN"  (Anm.: Stadtpark in München)

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
spürst du den Zauber,
der in dieser Zeit,
gleich lustig schimmernd Seifenblasen
durch die Lüfte steigt.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
die Tage werden kürzer,
und doch,
die Sonne scheint
und öffnet mir die Poren.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
gleichsam einer kleinen Biene,
schlürf ich den süßen Wein,
den mir gießt aus vollen Krügen,
der Sommer,
ich trinks in vollen Zügen.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
im Park der Eitelkeiten,
liegt das Fleisch gleich Herbsteslaub,
so bunt gewürfelt -
Brüste, die so lange Zeit,
drückend in den Körben lagen,
nun befreit und quellend,
die wahre Lust sich bietend.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
was würd ich geben,
sie alle zu berührn,
mal sanft, mal fest, gerade wies gefällt,
und wär mein Leben dann am Ende,
so würd ich gerne gehn.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
in der Sonne blinzelnd sitz ich,
der Kaffee ist schwarz und gut.
Die Straße eilt in bunten Farben,
die Pracht schlägt mich in ihren Bann.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
leicht geschürzt,
die holde Weiblichkeit,
ich taumle, pruste,
es schlägt mein Herz,
als wär sein Platz im Hals.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
ein Porsche hält vor meinen Füßen,
schwarz und chrom verputzt,
ich lächle triumphierend,
da ich mir sicher bin,
die Freude liegt so schön und rein,
in völlig andren Werten.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
noch bist du jung
und du kannst leben.
Es sind deine besten Jahre,
greif zu und lass dich treiben.
Der Herbst,
er wartet schon am Horizont,
und lässt nicht auf sich warten.

Oh, Wandrer durch die große Stadt,
nun eile ohne Zögern,
verschwende nicht die Zeit,
ist der Herbst erst eingekehrt,
dann muss die Wärme in dir sein,
denn der Frost,
er kommt danach,
und er kennt keine Gnade.

[Matthias Jecker]

hallo martinküster
deine geschichte folgt mehr als einem rotebn fadden, inhaltlich wie formal.
und das allein macht schon mal dem leser freude.
dann schlängelst du dich aber auch sehr elegant um alle rostigen dolendeckel der lyrik und alle frischen hundeköttel der poetik herum auf dem weg durch diese stadt, die eigentlich martinküster heisst.
"mein herz schlägt, als wär sein platz im Hals" ist ein hervorragendes beipiel für dieses elegante an sprachlichen klippen und lyrischen fallen vorbeitänzeln.
vom inhalt her ein überaus gewöhnlicher text, aber in recht ungewöhnlicher fassung. und gerade das macht ihn für mich zu einem vergnügen.
obwohl ich münchen als besucher durchaus als überaus gewöhnlich empfunden habe. aber eben, die stadt heisst nicht münchen, entgegen deinen vorgaben.
mj