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Timo


 
 
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Rike
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 45
Beiträge: 254



Beitrag18.04.2008 15:57
Timo
von Rike
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Timo

„Lass mich los!“, schrie er, so laut er konnte und stemmte seine Füße fest in den Boden, dass es mir nur mit großer Mühe gelang, ihn vor die Tür zu zerren und diese mit einem Fußtritt zu schließen. Ich hielt seine Arme fest umschlossen und spürte, wie er seine Fingernägel in meinen Handrücken bohrte, so dass mir unwillkürlich Tränen in die Augen schossen.
Um nicht vor Schmerz aufzuschreien, biss ich mir auf die Lippen.
Er wand seinen kleinen Körper in meiner Umklammerung kraftvoll hin und her, als kämpfe er ums nackte Überleben. Mit seinen Füßen verpasste er mir Tritte gegen das Schienbein. Ich hielt es aus.
Sollte er mich hauen, ich hatte es wohl  verdient! Warum nur hatte ich das nicht bedacht?
Er gab nicht auf. Sein Haar klebte zerzaust auf der schweißnassen Stirn und seine Augen glänzten fiebrig.
„Lass mich endlich los du Hure! Arschkuh! Fick dich! Ich hasse dich!“, brüllte er aus Leibeskräften. Ich dachte nicht daran ihn loszulassen.
Um das Gleichgewicht zu halten, lehnte ich mich an die Wand. Dann zog ich ihn noch näher an mich heran, legte meine Arme um ihn und hielt ihn fest an mich gedrückt.
Ich spürte seine Fäuste, gegen meinen Bauch drücken. Ich fühlte, wie er sich mit all seiner Kraft gegen meine Umarmung stemmte, doch ich war stärker.
Vor lauter Frust und Wut begann er laut zu schluchzen.
Plötzlich brach jeglicher Widerstand zusammen.
Der kleine widerspenstige Körper vor mir wurde weich und ließ sich kraftlos in meine Arme sinken. Noch immer wurde er von heftigen Schluchzern geschüttelt. Sie klangen aber nicht mehr wütend, sondern zeugten von einer Verzweiflung, die aus dem tiefsten Inneren kam.
Ich ließ mich mit ihm auf den Boden gleiten, ohne ihn dabei loszulassen.
Er schmiegte seinen Kopf an meinen Hals, so dass ich seine heißen, tränennassen Wangen spürte und hielt sich mit seinen Fingern
an meinem Pullover fest. So saßen wir eine endlose Weile da.
Sein Schluchzen ging langsam in ein Wimmern über.
Ich lehnte meinen Kopf nach hinten und schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Es war geschafft, für diesen Moment wenigstens war es geschafft.

Hinter den Türen, die den langen Flur säumten, hörte man fröhliche Kinderstimmen singen. Der dumpfe Gesang verschmolz mit dem Wimmern zu einem ambivalenten Gemisch, das die kleinen Risse in dieser heilen Welt, die uns umgab, zu tiefen schwarzen Kratern spaltete.
Der Körper in meinen Armen begann zu zittern und reflexartig fing ich an ihn beruhigend zu streicheln. Er fühlte sich so zart und zerbrechlich an und ich fragte mich, wie lange es wohl her ist, dass er so im Arm gehalten wurde.  Seine Tränen nahmen kein Ende. Ich wusste, er würde nicht genug Tränen haben, um all die Enttäuschung, die ihm in seinem kurzen Dasein schon begegnet ist, weg zu schwämmen.
Angespannt horchte ich in Richtung der Tür neben mir. Ich erwartete jeden Moment, dass sie auffliegen und eine Horde lärmender Kinder sich neugierig auf uns stürzen würde. Doch alles blieb still.
Kinder haben manchmal doch ein feines Gespür, erkannte ich mit großer Erleichterung.

Auch die Kinder waren heute Morgen erleichtert, denn es war der letzte Tag vor den Ferien. Ich hatte sie erzählen lassen von ihren Plänen und alle hatten sie berichtet, von ihren Großeltern, die sie besuchen oder vom Urlaub mit den Eltern. Timo blieb eine Weile still. Dann begann er seine Stifte durch die Klasse zu werfen.
Ich wollte ihn mit einbeziehen: „Timo, dein Erzieher hat mir erzählt, dass ihr ein ganz tolles Ferienprogramm im Heim habt. Magst du uns ein bisschen davon erzählen?“
Hasserfüllt sah er mich an und brüllte: „Du lügst! Ich bleib nicht im Heim! Sie holt mich! Meine Mama holt mich und dann kauft sie mir ein kleines Häschen!“
Er war sehr aufgebracht und schien mit seinen Worten alle überzeugen zu wollen. Es entging mir aber nicht, dass er am meisten sich selbst überzeugen wollte.
Ehe ich reagieren konnte, warf er seinen Stuhl um und trat mit vollster Wucht wieder und wieder gegen seinen Ranzen. Dann wendete er sich im aggressiven Rausch gegen einen Mitschüler und wollte schon auf ihn losstürzen aber ich warf mich dazwischen und zerrte ihn vor die Tür, wo wir jetzt eng umschlungen saßen.

Die Wunden an meinen Handgelenken begannen zu pochen. Am liebsten hätte ich selbst gegen die Wand gehauen, vor Wut! Wut auf mich selbst, denn ich wusste es doch! Ich wusste, dass er es nicht wahrhaben will und immer wieder hofft, dass sie kommt.
Aber vor allem hatte ich eine unsägliche Wut auf diese Frau, die ich nicht einmal kannte. Die Frau, die dieses Kind geboren und sich selbst überlassen hat. Die immer nur so lange da war, dass es reichte ein Stückchen mehr kaputt als wieder heil zu machen.

Plötzlich wurde ich von einer  unsäglichen Hilflosigkeit übermannt. Wie nur, kann man einem sechsjährigen Kind das Grundvertrauen an die Menschen ermöglichen, wenn der Mensch, den er am meisten liebt, immer nur leere Versprechungen macht.
Wie kann man ihm helfen, wenn seine Liebe so unerschütterlich ist, dass sie jedem Verrat, jeder neuen Lüge stand hält.
Wie soll man diesem Kind verständlich machen, dass es jetzt, wo es im Heim lebt, das große Los gezogen hat. Denn hier sind Menschen, die sich um sein Wohlergehen kümmern.
Wie kann er begreifen, dass der Staat einen Haufen Geld dafür ausgibt, um ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen, wenn er in all dieser Hilfe nur sieht, dass sie ihn von seiner Mutter fern hält.
Wie soll man ein Kind auffangen, dass langsam begreift, dass es immer wieder im Stich gelassen wird und taumelt zwischen der Suche nach der eigenen Schuld, der langsam aufkeimendem Hass gegen die Mutter und doch die verzweifelte Verteidigung nach außen.
Wie kann man wissen, was in einem Kind vorgeht, aus dessen Erleben man nur wenige Bruchstücke kennt.

Was konnte ich für ihn tun? Ich war seine Lehrerin und sollte ihm Kulturtechniken beibringen. Das war meine Aufgabe in seinem Leben. Pädagogische Professionalität hin oder her, ich war den emotionalen Problemen dieses Kindes nicht gewachsen, darüber war ich mir im Klaren. Doch war auch ich eine Bezugsperson in seinem Leben geworden und war mir dieser Verantwortung bewusst. Nach einer Weile kam mir eine Idee.

„Timo, du weißt doch, ich habe einen Hund“, flüsterte ich.
Er nickte und vergaß weiter zu weinen.
„Und du hast mir doch erzählt, du magst Hunde“, fuhr ich ermutigt fort.  
Er zog die Nase schniefend hoch, sah mich mit seinen geröteten Augen an und nickte wieder.
 „Ich könnte dich in den Ferien mit ihm besuchen kommen und wir gehen zusammen spazieren? Hättest du ein bisschen Zeit für uns?“
Er sah mich eine Weile ausdruckslos an.
 „Ich werde im Heim anrufen und nachfragen, wann ich am besten kommen kann“, redete ich weiter.
„Kannst du jetzt gleich anrufen?“, fragte er plötzlich.
 
„Ja“, sagte ich und lächelte ihn erleichtert an, „komm, lass uns gehen.“
Ich erhob mich und er nahm sofort meine Hand.
Ich wählte die Nummer und sprach mit dem Erzieher. Zufrieden merkte ich, wie seine Augen langsam zu leuchten begannen.

Vor der Klassentür blieb er plötzlich noch einmal stehen und sah mich prüfend an.
„Kommst du auch wirklich?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich und drückte seine Hand.
Auch wenn es nur ein kleiner Trost war, dieses Mal, würde er nicht enttäuscht werden.



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Maria
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Beitrag18.04.2008 16:25

von Maria
Antworten mit Zitat

Hallo Rike,

toll! Die Verzweiflung von Euch beiden ist erdrückend. Ich frage mich oft die Frage die deine protagonistin stellt "warum ein Kind, wenn man es nicht liebt/umsorgt".

Die Arschkuh ist bitter-süss. Ein typisches Kinderschimpfwort, wenn sie nicht weiterwissen. Man möchte grinsen, wenn Timo nicht so zu kämpfen hätte. Ist wohl immer noch aktuell? wink

Eine kleine Sache hab ich: der Absatz "Auch die Kinder waren heute Morgen.....". Du beginnst mit der Vorvergangenheit, aber ab "Hasserfüllt" ists wieder die Vergangenheit. So kam ich kurz im rückblick ins Schleudern. Kleinigkeit.

Toller Text, der mich sehr berührt hat !

VG
Maria


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Beitrag23.04.2008 16:13

von Rheinsberg
Antworten mit Zitat

Das ist gekonnt, und man merkt auch, dass du kennst, wovon du schreibst. Die Beschreibungen haben mich gleich mitgenommen, und mich daran erinnert, wie es sich anfühlt, wenn so ein kleiner Kerl sich windet und rumtobt.
Mir fällt nichts auf, was ich verbessern möchte.


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lupus
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Beitrag23.04.2008 16:35

von lupus
Antworten mit Zitat

Eine außergewöhnlich berührende Geschichte. Was mir besonders gefällt, ist die Art wie du dein pädagogisches Wissen in Emotionen umwandelst. Und: du zeigst nicht nur die Verzweiflung des Jungen, sondern auch der Lehrerin. sehr gekonnt, sehr ergreifend.

Ein paar Punkte (blau) sind mir aufgefallen, Kleinigkeiten, die mich aber ein bisserl (ein ganz ein kleines) im Lesefluss aufgehalten haben, von denen ich aber gar nicht wirklich weiß, ob es tatsächlich Knackpunkte sind (seh meine Anmerkungen bitte als Fragen "wär das nicht richtiger?"):

Zitat:
wie er seine Fingernägel in meinen Handrücken bohrten, so dass

Zitat:
„Lass mich endlich los du Hure! Arschkuh! Fick dich! Ich hasse dich!“, brüllte er aus Leibeskräften. Ich dachte nicht daran ihn loszulassen.

Hier hab ich mir gedacht: " na hallo, wenn das mein Kind zu mir sagen würd" Und auch das hat mir gefallen, dass du mich (vielleicht waren andere schlauer) eine Weile im Ungewissen gelassen hast.
Zitat:
und ich fragte mich, wie lange es wohl her ist (sei), dass er so im Arm gehalten wurde.

Zitat:
die ihm in seinem kurzen Dasein schon begegnet ist (war), weg zu schwämmen.

Zitat:
von ihren Großeltern, die sie besuchen (würden/wollten) oder vom Urlaub mit den Eltern


Chapeau!

lg
Wolfgang
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Rike
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Beitrag08.05.2008 18:58

von Rike
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Und auch hier die gesprochene Version für alle Lesefaulen  Wink !

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Beitrag08.05.2008 19:22

von Lore
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Wo Rike??

Habe die gesprochene Version gesucht, aber nicht weil ich zu faul zum lesen wäre, sondern weil ich neben Deiner tollen Schreibe auch Deine Stimme kennen lernen möchte. Very Happy

Deine Geschichte ist wieder einmal stilistisch, inhaltlich und emotional perfekt aufgebaut.

Sie geht ins Mark.

Ein kleiner Tippfehler, *schwemmen*  wird nicht mit *ä* geschrieben.
Weil man das nach der neuen Rechtschreibung ja durchaus nicht immer mitkriegt, habe ich noch mal schnell im Duden nachgesehen, es stimmt, es wird mit *e* geschwemmt.

Lore


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Rike
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Beiträge: 254



Beitrag08.05.2008 19:27

von Rike
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Wie wo? Also bei mir wird es angezeigt und ich kann die Datei auch öffnen. Du nicht Lore?

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Lore
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Code Philomele
Frauenschicksale in einer Großstadt
Beitrag08.05.2008 19:36

von Lore
Antworten mit Zitat

Hi Rike

doch, sie ist da, ich war mal wieder superblöd und suchte sie am Beginn des Textes, aber die mp3 steht ja drunter.


Wie erwartet, Du hast eine junge, angenehme Stimme und gute Betonung, da hört man gerne zu.

Ich muss nur mal meine Lautsstärke koordinieren, mal sehen, ob da noch was zu verbessern ist, denn ich kriegte sie nicht laut genug rein.

Aber ansonsten..Klasse.

Lore


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