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Luthien Schneckenpost
L
Beiträge: 13 Wohnort: Schweiz
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L 06.09.2006 11:07 [KuGe] Höllenzoo der Menschlichkeit von Luthien
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Höllenzoo der Menschlichkeit
Ich hasste dieses Piepsen, das von Sekunde zu Sekunde lauter und fordernder wurde, langsam die Tonleiter erklomm. Ein Knecht des Bösen, eine Ausgeburt der Hölle. Erschaffen, um den Menschen den letzten Nerv zu rauben, sie in den Wahnsinn zu treiben. Welch Foltermeister hatte sich das nur einfallen lassen?
Stöhnend und noch völlig verschlafen grabschte ich nach dem verhassten Wecker und brachte ihn endlich zum Schweigen. Diese Ruhe ? herrlich! Mit einem zufriedenen Lächeln drehte ich mich auf die andere Seite und versank erneut in den Tiefen meiner Kissen und Decken. Meine Gedanken drifteten ab in weite Ferne, wo es kein störendes Piepsen, keine langweiligen und völlig eintönigen Tage gab, wo jede Sekunde mit einem neuen Abenteuer zu rechnen war. Da liess es sich aushalten.
Doch selbst dort, im hintersten Winkel einer verlassenen Insel irgendwo mitten im Ozean, erreichte mich dieser fürchterliche Laut. Nein, diesmal war es nicht das Werkzeug des Teufels, das mich zum Aufstehen zwingen wollte. Ich hatte es ja abgestellt, sodass es nun hilflos und völlig unnütz neben meinem Bett am Boden lag. Nein, es war der Meister persönlich und übertraf seinen Handlanger bei weitem an Grausamkeit. Zudem man ihn noch nicht einmal mit einem einfachen Knopfdruck zum Schweigen bringen konnte.
Krächzend und hysterisch dröhnte die Stimme der Hölle zu mir hoch, riss mich unsanft in die Wirklichkeit meines Bettes. Der Teufel schien einer Kreuzung aus Strassenköter und Martinshorn zu entspringen. So jedenfalls hörte es sich an, als ich durch den verletzenden Laut meinen Namen und die angereihten Befehle verstand
?Michaela! Aufstehen! Sofort! Ich fahr dich heute nicht zur Schule, wenn du den Bus verpasst!?
Genervt brüllte ich meine Antwort hinunter. Dabei spielte es absolut keine Rolle, was ich von mir gab. Es hätte keinen Unterschied gemacht, wäre meine Antwort anstelle des üblichen unfreundlichen ?Ist ja gut, komme schon! Reg dich bloss nicht auf? ein ironisches ?Ja, Mutter, ich hab dich auch lieb und wünsche dir ebenfalls einen schönen Morgen? oder auch ein patziges ?Schnauze oder ich stürz mich aus dem Fenster? gewesen. Im Grunde war es ihr egal, Hauptsache sie konnte sich sicher sein, dass sie mich aus meiner geschützten Schlafstätte gejagt hatte.
Murrend hievte ich mich aus dem Bett, war mir dabei bewusst, dass ich soeben den ersten Schritt zu einem entsetzlichen Tag getan hatte.
Wie ich mir da so sicher sein konnte? Ganz einfach: alle Tage in meinem Leben waren einfach nur entsetzlich und langweilig. Am besten wäre es natürlich, ich würde einfach liegen bleiben. Ja, nicht nur einmal hatte ich mir das überlegt. Aber was würde mir das nützen? Selbst wenn ich krank war, machte mir mein hauseigener Folterknecht das Leben zur Hölle.
Mit diesem Gedanken fischte ich nach meinen Kleidern. Erst als ich im Badezimmer vor dem Spiegel angelangte, bemerkte ich, was ich eigentlich angezogen hatte, widmete meine Aufmerksamkeit aber schnell meiner Zahn- und Haarbürste. Zehn Minuten danach sass ich am Tisch.
Mit einem dumpfen Knallen landete eine Tasse Kaffe vor mir, die ich ohne aufzuschauen entgegen nahm. Ich wusste ja, wie meine Mutter am Morgen aussah, das war wirklich nichts, was ich mir jeden Tag antun musste. Mein eigenes Spiegelbild von vorhin würde mir für die nächsten paar Stunden eindeutig reichen.
Auf der Treppe war plötzlich lautes Poltern zu hören und gleich darauf durchzog ein lautes Bellen die trügerische Stille des Morgens. Na toll, mein kleiner Bruder hatte sich endlich aus dem Bett gehievt und war nun auf dem Weg nach unten. Sachen packen und verschwinden hiess meine Devise in dem Fall.
Mist, ich hatte meine Schultasche oben vergessen. Das Zeug hier lassen oder holen gehen und riskieren, dem diabolischen Höllenhund über den Weg zu laufen? Es war ohnehin bereits zu spät, der engelsgesichtige Satansbraten war bereits in der Küchentür erschienen. Missmutig wünschte er mir einen guten Morgen. Etwas wie ?Schnauze sonst Beule? wäre irgendwie glaubwürdiger gewesen.
Als ich die Strasse zur Bushaltestelle entlangging, regte ich mich einmal mehr darüber auf, wieso das Wetter sich nicht meiner Stimmung anpassen konnte, selbst wenn das die erneute Sinnflut bedeuten würde. Dieser lästige Sonnenschein machte es einem direkt mühsam, einfach grundsätzlich alles daneben zu finden. Zum Glück war ich bereits ziemlich gut darin. Kein Wunder bei diesem Training.
Wie immer war der Bus gerammelt voll und ich erhaschte gerade eben mal noch einen Stehplatz am Fenster, gegen das ich mich nun drückte. Herrlich. Ein ganzer ? wohlgemerkt geschlossener ? Raum voller langweiliger Bürogorillas, die so taten, als würde es sie wirklich interessieren, was in der Zeitung stand. Wobei im Grunde ja doch allen klar war, taten sie es nur wegen des Images. Genau wie das ich-schaue-minütlich-auf-die-Uhr-ob-ich-auch-wirklich-zu-knapp-dran-bin-oder-lieber-noch-etwas-trödeln-sollte-damit-ich-ja-herzinfarktfördernden-Stress-habe. Die ach so von der Hitze geplagten Minirockschimpansen fächerten sich derweilen hektisch Luft zu, verteilten Küsschen, kicherten und tuschelten, wie es eben ihre Angewohnheit war.
Als ich mir, leise vor mich hingrinsend, vorstellte, wie ich einen Tiger in dieses Affenhaus einschleuste, bemerkte ich, dass mich einer dieser heruntergekommenen Penner-Orang-Utans mitleidig musterte und wahrscheinlich dachte, dass ich psychisch gestört wäre und wünschte mir augenblicklich wenigstens eine Peitsche, um ihn mir vom Hals zu schaffen.
Nur noch an der überforderten Kaninchenmutter mit den Doppelkinderwagen und dem kleinen Rotzlöffel an der Hand vorbei, bei den, ständig über die Jugend fluchenden, Schildkrötengreisen rechts und gerade aus neben den johlenden Seehunden die ihre albernen Witze rissen und jedes freilaufende Weibchen mit ihren dummen Sprüchen belagerten durch, direkt zum Tor, hinter dem mein täglicher Alptraum lauerte.
Nach den Feuern der Hölle und dem widerlichen Menschenzirkus eigentlich kein Problem mehr. Ich trat über die Schwelle des Schulhofes und bemerkte sofort, wie das Niveau zu sinken begann. Kopf runter und durch, nur nicht zur Seite schauen, nur nichts finden, das einem von neuem aufregen könnte. ? Zu spät, ich hatte sie entdeckt, die Schulhofbarbies. Ich versuchte es ja, gab mir alle Mühe sie einfach zu ignorieren, an ihnen vorbei ins Schulgebäude zu flüchten. Unmöglich.
Mit einem künstlichen Lächeln warf ich die Haare nach hinten und trat in ihren Kreis. Sofort packte mich eine Anzahl abschätziger Blicke, welche zu platinblonden Strohköpfen gehörten, die gerade die Welt nicht mehr verstanden.
Ich liess mich davon nicht beeindrucken, gigelte wie blöde und bemühte mich, meine Stimme so hoch und barbiehaft wie möglich klingen zu lassen. ?Hie!?, quietschte ich gedehnt und war augenblicklich von mir selbst überrascht, wie gut ich das hinbekommen hatte.
Ich gab ihnen etwas Zeit, sich mit der neuen Situation abzufinden, gab es aber nach etwa fünf Sekunden auf. Mein Lächeln erstarb, wich dem üblichen gelangweilten Gesichtsausdruck. Mit einem abwertenden ?ach was soll?s?, drehte ich mich um und liess die Mädchen stehen. Kapieren würden sie ja doch nicht, was ich ihnen damit sagen wollte.
Ich gab mir wirklich Mühe interessiert zu wirken, ganz ehrlich. Aber unser Lehrer machte es mir da nicht gerade einfach. Anscheinend war er gewillt, mir noch eine Stunde Schlaf zu schenken. Im Grunde ja ganz lieb gemeint, würde er dann auch meine Noten dementsprechend anpassen.
Gedankenverloren streifte mein Blick auf der Jagt nach etwas Interessantem durchs Klassenzimmer. Doch da gab es nichts. Überall dieselben, geschmacklosen Klamotten, Frisuren, die man in jedem Modemagazin nachschlagen konnte, zusammengehalten von viel zu viel Gel und Haarspray. Gelangweilte Gesichter starrten nach vorne, wo unser Lehrer Jahreszahl um Jahreszahl hinunterleierte und hin und wieder kommentierte, was damals genau passiert war.
Im Grunde war der Unterricht die einzige Zeit des Tages, an dem ich mich auf eine merkwürdige Art und Weise mit jemandem verbunden fühlte. Es war der einzige Punkt, indem ich mit meinen Mitschülern still übereinstimmte. Es war einfach nur allen langweilig.
Ich wunderte mich über mich selbst und noch mehr über meine Gedanken. Seit wann gab es denn in mir solche Gefühle? Seit wann bemerkte ich überhaupt Gefühle abgesehen von Unlust, Langweile, Müdigkeit und Abneigung? Wurde ich etwa weich? ? Na toll und das auch noch im Unterricht!
Nervös kaute ich auf meinem Bleistift und begann, alles in Frage zu stellen. Ja, ich sah plötzlich mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Mit dem vorgetäuschten Interesse war es nun endgültig vorbei. War ich plötzlich nicht mehr allein in meiner Welt? Wie sollte ich mich schützen? Wie verhielt man sich in einer Gruppe von Menschen, die das gleiche dachten? Ich bekam allmählich wirklich Angst, als ich mir meiner Gefühlskrise bewusst wurde.
Gegen Mittag, als ich gewohntermassen alleine an einem Tisch mein pampiges Mensaessen verschlang, hatte ich mich soweit wieder beruhigt, um über den ekelhaft chemischen Geschmack meiner Nudeln hinwegzublicken und es als eine weitere Dummheit eines einzelnen Menschen abtun zu können.
Als ich mich umschaute und die verschiedenen kleinen Grüppchen um mich herum beobachtete, stellte ich erleichtert fest, dass ich wohl doch nicht zum Rudeltier mutiert war und ohne Sorgen weiter in meiner kleinen Egowelt leben konnte. Deshalb ignorierte ich auch die Mädchengruppe, die tuschelnd zu mir hinüberstarrte. Sie hatten wohl von den älteren Schülern vernommen, dass ich verrückt sei.
Dieser kleine Ausflug in die Sphäre der menschlichen Gefühle und Verbundenheit hatte mich wirklich verwirrt und ziemlich erschöpft, weshalb ich die Nachmittagsstunden auch grösstenteils damit verbrachte, alleine vor mich hinzudösen, während meine ?Mitmenschen? jetzt richtig aufzublühen schienen und mir einmal mehr bewiesen, dass die Schule nichts weiter als ein Irrenhaus war. Wenigstens kam ich nicht mehr in die Versuchung, sie verstehen zu wollen, was mir den Nachmittag ziemlich erträglich machte.
Erst in einer der Pausen geschah es dann, dass mich tatsächlich jemand ansprach. Ein rundliches Gesicht sass mir gegenüber, auf dessen Lippen sich ein freundliches Lächeln kräuselte.
?Guten Tag?, grüsste er enthusiastisch und schien darauf auch noch eine Antwort zu erwarten. Ich stöhnte stumm auf. ?Ja, Tag ist es in der Tat. Ob er gut ist, ist allerdings disputabel.? Ich hoffte, das würde ihm genügen und er würde schnell verschwinden. Stattdessen begann er zu lachen. Irritiert blickte ich auf, legte den Kopf ein wenig schräg. Wieso konnte ich Menschen einfach nicht verstehen?
?Was geht??, fragte er weiter. ? Och nein, das durfte ja nicht wahr sein! Augen rollend erhob ich mich von der Fensterbank, von der aus ich den Schulhof beobachtet hatte.
?Wieso haust du einfach ab??, rief mir der rundgesichtige Junge hinterher. ? Na, wieso schon? Weil ich nicht reden mochte und keine Lust dazu verspürte, ihn unnötig zu verletzen.
Ich überlegte ernsthaft, den Rest des Nachmittages zu schwänzen und an einem Ort zu verbringen, wo niemand mir auf den Zeiger gehen und ich mich ganz allein mit meinen Gedanken beschäftigen konnte ? in unserem Keller. Die Idee überzeugte mich und so tat ich das dann auch.
Erst als es sieben war, kam ich aus meinem Schlupfloch hervor und traute mich zurück in die Hölle. Es roch nach aufwändigem Abendessen ? ganz nett im Vergleich zu unserem Mensafrass.
Als ich mich an den Tisch setzte, wo Vater, Mutter und der kleine Satansbraten bereits beisammen sassen, hielt ich den Kopf wieder gesenkt. Ich hatte keine Lust, sie anzusehen. Nach einem Tag, gefüllt mit unangenehmen Begegnungen und so viel menschlicher Dummheit, konnte ich mir was Angenehmeres vorstellen, als auch noch meine Familie zu begutachten.
Geschirr klirrte und ich bekam mein Essen. Vater erzählte von seiner Arbeit, wie er sich den ganzen Tag mit seinen dummen Bürogorillas herumschlagen musste. Als er geendet hatte, teilte uns Mutter den neusten Klatsch mit. Anscheinend kamen die Nachbarn nicht mit ihren Kindern klar ? welch Ironie das von ihr zu hören ? und die alte Dame von gegenüber hatte einen neuen, hässlichen Haarschnitt. Als hätte sie den nicht schon immer gehabt.
Nachdem der kleine Satansbraten ebenfalls geschildert hatte, was er gerne loswerden wollte, verzog ich mich auf mein Zimmer und liess mich auf mein Bett fallen. Endlich wieder ein Tag vorüber.
Mir war bewusst, dass ich wohl der einzige Mensch auf dieser gottverdammten Erde war, der es überlebte, so zu leben, wie ich es nun mal tat ? in ewiger Langeweile und einsamen Alltagstrott. Aber für mich stand fest, entweder sah ich das Leben mitsamt seinen Eigenheiten und Bewohnern mit gebührendem Abstand, so wie es zur Zeit ganz gut klappte oder ich würde mir gleich die nächste Klippe suchen müssen.
Nun, glücklicherweise gibt es so viele merkwürdige Variationen eines Menschen und dessen Dummheit, wie Sand am Meer. Besser so, denn andernfalls wäre mein Leben wirklich sinnlos.
Weitere Werke von Luthien:
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Gin Schneckenpost
G
Beiträge: 5
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Berni Exposéadler
Alter: 64 Beiträge: 2517 Wohnort: Südhessen (aus NRW zugelaufen)
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06.09.2006 23:06
von Berni
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Hi Luthien,
mir gefällt deine Art zu schreiben sehr! Erinnert mich irgendwie an die Serie "Mein Leben" (?).
Dieses ironisch Lockere ist erfrischend und so macht Lesen einfach Spaß. Im Detail läßt sich sicher noch einiges verbessern, aber der Text hat mir gut gefallen und zeigt IMHO ganz klar dein Talent zum Schreiben.
Ciao,
Berni
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Alhana Wortedrechsler
A
Beiträge: 74 Wohnort: In meinem Kopf
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A 07.09.2006 00:21
von Alhana
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Wow, da war wirklich schön. Bin ehrlich begeistert. Also...wow.
Danke dafür, das kann ich echt gut nachfühlen.
Und schön geschrieben.
Laß es mich nochmal schreiben...wow.
Und dank meines dreifachen "wow"´s hab ich jetzt warscheinlich gut dargestellt, wie wenig ich schreiben kann, aber es war so treffend.
Wow!
Liebe Grüße
Alhana
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Luthien Schneckenpost
L
Beiträge: 13 Wohnort: Schweiz
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