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Teil 2 Umzug ins Unbekannte


 
 
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teccla
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 66
Beiträge: 160
Wohnort: Costa Blanca


Was suchst Du in Madagaskar?
Beitrag13.03.2008 01:51
Teil 2 Umzug ins Unbekannte
von teccla
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Umzug ins Unbekannte

Die heiße Phase begann.
Es war ein nasskalter Samstag Ende Oktober 2002.
Wir kamen vom nervigen Wochenendeinkauf in überfüllten Supermärkten zurück. Jan packte umständlich in der Küche die Taschen aus. Hin und wieder hörte ich ein Dchimpfen, wenn etwas herunter fiel. Sebastian schlief noch. Ich bereitete den Frühstückstisch im Wohnzimmer vor.
Die Essecke, mit ihrem Glastisch und den Metallstühlen strahlte eine Klarheit aus, die in meinem Kopf noch immer fehlte. Die Blau und Grüntöne des Zimmers mit den üppigen Pflanzen und selbst gemalten großflächigen Bildern an den Wänden, gaben mir Ruhe.
Doch die Ruhe war nur scheinbar.
Seit Tagen und Wochen suchte ich nach einem geeigneten Transporter, der unsere Sachen heil und sicher nach Madagaskar bringen sollte. Mit dem Schiff würden die Autos vier Wochen unterwegs sein. So lautete die Auskunft der Spedition.
Seit Wochen suchte ich nach einer Garage, in der wir viele Gegenstände zwischen zeitlich lagern wollten, um sie später nachzuholen. Dinge, auf die wir nicht verzichten wollten, z.B. Computer, Kleidung, Bettwäsche usw.

Nach dem Frühstück setzte ich mich mit einigen Zeitungen und Stift bewaffnet, an den Wohnzimmertisch und suchte die Anzeigen nach einem Transporter durch.
Torsten aus Antananarivo schrieb mir, dass der anschließende Verkauf des Transporters bessere Chancen hat, wenn es eine Automarke ist, die in Madagaskar bereits zahlreich vertreten war.
Der Grund lag auf der Hand, die Ersatzteilbeschaffung.
Auch durfte er nicht älter als fünfzehn Jahre sein, damit der Einfuhrzoll bezahlbar blieb.
Es kamen acht Anzeigen in Betracht.
Jan kam einem Kaffee in die Stube. Ich saß derweil schon am Telefon und rief jeden Verkäufer an. Zwei waren schon verkauft, blieben sechs. Einer war nicht erreichbar. Fünf Termine konnte ich für den Sonntag vereinbaren.
Draußen war es schon kalt und nass.
Ekelwetter, Grippewetter.

“Sind auch Garagen zu vermieten?“ fragte Jan.
“Ja, ein paar würden passen. Ich rufe gleich mal einige Anbieter an.“
Wir hatten mit der Garage noch kein Glück, entweder zu weit entfernt oder zu teuer.
“Wir können also morgen nur nach einem Auto sehen.“
“Naja, wir werden sehen, vielleicht haben wir ja Glück.“ bemerkte Jan unwillig. Es würde ihm keinen Spaß bereiten und der Sonntag stand unter dem Vorzeichen „hängende Mundwinkel“.
An diesem Wochenende blieb unsere Suche erfolglos. Wir fuhren noch einige Autohändler ab, jedoch auch ohne Erfolg.

Einige Tage später buchte ich im Internet die Flüge für den 02.12.2002.
Schon drei Tage später lagen die Tickets im Postkasten, wurde der Betrag vom Konto abgebucht.
“He Sebastian, unsere Tickets sind da!“ rief ich in sein Zimmer, als ich die Post sortierte.
“Oh cool! Zeig mal meins!“ plätscherten seine Worte aufgeregt.
Es kam nun so etwas wie Reisefieber auf.
“Mama, wann sind unsere Reisepässe fertig?“
“Ich werde morgen mal nachfragen. Habe morgen sowieso Termine, bei der Krankenkasse, beim Vermieter und mit Frau Katze muss ich zum Tierarzt.“
“Nehmen wir sie mit?“ fragte er und nahm Frau Katze auf den Arm, die gerade um die Ecke geschlichen kam. Sie wehrte sich und entkam ihm wieder.
“Ja, Basti, ich kann keinen finden, der sie nimmt. Also nehmen wir sie mit.“ Ich hatte schon im Internet recherchiert, welche Unterlagen für Ihre Ausreise aus Deutschland und Einreise in Madagaskar notwendig waren und wie wir sie transportieren konnten.
Als Sebastian sich umdrehte und in sein Zimmer gehen wollte, stolperte er über eine Kiste. fluchte und schloß die Tür hinter sich.
Bei uns hatte das Chaos Einzug gehalten.
Wir konnten nicht jedes Zimmer systematisch räumen. Es wurde aus jedem Zimmer das gepackt, was in der Garage deponiert werden sollte. In jedem Raum standen halb gepackte Kartons, wurden Sachen gestapelt, sortiert und das Chaos nahm seinen Lauf. Es fiel jetzt schon schwer den Überblick zu behalten.

Seit Wochen schon sortierten wir den Inhalt der Vier-Zimmer-Wohnung in „nehmen wir sofort mit“, „holen wir nach, wird also zwischen gelagert“ und „kann weg“.
Diese letzte Kategorie fiel mir besonders schwer.
Viele Dinge verkaufte ich. Auch mein Klavier … schweren Herzens.
Unsere Computer sollten mit dem Transporter nachkommen, doch in der Zwischenzeit wollten wir nicht ohne PC sein. Wir wussten auch nicht, wie lange es dauern würde, bis unser Transporter dann wirklich bei uns ankommen würde.
Seit Jan die Idee hatte, Notebooks zu kaufen, suchte Sebastian im Internet nach Qualitätsurteilen und Angeboten. Auch eine digitale Kamera sollte gekauft werden.
Ich hatte eine lange Liste von Dingen, die ich zu erledigen hatte. Täglich konnte ich einige Punkte streichen aber täglich kamen auch neue hinzu.
Abends im Bett ging ich die Liste durch mit suchenden Augen, forschenden Gedanken.
Habe ich etwas übersehen? Habe ich etwas Wichtiges vergessen?

Endlich eine Woche später waren die Reisepässe fertig, ich konnte sie mit Ticket, Firmenkonzept und Flugticket zur Botschaft bringen, um das Visum für Investoren zu beantragen.
Am Pförtner empfing mich eine nette, fröhliche Frau, die kreischend auflachte, als ich versuchte, Deutsch mit ihr zu reden.
Ich hatte immer gedacht, dass Botschaftsmitarbeiter die Sprache des jeweiligen Landes beherrschen müssen. Mit meinem schlechten Englisch erklärte ich ihr mein Anliegen.
Super, nur wenige Tage später konnte ich die Visa abholen.

Im Internet recherchierte ich nun nach einer Spedition, die die Autos nach Madagaskar verschiffen sollte. Torsten schrieb mir, den ich soll als Zielort Mahajanga angeben. Das liegt an der Westküste und das sei günstiger, denn die Zollbeamten dort wären nicht so korrupt, gnädiger mit ihren Berechnungen. Da unsere Autos in der Regenzeit ankommen würden, sei auch die Strasse von Mahajanga nach Tana** besser befahrbar. Die Strasse Tamatave – Tana* sei in der Regenzeit kaum passierbar und ebenso die Strecke Tulear - Tana.
Aha.
Ich schrieb und telefonierte mit einigen Speditionen und ließ mir Preisangebote geben. Endlich fand ich eine Spedition, die Mahajanga anfährt, allerdings mit Zwischenstopp und Umladung in Reunion, einer kleinen Nachbarinsel von Madagaskar.
Dadurch würde die Reise der Autos länger dauern.
Der Vorteil dieser Spedition war jedoch, wir mussten die Autos nicht selbst nach Antwerpen fahren, sondern konnten sie in Berlin abgeben.

Der Herbst ging nun langsam und unmerklich in den Winter über. Es war empfindlich kalt. Graues Nieselwetter, Nebel und nasskalte Luft. Die Tage wurden spürbar kürzer.
Richtig packen und loslegen konnten wir noch immer nicht, denn die Suche nach einem geeigneten Kleintransporter zog sich hin.
Jedes Wochenende das gleiche Spiel, Zeitungen kaufen, Annoncen durchsehen, Telefonieren, Termine vereinbaren und sonntags kreuz und quer durch Berlin fahren, um Autos anzusehen.
Ärgerlich waren immer wieder Termine, die nicht eingehalten wurden, oder das Auto schon verkauft war usw.
Geplatzte Termine und Schmuddelwetter im November.
Es machte keinen Spaß.
Wie ein erschrecktes Kaninchen starrte ich den Kalender an. Zählte die Tage bis zum Abflug und mir stellten sich die Nackenhaare auf. Die Zeit verging viel zu schnell.
Wo war nur die „Stopp-Taste“?

Endlich der Lichtblick! Wir fanden eine Garage in Berlin. Sie lag versteckt auf einem Innenhof. Vor dem Anwesen war dichter Verkehr, viele Geschäfte, die Parksituation sehr ungünstig.
Doch wir konnten endlich packen und brachten Stück für Stück der gepackten Kartons in die Garage.

Doch als ob dieses Chaos, diese Zweifel dieser Termindruck noch nicht ausreichten, ereilten uns immer wieder so kleine Querschläger, kleine Widrigkeiten, keine Teufels, die im Detail sitzen. Jahrelang verhalten sie sich still und brav und dann, wenn es überhaupt nicht passt, schlagen sie zu. Unverhofft, grausam und brutal.
Wie meine Waschmaschine.
Anscheinend hat sie vernommen, dass sie nicht auserkoren war, auf die Reise mit uns zu gehen.
Also rächte sie sich.
Wir saßen beim Frühstück. Die Waschmaschine lief. Ringsum kaum beherrschbares Chaos, wie es neuerdings bei uns üblich war.
“Was steht heute alles an?“ fragte Jan sein Brötchen kauend.
“Ich packe weiter im Schlafzimmer, Sebastian muss in seinem Zimmer sortieren, was in die Garage soll, was in den Transporter kommt und auf was er verzichten kann. Gott, ich kann nicht alles mitnehmen... Da ist so viel, was ich gern behalten würde oder auch sofort mitnehmen würde. Das fällt so schwer. Wir können ja nur das Nötigste mitnehmen...Nebenbei muss ich waschen, der Trockenraum ist frei, dann kann ich gleich aufhängen. Apropos waschen! Was sind das denn für Geräusche?“
“Ich schau mal.“
Ich folgte Jan ins Badezimmer. Es roch nach verbranntem Gummi. Etwas schmorte. Die Waschmaschine machte keinen Mucks mehr. Jan zog den Stecker raus.
“Ja, so viel zum Thema Wäsche aufhängen.“
“Waschsalon – Wir kommen!“ Sagte ich genervt.

Wenige Tage später fanden wir endlich einen Kleintransporter, einen VW T2. Er musste noch angemeldet werden. Da er zum Export bestimmt war, sollte er vorgeführt werden. Der Warteraum war voll. Die ganze Anmeldeprozedur kostete einen Tag. Meine Nerven wurden dünn wie Nähseide.
Doch nun konnten wir mehrere Kartons auf einmal zur Garage bringen.
Anstatt am Abend zu entspannen und frohen Gemüts das Tageswerk zu besprechen, fuhren wir auf einen Besuch zum Waschsalon...

Langsam wurde es ernst.
An einem der letzten Wochenenden im November kam mein Andreas vorbei. Er wollte sich verabschieden.
„Sag bloß du ziehst das wirklich durch?“ begrüßte er mich.
„Andreas, meinst du, ich verkaufe mein Klavier aus Jux? Oder ich kaufe die Flugtickets aus Langeweile?“ Er glaubte es noch immer nicht. „Andi, wir haben uns dazu entschlossen. Du siehst ja das Chaos.“
„Hmm, und wenn das alles nichts wird? Du willst alles einfach aufgeben?“ fragte er ungläubig.
„Bei dir oder Papa etwas unterstellen, geht nicht. Ihr habt auch keinen Platz. Wir stellen einiges in die Garage, die wir angemietet haben. Aber alles andere muss weg. Also schau dich um und nimm mit, was du gebrauchen kannst oder haben möchtest. Guck mal im Flur, der Wandspiegel. Möchtest du den haben? Ist schade drum, erst ein Jahr alt. Würde der nicht gut in deine Wohnung passen?“
Andreas fand einige Dinge, die er mitnahm.
Er war fünfundzwanzig und war schon lange „abgenabelt“.
„Hi, Andi“ begrüßte Sebastian seinen großen Bruder. Beide verschwanden im Kinderzimmer.
Ab und zu kam einer von ihnen heraus, schob eine Pizza in den Ofen und verschwand wieder. Wir hörten nur Gelächter aus dem Zimmer. Sie verstanden sich großartig.
Schade, dass Andie nicht mitkommen kann. Ich werde ihn schrecklich vermissen.

Irgendwann am Nachmittag stand Andreas vor mir und sagte in seiner ruhigen Art
„Wann kommst du dann wieder nach Deutschland?“ Er sah auf den Boden, als würde er es vermeiden mir in die Augen zu schauen. Aber ich musste die Tränen nicht sehen, ich hatte ja selbst mit diesen kleinen Pfützen zu kämpfen. Hin und her gerissen zwischen dem Gedanken, ihn in die Arme nehmen zu wollen, nicht mehr los zulassen, meinen Traum aufgeben und weiterhin meine Mutterrolle anzunehmen, und dem Traum, der da mit südlicher Sonne vor der Tür stand und mit Palmengeflüster mich lockte, wehrte ich meine eigenen Gefühle ab.
„Andie, ich weiß nicht, was uns dort erwartet, aber wir bleiben über Email in Verbindung. Und wenn es klappt, komm ich zu Besuch oder du kommst zu uns.“ Das findet sich. Wir sind zwar nicht 800 km weit weg, sondern mehr als 8000, aber wo ein Wille ist, ist ein Weg. Kontakt und Kommunikation sind doch heute kein Problem mehr.
“Na ja, ich drücke euch die Daumen.“
“Ach Hase, nun mach dir um deine alte Mutter mal keine Sorgen. Unkraut vergeht nicht!“ sagte ich lachend und nahm ihn in den Arm. Unser Lachen spiegelte keine Freude und keine Erleichterung wieder. Es war ein hoffnungsvolles Lachen, beinah aus Verlegenheit.
Als er am Sonntagabend wieder abfuhr, gab ich mich fröhlich. Ich spürte, wie die Tränen in die Augen schossen. Aber ich wollte es ihm nicht noch schwerer machen und riss mich zusammen. Er mag keine Tränen beim Abschied.
Basti und ich winkten ihm nach, als er abfuhr und noch hupend eine Runde vor dem Haus drehte. Doch dann konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Wie lange werde ich ihn nicht mehr sehen? Mein Gott, ich bin eine gefühllose Rabenmutter, die ihr Küken zurück lässt...

Die Weihnachtsfeiertage hatte er immer bei uns verbracht. Das war Tradition. Einmal im Monat kam er auf ein Wochenende. Noch mit den Gedanken bei Andreas, griff ich zum Telefonhörer und rief meinen Exmann Ben an. Ich bat ihn, sich nun verstärkt um Andreas zu kümmern. Mein schlechtes Gewissen wollte beruhigt sein. Ben freute sich über den Anruf und meinte: „Das ist doch selbstverständlich. Kein Problem. Ich werde dem Nasenbär schon auf die Nerven gehen, da mach dir mal keine Sorgen. Ich kann ihm zwar keine Muttermilch geben, aber ich werde dich schon ersetzen.“ sagte er aufgeräumt.
„Spinner! Mich ersetzen? Nee, das kann keiner!“ Wir lachten. Nun endlich kam das Lachen erleichtert und ich mein Gewissen saß wieder artig und brav in der Ecke. Ich war beruhigt.
Auf Ben ist Verlass.

Eine Woche vor dem Abflug stand eines Nachmittags Cindy vor der Tür. Auch sie wollte Abschied nehmen.
“Oh Mann, ihr habt ja schon ganz viel geschafft! Ist ja schon alles leer!“ staunte sie über unser Durcheinander in der Wohnung.
“Na da ist noch jede Menge. Und ich weiß nicht wohin damit! Man, was sich da alles ansammelt! Im Keller habe ich nur wenig raus gepickt, da kommt noch viel Arbeit auf dich zu.“
“Ach kein Problem, das macht mein Bruder. Aber nun erzähl mal, wie das dort alles ablaufen soll!“ sagte sie aufgeregt.
Ich erzählte, wir tranken Kaffee. Cindy hatte Kuchen mitgebracht. Die Teller waren schon eingepackt, wir aßen mit den Fingern vom Packpapier. Genüßlich streifte sie mit dem Finger Sahne vom Papier, schob es sich in den Mund und meinte:
“Also ich möchte dich am liebsten überreden, hier zu bleiben, obwohl ich selbst ja auch weg will.“ sagte sie.
“Wieso das denn?“
“Na, ich habe das Gefühl, ich sehe dich nie wieder!“
„So was Dummes, Cindy!“ ermahnte ich sie „Wir bleiben in Verbindung.“
Wir sahen uns Fotos und Landkarten an, redeten, alberten und die Zeit flog nur so vorbei.
Wir lachten auffallend viel seit sie in der Wohnung war. Und ich kann mich noch erinnern, dass ich dachte, es wäre doch schön, wenn ich in der neuen Heimat Freunde finde, die mich zum Lachen bringen.
“Angie, ich muss los. Ist schon spät.“
“Ja, das musst du wohl.“ sagte ich traurig und fühlte die Schwere in den Worten. Keine Anrufe mehr von Cindy, kein Geplapper über Männer oder wie ihr jemand die Motorhaube vom Auto geklaut hatte, kein Geheule, wenn der Freund weg war. Keine Einkaufsbummel mit ihr und kein verträumten Abende mit Musik und Weiberkram.
“Ach Mensch, komm her, Kleene“ sagte ich und drückte sie. Sie fing an zu schluchzen. Nun liefen mir auch die Tränen. „Melde dich! Gleich, wenn du ankommst!“
“Jawohl Mama.“ sagte ich und sie sah mich schief an. Ich bin wenigstens zehn Jahre älter und diese Antwort bekam sie immer, wenn ihr erhobener Zeigefinger sichtbar wurde.
“Und wenn was ist, dann rufe an oder maile.“
“Ja, Cindy. Mache ich“ schluchzte ich. „Schitt, hast du ein Taschentuch?“
“Nein“ heulte sie und kramte in ihrer Tasche.
“Ich auch nicht. Meine Schminke verläuft.“ Sie sah mich an und lachte mich aus. Wir lachten weinend über unsere Tränen verschmierten Gesichter. Cindy fuhr ab. Ich sah ihr lange nach und war erleichtert, als hätte sie mir ihren Segen gegeben.
Nun war der Weg frei. Noch wenige Tage, dann ist auch der Stress vorbei.
Und dieser Abschied war für eine längere Zeit, als mir damals bewusst war.

Ich hätte nicht gedacht, dass das alles so weh tut. Alle verabschieden. Man sagt so einfach „Ich gehe“. Aber wenn es dann soweit ist … Ich hätte nicht geglaubt, dass es mir so schwer fällt.
„Ich bin heilfroh, dass Sebastian mitkommt. Das hätte ich nicht auch noch verkraftet.“ schniefte ich Jan zu, während ich ein Taschentuch aus der Tasche nahm, um die Tränen zu trocknen.
„Und ich?“ schaute er mich fragend an, seine blauen Augen lachten dabei. Ich kannte diesen Blick und musste lächeln. Ich setze mich auf seinen Schoß, strich ihm die schwarzen Locken aus der Stirn und sagte zärtlich: „Ja, ich bin heilfroh, dass du auch mitkommst“ und fügte langsam und leise hinzu „Ich hab dich lieb.“
„Aber ich habe dich viiiiel mehr lieb!“ sagte er übertrieben. Ich kniff ihm in die Rippen und wir lachten.

Nun, heute frage ich mich, ob er auch manchmal an diese Zeit zurück dachte?
Später, als die Dinge ganz anders liefen, als erwartet.
Was für ein Mensch war er? Hatte er sich verstellt? Oder hatte er sich unmerklich geändert? Warum habe ich ihn damals nicht erkannt?
Habe ich mich blenden lassen oder war ich nur zu sehr mit mir beschäftigt, dass ich nicht sah, wer er war?
War er schon damals der Mann, der er heute ist? Oder hat erst dieses Land ihn zu dem gemacht?

Die Adventszeit begann. Draußen wurde es Winter. Normalerweise wäre es in dieser Zeit schön gemütlich zu hause. Man sieht fern, kuschelt sich ein mit vielen Decken, sieht den Lieblingsfilm, liest ein Buch oder genießt Glühwein und Kerzenlicht.
Bei uns war von Gemütlichkeit wenig zu spüren. Bis zum Abend sortierte ich, packte und räumte aus. Was sammelt sich da alles an im Laufe der Jahre. Und was davon ist wirklich wichtig?

In diesen letzten Tagen nahm ich Abschied von allem und jedem, was mir begegnete.
Sah ich aus dem Fenster, nahm ich Abschied.
Begegnete ich einer Nachbarin, nahm ich Abschied.
War der Fernseher an, so zappte ich durch die Kanäle in dem Bewusstsein, ich würde es lange Zeit, vielleicht sogar nie wieder sehen.
Es wird nie wieder so sein.

Was wird mich dort erwarten? Werde ich überhaupt fernsehen können? Strom werden wir haben, Wasser auch. Lebensmittel gibt es, auch europäische, schrieb mir Torsten. Doch werde ich wirklich zufrieden sein und glücklich? Wir werden spartanisch leben und es wird lange Zeit dauern, bis ich wieder ein gemütliches Heim habe. Sind meine Erwartungen realistisch?
Die Zeichen standen auf Abreise.
Immer wieder ging ich die Liste durch, ob wir etwas vergessen haben.
Reisepässe, Visa, Geburtsurkunden, Unterlagen für die Steuererklärung, Flugtickets, Dokumente, Papiere für die Autos, für die Spedition, Zeugnisse, polizeiliche Führungszeugnisse, Ausbildungsnachweise, Impfausweis der Katze … Fehlte etwas? Hatte ich etwas übersehen?

Es war der 30.11.2002, ein Samstag.
Im meinem Meditationsbuch stand für diesen Tag:
“Abstand gewinnen ist die Lösung. Ruhe bewahren.“
Na toll! Ich versuchte es ja, aber die Panik schlich sich immer wieder den Rücken hinauf und packte mich im Nacken.
Ich war am Verzweifeln und sah kein Land.
Alle schienen die Ruhe weg zu haben. Jan spielte noch am Computer, Sebastian war den ganzen Tag im IRC-Chat und ich bekam die Krise. Ich war nicht nervös, ich war in Panik.
In Gedanken sah ich den Flieger ohne uns abfliegen und uns in der leeren Wohnung auf den nächsten Termin warten.
Das Büro war noch immer nicht geräumt, in der Küche ein großes Durcheinander.
Ich sehe es kommen, wir schaffen es nicht.

„Mensch, Jan, das kann doch nicht sein, dass ihr immer noch am Computer sitzt. Ich schufte mich hier ab und kriege die Panik und ihr habt die Ruhe weg. Übermorgen geht der Flug und es ist noch so viel zu tun.“ polterte ich los.
„Ach komm, das schaffen wir schon!“ Er hatte die Ruhe weg. Die Ruhe, die mir fehlte,
„Du meinst, dass ICH das schon schaffe!“ schimpfte ich.
„Na na na, so nicht ! Soll das heißen, dass ich nichts gemacht habe?“ endlich sah er von seinem Computer auf. Na immerhin schon der erste Schritt.
„Bist du sicher, dass du überhaupt mitkommen willst?“
“Denkst du, ich kündige aus Spaß?“ Mit weit aufgerissenen Augen sah er mich an.
„Dann weiß ich nicht, warum du mich alles allein machen lässt. Ich muss mich um die Papiere kümmern, um die ganze Organisation, packe den ganzen Tag und du spielst im Internet.“
„Ach so siehst du das. Nun bin ich wieder schuld!“ Und schon war seine Aufmerksamkeit verflogen, wie ein Vogel, den man fotografieren wollte, aber den Zeitpunkt nicht erwischt. Schwupps war sie weg, die Chance. Er wendete sich wieder seinem Spiel zu.
„Ich will keinen Streit, ich will Hilfe!“ Trumpfte ich auf. Doch mein Ruf blieb ungehört.
„Na klar! Ich mache ja auch nichts. Du machst alles allein und ich bin der faule Hund, willst du das sagen?“ meckerte er vor sich hin.
„Jan, das sind DEINE Worte!“
Jan war verärgert, blieb trotzig, wie ein Kind, am Rechner sitzen und spielte. Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich demonstrativ auf die Couch und steckte mir eine Zigarette an. Ich war wütend.
Ich war wütend, weil ich mich nicht durchsetzen konnte, weil ich Panik hatte und weil ich es voraussichtlich nicht schaffen würde, bis zum Abflug fertig zu sein.
Ich habe mal gelesen, dass man Wut, umleiten und als Energie nutzen kann. Mich lähmte sie.
Ich saß da und resignierte.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Ben rief an. Ich klagte ihm mein Leid, schimpfte auf Jan und Sebastian und bekam Trost.
Er versprach am nächsten Morgen zu kommen und mir zu helfen.
“Beruhige dich mal. Das schaffen wir schon. Wirst sehen, wenn ich da bin, fassen die beiden auch mit an.“
Ben und ich, kannten uns seit über zwanzig Jahren. Seit sechs Jahren waren wir geschieden und hatten es geschafft den anfänglichen Rosenkrieg in eine dicke Freundschaft zu verwandeln. Sein Ton am Telefon beruhigte mich für einige Minuten.
Ich packte weiter.

Wie ein Strom
tritt meine Traurigkeit
über die Ufer
und überflutet alles
was ich lasse
(Roswitha Hofmann)



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Lore
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Code Philomele
Frauenschicksale in einer Großstadt
Beitrag25.03.2008 16:26

von Lore
Antworten mit Zitat

Nach diesem Ablauf war mir als Außenstehender sofort klar, dass es eine Bewährungsprobe mit Jan in Madagaskar nicht geben musste, es war offensichtlich, da nimmt sie den falschen Mann mit.

Aber es liest sich fantastisch, vor allem für Jemanden wie mich, ich hätte die beiden Männer auf Trab gebracht, das hätte aber gedampft.

Ich lese auch von der gleichen Begeisterung, mit der sie selbst an die Sache ran geht, nichts bei den beiden Männern, sie kommen mir beide wie zwei halbwegs interessierte Mitläufer vor, irgendwie auch ausgeliefert dem Elan dieser Frau.

Alles Warnungen im Vorfeld, die sie aber anscheinend nicht wahrgenommen hat.

Lore
P.S.  Es sind 1-2 Tippfehler drin,  unwichtig, findest Du selbst


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zum Platzen schon ein kleiner Stich
(Nietzsche)
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