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Golovin
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Beitrag12.03.2024 22:26
Unentdeckt
von Golovin
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Das ist mein Beitrag zu einem Wettbewerb mit dem Thema "Erinnerungen".



Unentdeckt

13. Mai. Wendepunkt: Wärme.

     Am Morgen, vor dem Glockenläuten. B. sitzt am Küchentisch. Der Rücken berührt die stählerne Lehne, die langgliedrigen Finger umklammern die Oberschenkel. Auf dem Tisch ein Eierbecher aus Bernsteinglas; daneben die Tageszeitung. Das Ei hat B. vor wenigen Minuten verzehrt; sein tägliches Ritual.
     Sattes Sonnenlicht bricht durch das Fenster, klatscht gegen B.s blanken Schädel. Im Stadtpark schleudern sie sich auf den Wippen die Hüften aus dem Unterleib. Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies.
     Für das Frühstück ist B. in ein Seidensticker-Hemd und eine Bundfaltenhose gestiegen. Er hat sich die schiefergrauen Brauen geschnitten, damit sie nicht wie Taubenkrallen in seine Augenhöhlen ragen. Ein Platinring mit eingravierten Daten – E. & B. 21.06.1973 – dekoriert seine rechte Hand. Der Duft von Aloe Vera umhüllt seine löschpapierfeine Haut.

7. Juni. Figuren, gehetzt, geschoben.

     B. überweist per Dauerauftrag die Miete. 595 Euro warm. Die Wohnung ist der Ort, der ihm bleibt. Ein karges Königreich auf neunundzwanzig Quadratmetern. In einem Block, in dem sich die Nachbarn nur vom Klingelschild kennen. Buchstabenreihen auf Beinen. Gelegentlich menschelt es im Treppenhaus, mikroskopisch. »N‘ Tach.« Dann die Sturzflucht nach oben oder unten. Die Weltpolitik ruft.
     Im Winter begann B., gegen sich selbst Schach zu spielen. Endlich, wieder Damenberührungen. Sein Großvater Valentin brachte ihm als Geographiestudent die Regeln bei. Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er sie in den Gassen, über den Brettern versunken. Von Valentin erbte er die Angewohnheit, bei kniffligen Zügen das Balzen der Fische zu beobachten. Zwei grätendürre Zebrabuntbarsche drehen in einer Glaskugel in B.s Wohnzimmer-Vitrine intime Kreise. Manchmal sieht es aus, als knabberten sie sich gegenseitig an.

28. Juli. Blick in den Spiegel der Vergangenheit.

     »Wir bedanken uns im Voraus bei Ihnen und wünschen Ihnen beste Gesundheit.« So verabschiedet sich die Krankenkasse in ihrem Werbebrief zur Zahnzusatzversicherung bei B.
     Die Belegschaft verzückt der geringe Aufwand, den der Greis verursacht. »Ein echter Wunderknabe. Goldmedaillenkandidat beim olympischen Hürdenlauf«, flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie prall an Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren donnern lassen.
     Am selben Tag wandert die dreistellige Rente auf B.s Konto. Im Bad müsste der rostige Duschkopf ausgewechselt werden. Was in B.s Augen noch im Frühjahr als Sommersprossen-Strauß funkelte – er umschwärmte das beschlagene Silber aus Lippennähe –, ist jetzt ein kreischender Flächenbrand.

13. August. Was hier passiert, passiert hier nicht.

     Am Morgen, nach dem Glockenläuten.
     »Ich bin Benedict. Ich spreche zu dir, weil du mir deine Aufmerksamkeit schenkst, mich fest in deinen Händen hältst. Vor mir steht ein Eierbecher aus Bernsteinglas. Das Ei habe ich bereits genossen; mein tägliches Ritual. Eigentlich würde ich nun zum Fenster gehen und in die Stuben von C., R. oder O. spähen. Mein Tasten nach dem verbliebenen Flimmer Leben. Diese behüteten Aufbrüche in das panikumwitterte Paradies sog ich stets tief ein. Einmal habe ich, glaube ich, eine Botschaft erhalten. Mein Blut zirkulierte, meine Pupillen keimten, meine Waden flatterten. Doch nach drüben? Einfach so nach drüben? Verstehst du, was ich meine?
     Beim nächsten Mal sollte mir Bill Haley den Marsch blasen, schwor ich mir. See you later, Alligator, rotierend unter der Grammophon-Nadel. Wie damals, als ich Erika im Route 66 zum Boogie-Woogie aufforderte. Ein himmlischer Plan! Oh ja. Aber … so verzweifelt ich mich anstrenge; ich kann nicht mehr aufstehen, meinen Kopf recken, den Tanzgott markieren. Das ist auch keine Ausrede, denk das bitte nicht. Es ist nur, es ist zu spät, ich bin auf den Tag genau seit drei Monaten: tot.«

»Danke, Benedict. Dein letztes Gespräch führst du mit mir, der ich diese Geschichte lese. Du machst die Gedanken hinter jenen sichtbar, die uns zwischen stummen Wänden verlassen; und anschließend über Wochen, Monate unentdeckt bleiben – wie schon in den Wochen, Monaten, Sommern, Wintern zuvor. Du mahnst uns, in die Gesichter der Einsamkeit zu blicken, die Vergessenen nicht länger zu vergessen.

Du weißt: Für immer braucht es mehr als einen|


                                                                                                 |Flimmer.«

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Günter Wendt
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Beiträge: 2865



Beitrag12.03.2024 23:01

von Günter Wendt
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Hallo Golovin. Ich hoffe, dass du dafür einen Preis bekommen hast. Wenn nicht, dann würde ich sagen, dass die Juroren abgestumpfte Hohlköpfe sind.
Eine sehr nachdenkliche und berührende Geschichte.
Gab es eine vorgegebene maximale Zeichenanzahl?
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Golovin
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Beitrag12.03.2024 23:33

von Golovin
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Vielen Dank!
Die Sieger werden erst in einigen Wochen bekanntgegeben. Die maximale Zeichenzahl für die Einreichungen beträgt 30.000. Daher habe ich die Befürchtung, dass längere Geschichten mehr Wirkung entfalten könnten und der höhere Aufwand auch in die Bewertung einfließt. Auf der anderen Seite ist es eben meine Story und für mich ist sie in Ordnung so.
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Günter Wendt
Geschlecht:männlichExposéadler


Beiträge: 2865



Beitrag13.03.2024 10:10

von Günter Wendt
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30.000 Zeichen mit Leerzeichen wären etwa 16/17 Normseiten.
Aus Erfahrung weiß ich, dass man ab 5 Seiten schnell ins Schwafeln kommt wenn man keinen Plot plant, sondern nur seine Gedanken runterschreibt.
Deine Geschichte hat die richtige Länge um nicht einschläfernd oder nervig ohne richtiges Ende zu wirken.
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Arminius
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Beitrag13.03.2024 10:11

von Arminius
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Golovin hat Folgendes geschrieben:
Daher habe ich die Befürchtung, dass längere Geschichten mehr Wirkung entfalten könnten

Das muss nicht so sein. Augenblicke sind meist wirkmächtiger als epische Breite. Wozu die Geschichte zerreden, nur um das Limit auszuschöpfen?
Viel Erfolg damit!
Arminius


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Beitrag13.03.2024 10:17

von Golovin
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Danke! Wie findest du denn den Beitrag im Vergleich zur Bambusnacht, in der es ja auch um Erinnerungen geht? Ich weiß, man kann die Storys nicht vergleichen, aber würde mich interessieren, was für dich mehr Qualität hat.
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Arminius
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 65
Beiträge: 1243
Wohnort: An der Elbe


Beitrag13.03.2024 10:59

von Arminius
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Golovin hat Folgendes geschrieben:
Danke! Wie findest du denn den Beitrag im Vergleich zur Bambusnacht, in der es ja auch um Erinnerungen geht? Ich weiß, man kann die Storys nicht vergleichen, aber würde mich interessieren, was für dich mehr Qualität hat.

Bambusnacht war mir etwas zu breit und ausufernd angelegt. Qualität haben beide Geschichten, aber Unentdeckt bringt es mehr auf den Punkt, weil sie ohne viel Beiwerk und Drumherum persönlicher ist.
Die Thematik Erinnerung/Einsamkeit spricht mich auch deshalb an, weil sie mich 2023 zu einer ähnlichen Geschichte animiert hat (Ein Weihnachtsabend irgendwo im Heim). Da funken wir irgendwie auf der gleichen Welle Wink


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Beitrag14.03.2024 13:25

von Golovin
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Wirkt der letzte Absatz evtl. zu lehrerhaft bzw. zu sehr die Geschichte erklärend?
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sluver
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Beitrag26.03.2024 22:14

von sluver
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Gefällt mir gut, v.a. der Abschnitt "7. Juni" hat ein paar starke Sätze. Lebendiger, bedrückender Text, der mit wenig Worten viele Bilder weckt.
Zu deiner letzten Frage: den zweiten Satz des letzten Absatzes würde ich persönlich weglassen.
Ist aber wie immer Geschmackssache.
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Beitrag26.03.2024 23:30

von Golovin
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Danke.
Witzig, hier wird der Text durchweg gelobt, in einem anderen Forum durchweg verrissen, die Hauptfigur sei nicht greifbar, die Sprache gestelzt. Scheinbar polarisiert der Text sehr.

Ich überlege mir gerade, im letzten Absatz jenen (jungen) Menschen sprechen zu lassen, der Benedict das Zeichen gegeben hat. Er ist ebenfalls einsam und hat gegen sich selbst Schach gespielt und sucht sich aufgrund der Geschichte von Benedict einen Schachpartner und spielt auch für Benedict mit. Eure Meinung?
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Beiträge: 118



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Beitrag27.03.2024 23:14

von Golovin
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sluver hat Folgendes geschrieben:
Gefällt mir gut, v.a. der Abschnitt "7. Juni" hat ein paar starke Sätze. Lebendiger, bedrückender Text, der mit wenig Worten viele Bilder weckt.
Zu deiner letzten Frage: den zweiten Satz des letzten Absatzes würde ich persönlich weglassen.
Ist aber wie immer Geschmackssache.


Ich überlege mir gerade, im letzten Absatz jenen (jungen) Menschen sprechen zu lassen, der Benedict das Zeichen gegeben hat. Er ist ebenfalls einsam und hat gegen sich selbst Schach gespielt und sucht sich aufgrund der Geschichte von Benedict einen Schachpartner und spielt auch für Benedict mit. Eure Meinung?
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sluver
Wortedrechsler
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Beitrag29.03.2024 15:22

von sluver
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Golovin hat Folgendes geschrieben:
Danke.
Witzig, hier wird der Text durchweg gelobt, in einem anderen Forum durchweg verrissen, die Hauptfigur sei nicht greifbar, die Sprache gestelzt. Scheinbar polarisiert der Text sehr.


Tja, so ist das mit Geschmack Very Happy
Mag sein, dass die Sprache teilweise etwas gestelzt ist, m.M. passt dies aber zur Geschichte und zum Ton, der hier vermittelt wird, deshalb stört es mich nicht. "Endlich, wieder Damenberührungen", ist für mich das Highlight und ein ganz klarer, einfacher Satz.

Bezüglich deiner Frage mit dem jungen Mann: versuche es einfach.
Ich persönlich würde mich allerdings kurz halten und es auf maximal zwei Sätze beschränken, um den Fokus nicht von B. wegzuholen. Vllt. würde ich dann den letzten Absatz insgesamt kürzen.

Kleiner Nachtrag: mir fällt jetzt erst bewusst auf, wann genau im Text aus B. Benedict wird - bleibe bei meiner Meinung: guter Text!
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Golovin
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Beitrag29.03.2024 15:49

von Golovin
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Danke dir.
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Veritas
Gänsefüßchen
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Beiträge: 18



V
Beitrag29.03.2024 23:12

von Veritas
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Hallo Golovin,

ich habe den Text einige Male besucht und jedesmal gern gelesen. Er hat mich jedesmal aufs Neue berührt und das auf eine Weise, die ich besonders schätze: nicht mit dem Holzhammer, sondern behutsam und eindringlich, dem Leser an vielen Stellen  genügend Raum für eigene Gedanken und Gefühle lassend!

Trotz Feedback-Bereich kommen jetzt ein paar Anmerkungen zu Details. Ich hoffe, das ist in Ordnung, ansonsten verwirf es bitte einfach und nimm nur das, was ich im ersten Absatz geschrieben habe!

Zwischendurch gibt es ein paar Kleinigkeiten, die mich zwar nicht ganz aus dem Lesefluss gerissen haben, über die ich aber doch jedesmal stolpere:

"Sattes Sonnenlicht bricht durch das Fenster, klatscht gegen B.s blanken Schädel." Hier empfinde ich das "klatscht" als unpassend. Die Sonne macht ja kein Geräusch und klatscht (z.B. im Gegensatz zu Regen oder Matsch) eher nirgendwo hin. Vielleicht wäre das klassische "scheint auf B.s blanken Schädel" (oder "brennt") in diesem Fall besser, das wäre auch weniger reißerisch und würde m.E. gut zu dieser ruhigen Szene passen.

"Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies." Hier würde mir ein schlichtes "deuten ihre Zeigefinger" eher einleuchten.

"Für das Frühstück ist B. in ein Seidensticker-Hemd und eine Bundfaltenhose gestiegen." Vielleicht eher "Für das Frühstück hat sich B. in ein ... und eine ... gemüht.", das würde auch illustrieren, dass das Anziehen mit den Jahren nicht leichter wird.  Für die Hosen ist das Hineinsteigen ein Ausdruck, der an dieser Stelle gut passt, aber dass jemand in ein Oberhemd steigt, kommt eher bei sehr verwirrten Menschen vor, die dann mit den Beinen in die Ärmel schlüpfen wollen.

"Der Duft von Aloe Vera umhüllt seine löschpapierfeine Haut." Die Aloe Vera riecht von Natur aus nur wenig und wenn dann nach Zwiebel/Knoblauch. Der Duft kommt eher von den Parfüm-Zusätzen an den Pflegeprodukten.

Obwohl ich einige Kleinigkeiten "bemängelt" habe, finde ich diesen ersten Absatz insgesamt wunderbar. Du malst hier mit ganz wenigen Sätzen eine Szene, die mich sofort mit an diesem Küchentisch sitzen lässt!

Im nächsten Absatz (also dem mit B.s Großvater) bin ich insgesamt mit dem Präteritum nicht so glücklich, kann mein Unbehagen aber nicht gut begründen.

"Sein Großvater Valentin brachte ihm als Geographiestudent die Regeln bei. Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er sie in den Gassen, über den Brettern versunken."
Ich habe das "sie" im zweiten Satz erstmal auf "die Regeln" aus dem vorherigen Satz bezogen und war irritiert.

"Die Belegschaft verzückt der geringe Aufwand, den der Greis verursacht. »Ein echter Wunderknabe. Goldmedaillenkandidat beim olympischen Hürdenlauf«, flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie prall an Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren donnern lassen." Hier ist für mich nicht ganz klar, wie das Ganze zusammengehört. Falls mit "Belegschaft" die Mitarbeiter der Krankenkasse gemeint sind: die werden sich nach dem (im Zweifel vollständig automatisierten) Versand eines Werbebriefs eher nicht über einen einzelnen Kunden austauschen, der noch dazu wenig Arbeit macht?

Insgesamt finde ich manches in diesem Absatz etwas zu dick aufgetragen (es sind aber eher Nuancen, also Kritik auf hohem Niveau, falls es nicht ohnehin Geschmackssache ist!): Ich stolpere über das "flöten" und würde hier ein neutraleres Wort besser finden. "Prall an Überschwang" ist mir auch zu viel Dramatik. "Im Überschwang, weil sie etwa ..." würde mir genügen, um mir die Szene vorstellen zu können. "weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen;" An dieser Stelle ist für mich alles erzählt, den Abschnitt "wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren donnern lassen." würde ich weglassen. Er erzählt nichts Neues und beim Stichwort "Grillsause" und der Stimmung, in der sie losgehen (also im Überschwang) habe ich als Leser ein eigenes Bild und mag nicht, wenn der Autor mir da nochmal "hinein-malt", statt mich an dieser Stelle meiner Phantasie zu überlassen.

"er umschwärmte das beschlagene Silber aus Lippennähe" Hier verstehe ich nicht, was der blühende Rost mit Lippennähe zu tun hat.

Beim "kreischenden Flächenbrand" würde mir der Flächenbrand genügen, um mir das vorzustellen. Das Kreischen brauche ich da nicht, ein Flächenbrand ist ja für sich genommen schon ein Drama!

"Was hier passiert, passiert hier nicht." Dieser Satz gefällt mir besonders gut.

"Es ist nur, es ist zu spät, ich bin auf den Tag genau seit drei Monaten: tot.«" Hier ist die Geschichte für mich zu Ende. Ich sitze andächtig da und brauche Zeit, um das Gelesene zu verarbeiten. Alles, was danach noch an Text kommt, stört (aus meiner Sicht) die Stimmung, die du zuvor so wunderbar aufgebaut hast.
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Golovin
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Beitrag30.03.2024 12:00

von Golovin
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Vielen Dank! Das hilft mir sehr weiter. Vor dem Wettbewerb werde ich noch eine überarbeitete Version einstellen, bei der der letzte Absatz von einem jungen Menschen handelt, der ebenfalls einsam ist, den Text liest, und sich dann Benedict als Gegner vorstellt beim Spiel gegen sich selbst.


Zu deinen Punkten (bei den weggelassenen Punkten bin ich deiner Meinung):
Es geht mir darum, das Leben außerhalb seiner Wohnung als Gegensatz zu dem, was er erlebt, möglichst schwungvoll und unbeschwert/leicht hedonistisch darzustellen, daher überlege ich, das "blitzen", den "frivolen Witz" und die "donnernden Krüge" drinzulassen.

Ich weiß von Bekannten, die in Branchen wie Banking oder Versicherung arbeiten, dass über diesen und jenen Kunden gerne mal saloppe/abfällige Bemerkungen fallen. Der Arbeitstag dauert schließlich mindestens acht Stunden und kann sich sehr ziehen Wink Es ist ja schon bemerkenswert, wenn ein Kunde in diesem Alter überhaupt keine Fragen oder Behandlungen mehr hat über eine längere Zeit hinweg. Das Bizarre ist ja, dass sie nichts wissen bzw. wissen wollen von seiner existentiellen Resignation, einfach drüber hinweglachen.

Lippennähe bedeutet einfach nur so nah, dass die Lippen den Duschkopf fast berühren. Ist das unklar? Die Rostflecken sind für ihn die Sommersprossen seiner verstorbenen Frau, deswegen umschwärmt er den Duschkopf. Das wollte ich allerdings so auf dem Serviertablett nicht äußern.
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Veritas
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Beitrag30.03.2024 18:31

von Veritas
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Golovin hat Folgendes geschrieben:
Lippennähe bedeutet einfach nur so nah, dass die Lippen den Duschkopf fast berühren. Ist das unklar?

Offenbar hat sich niemand außer mir den Kopf dran gestoßen, also kannst du das vermutlich gefahrlos so lassen wink
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Beitrag23.04.2024 11:50

von Golovin
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Veritas hat Folgendes geschrieben:
Golovin hat Folgendes geschrieben:
Lippennähe bedeutet einfach nur so nah, dass die Lippen den Duschkopf fast berühren. Ist das unklar?

Offenbar hat sich niemand außer mir den Kopf dran gestoßen, also kannst du das vermutlich gefahrlos so lassen wink


Die neue Version, für den Wettbewerb:

Unentdeckt

13. Mai. Wendepunkt: Wärme.

     Am Morgen, vor dem Glockenläuten. B. sitzt am Küchentisch. Der Rücken berührt die stählerne Lehne, die langgliedrigen Finger umklammern die Oberschenkel. Auf dem Tisch ein Eierbecher aus Bernsteinglas; daneben die Tageszeitung. Das Ei hat B. vor wenigen Minuten verzehrt; sein tägliches Ritual.
     Sattes Sonnenlicht bricht durch das Fenster, sengt auf B.s blanken Schädel. Im Stadtpark schleudern sie sich auf den Wippen die Hüften aus dem Unterleib. Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies.
     Für das Frühstück hat sich B. die schiefergrauen Brauen geschnitten. Er hat sich ein Seidensticker-Hemd übergestreift, ist in eine Bundfaltenhose gestiegen. Diese Handlungen vollzog er mit genussvoller Behutsamkeit. B. fasste den Stoff an, und der Stoff ihn.
     Ein Platinring mit eingravierten Daten – E. & B. 21.06.1973 – dekoriert seine rechte Hand. Der Duft von Lavendelöl umhüllt seine löschpapierfeine Haut.

4. Juni. Zwischen Raum und Zeit.

     B. überweist per Dauerauftrag die Miete. 595 Euro warm. Die Wohnung ist der Ort, der ihm bleibt. Ein karges Königreich auf neunundzwanzig Quadratmetern.
     Risse und Narben erstrecken sich über die kalkweißen Wände. Im Flur ragen Nägel in die Leere. Sie illustrieren eine unvollendete Bemühung B.s, den Raum nach seinem Geschmack zu gestalten. Dafür verwendete er vorrangig liebgewonnene Elemente aus seinem vorherigen Zuhause.
     Gegenüber der Eingangstür versammeln sich historische Werbeschilder zu einer Collage. Aus der Mitte prangt als Hauptattraktion eine Blechtafel der Wiener Zigarrenmanufaktur Hübl & Söhne: Lettern im Art-Déco-Stil krönen einen Löwen, der ein Bündel Tabakblätter in seinem Maul trägt und in die Ferne späht.
     Auf einer schmalen Kommode parken Modellflugzeuge vom Typ Lilienthal, aufgereiht wie stolze Wächter in einem Museum der Luftfahrt. Trifft Licht auf ihre filigranen Tragflächen, entsteht der Eindruck einer zauberhaften Leichtigkeit; als würden die Miniaturmaschinen jeden Moment abheben und in den Wolken entschwinden.
     Eine schwarz lackierte Standuhr in der Gestalt einer 35-Millimeter-Filmkamera bewacht im Wohnzimmer die Zeit. Einst schmückte sie das Foyer eines Boutiquehotels. Ihr Uhrwerk verkörpert höchste Handwerkskunst. Die Uhr würde sich eher unvermittelt in Luft auflösen, als die Zeit auch nur eine Millisekunde falsch anzuzeigen. Dennoch rief B. bis zuletzt allabendlich vor dem Schlafengehen die telefonische Zeitansage an, um einen Abgleich vorzunehmen. Am ersten Juni wurde die telefonische Zeitansage eingestellt.

25. Juni. Figuren, gehetzt, geschoben.

     In diesem Wohnblock kennen sich die Nachbarn nur vom Klingelschild. Buchstabenreihen auf Beinen. Gelegentlich menschelt es im Treppenhaus, mikroskopisch. »N‘ Tach.« Dann die Sturzflucht nach oben oder unten. Die Weltpolitik ruft.
     Im Winter hatte B. begonnen, gegen sich selbst Schach zu spielen. Endlich, wieder Damenberührungen. Sein Großvater Valentin brachte ihm als Geographiestudent die Regeln bei. Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er kleinere und größere Meister in den Gassen rund um den berühmten Freiheitsplatz – über den Brettern versunken.
     Von Valentin erbte er die Angewohnheit, bei kniffligen Zügen das Balzen der Fische zu beobachten. Zwei grätendürre Zebrabuntbarsche drehen in einer Glaskugel in B.s Wohnzimmer-Vitrine intime Kreise. Manchmal sieht es aus, als knabberten sie sich gegenseitig an.

28. Juli. Blick in den Spiegel der Vergangenheit.

     Heute wandert die dreistellige Rente auf B.s Konto. Im Bad müsste der rostige Duschkopf ausgewechselt werden. Was in B.s Augen noch im Frühjahr als Sommersprossen-Strauß funkelte – er umschwärmte das beschlagene Silber aus Lippennähe –, ist jetzt ein Flächenbrand.
    Oder doch lieber in ein sorgenfreies Lächeln investieren? »Dieses Angebot legen wir Ihnen wirklich ans Herz. Wir bedanken uns Im Voraus bei Ihnen und wünschen Ihnen beste Gesundheit.« So verabschiedet sich die Krankenkasse in ihrem Werbebrief zur Zahnzusatzversicherung bei B.
     Die Belegschaft verblüfft, dass der Greis nach komplizierten Eingriffen an der Bauchspeicheldrüse im vergangenen Jahr keinen Aufwand mehr verursacht. »Ein echter Wunderknabe. Goldmedaillenkandidat beim olympischen Hürdenlauf«, flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie im Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren krachen lassen.

13. August. Was hier passiert, passiert hier nicht.

     Am Morgen, nach dem Glockenläuten. »Ich bin Benedict. Ich spreche zu dir, weil du mir deine Aufmerksamkeit schenkst, mich fest in deinen Händen hältst. Vor mir steht ein Eierbecher aus Bernsteinglas. Das Ei habe ich bereits genossen; mein tägliches Ritual. Eigentlich würde ich nun zum Fenster gehen und in die Stuben von C., R. oder O. spähen. Mein Tasten nach dem verbliebenen Flimmer Leben. Diese behüteten Aufbrüche in das panikumwitterte Paradies sog ich stets tief ein.
     Der Ablauf? Immer gleich. Mit mühsamer Entschlossenheit stoße ich mich von der Tischfläche ab, und mache mich auf den Weg. Die zweieinhalb Meter lange Strecke führt mich vorbei an einem sizilianischen Kochbuch – Cuccina della Nonna –, einer Dose mit grünem Kardamom und holzgeschnitzten Massai-Giraffen; eine ausgedehnte Reise durch Erinnerungen und verschwommene Träume. Am Fenster angekommen, genieße ich die erfrischende Kälte des Metallgriffs an meinen Fingern. Ich öffne das Fenster, durchbreche die Barriere zwischen mir und der Welt da draußen. Beuge mich vor, bade meine Nase im Wind, richte Augen und Ohren auf die Eindrücke von unten; fahrende Vorhänge, gedämpfte Stimmen.
     Einmal habe ich, glaube ich, eine Botschaft erhalten. Meine Pupillen keimten, meine Waden flatterten. Einmal noch das Wir erfahren. Doch nach drüben? Einfach so nach drüben? Verstehst du, was ich meine?
     Beim nächsten Mal sollte mir Bill Haley den Marsch blasen, schwor ich mir. See you later, Alligator, rotierend unter der Grammophon-Nadel. Wie damals, als ich Erika im Route 66 zum Boogie-Woogie aufforderte. Ein himmlischer Plan! Oh ja. Aber … so verzweifelt ich mich anstrenge; ich kann nicht mehr aufstehen, meinen Kopf recken, den Tanzgott markieren. Das ist auch keine Ausrede, denk das bitte nicht. Es ist nur, es ist zu spät, ich bin auf den Tag genau seit drei Monaten: tot.«


          |


Auf diesem Papier ruht

Benedict Odenwald. 1942 – 2024.

Für immer braucht es mehr als einen Flimmer.
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sluver
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Beitrag24.04.2024 19:34

von sluver
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Gefällt mir immer noch gut.
Ein paar absolute Kleinigkeiten, die mir ins Auge gefallen sind:

»N‘ Tach.«
Ist das das richtige Apostroph (Windows - ALT+0146)?
Für mein Auge sieht es etwas komisch aus.
 
Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er kleinere und größere Meister in den Gassen rund um den berühmten Freiheitsplatz – über den Brettern versunken.
Ich versteh den Gedankenstrich an der Stelle nicht ganz. Willst du das versunken betonen?

... flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie im Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren krachen lassen.
Hier irritieren mich die vielen Semikolon. Kann aber jemand anders vom Stil her ganz toll finden.

Viel Erfolg!
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Beiträge: 118



G
Beitrag24.04.2024 19:47

von Golovin
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Vielen Dank!
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