Freiflug

[HansGlogger]

Freiflug

 An einem Sonntagnachmittag saß ich im Café und las Zeitung. Eine Fliege angelockt vom süßen Duft, flog in mein Glas. Ich bemerkte sie erst, als sie kurz vor dem Ertrinken war. Sofort steckte ich einen Finger ins Glas. Sie krabbelte hoch. Behutsam streifte ich sie auf den Tisch. Als sie sich geputzt hatte, flog sie in den hohen, blauen Himmel des Sommersonntags.
Kurz danach stand ein unscheinbarer junger Mann, Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig, Brille, abgetragene Kleider vor meinem Tisch und fragte, ob ein Platz frei sei. Ich nickte nur kurz – er setzte sich zu mir.
»Warum lesen Sie Zeitung?«, begann er unvermittelt.
»Weil ich wissen will, was in der Welt geschieht«, antwortete ich, ohne aufzublicken.
»Wenn sie fertig sind, ist ihr Wissen dann größer geworden?«
»Ja, das hoffe ich mal«, sagte ich, blickte kurz auf und las weiter.
Etwas unhöflich vielleicht, dachte ich – aber er begann mich zu beunruhigen. Seine ruhige Art zu sprechen, die Andeutung eines Lächelns, das nicht arrogant oder spöttisch wirkte, aber mir doch in mir ein Gefühl weckte, das seit meiner Schulzeit nicht mehr kannte. Obwohl er gut zehn Jahre jünger war als ich.
»Und dann lesen Sie die nächste Zeitung?«
Mein Weiterlesen schien ihn nicht zu stören.
»Eher nicht.«
»Wollen Sie nicht mehr wissen?«
»Für heute reicht es dann.«

Einem kleinen philosophischen Diskurs mit einem Mini-Sokrates musste ich gewiss nicht ausweichen. Ich legte die Zeitung weg.
»Und wollen Sie mehr wissen?«, übernahm ich die Rolle des Fragers.

»Nein, ich weiß schon alles.« Er lächelte, als hätte er etwas über das Wetter gesagt.
 »Und woher haben sie all Ihr Wissen?«, fragte ich.
»Seit unzähligen Generationen häufen die Menschen Wissen an. Manches geht verloren, doch das wird wiedergefunden. Am Ende wissen wir alles.«  
 »Davon sind wir aber noch weit weg. Unsere gegenwärtige Epoche jedenfalls. Sind Sie ein Zeitreisender aus der Zukunft?«, fragte ich spöttisch.
 »Wenn Sie so wollen – ja.«
 »Dann kennen sie ja die Lottozahlen von nächster Woche«, sagte ich mit einem Lachen.
 
»Ja, sicher doch. Ich nenne Ihnen jetzt die ersten vier Zahlen. Sie können gerne alle Kombinationen für sechs richtige damit durchspielen. Das wird aber sehr teuer. Schreiben Sie mit!«
Er gab mir einen Bleistift. »23, 6, 8, 17. Genau in dieser Reihenfolge werden sie gezogen.«
Ich notierte die Zahlen und kam mir dabei etwas lächerlich vor.
»Nächsten Sonntag um diese Zeit werde ich wieder hier sein. Dann haben Sie eine Frage frei – aber nur eine einzige! Sie können mich dann auch nach den sechs Zahlen der übernächsten Ziehung fragen. Aber überlegen Sie sich ihre Frage gut! Sonst bereuen Sie es nachher, mich nicht etwas anderes gefragt zu haben.«
 Er lächelte kurz.
»Sie haben einen Freiflug gewonnen. Es liegt an Ihnen sie, wo es hin geht.«
 Er legte das Geld für den Kaffee auf den Tisch, stand auf und ging.
 
Am Samstag spielte ich seine Zahlen, die vier Zahlen kamen genau in der Reihenfolge, die er genannt hatte. Die Nacht auf den Sonntag wälzte ich mich schlaflos hin und her. Was sollte ich fragen:
Ein ungelöstes Problem der Medizin oder Technik? Wer würde mir glauben?
Eher etwas Grundsätzliches? Die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Universums oder nach Gott? Gödel hat bewiesen, dass Gott notwendigerweise existiert. Hat dieser Beweis etwas in meinem Leben geändert?
Die Vögel zwitscherten schon, als ich endlich die Frage fand und zufrieden einschlief.

Ich kam fast eine Stunde zu früh. Auch diesmal setzte ich mich auf die Terrasse. Er kam auf die Sekunde genau und fragte sofort nach der Begrüßung.
»Also, wie lautet ihre Frage?«, fragte er.
»Welche Frage soll ich ihnen stellen?«, antwortete ich.
»Genau diese!«, antwortete er stand auf und ging.

[Pickman]

Gut erzählt, schöne Pointe, schade, dass der Fremde die Antwort schuldig bleibt.

[Skatha]

Flüssig geschrieben, nur ein paar Flüchtigkeitsfehler bei der Höflichkeitsform.

Inhaltlich amüsant und denkanregend. Meine Auslegung: Das LI glaubt offenbar an die Zeitreise und dass alles vorherbestimmt ist, weshalb es wiederum bei seiner 'Gegenfrage' landet; und der vermeintliche Zeitreisende weiß, welche Frage das LI stellen wird, was wiederum seine Antwort erklären würde. So gesehen eher Determinismus, denn 'Freiflug' (was ich mal iSv freie Wahl/freier Wille deute).

Wieso der junge Mann zunächst nur vier statt sechs Lottozahlen nennt, lässt mich grübeln…

[HansGlogger]

Hallo Pickman und Skata
danke Eure Rückmeldung.

Der Fremde gibt ja eine Antwort. Die Geschichte ist mir mal eingefallen, ich habe sie ohne interpretierende Hintergedanken geschrieben. Interpretation liegt nur im Auge des Lesers, oder so ähnlich.

Die vier Zahlen kennt der Fremde in der richtigen Reihenfolge, was deutlich unwahrscheinlicher zu erraten ist, als nur vier Richtige im gewöhnlichen Lotto. Er beweist damit hinreichend genau, dass er in die Zukunft sehen kann, also "alles weiß"
Ein hoher Geldgewinn für den Prota hätte eine Nebenhandlung eröffnet, die nicht in eine Kurzgeschichte passt.

[Willebroer]

[HansGlogger]

[Janus]

Sehr anregende Geschichte. Stil und Inhalt gehen Hand in Hand wie ich finde. Hat mir sehr gut gefallen.

Die einzige Frage, die ich mir stelle: Wieso sucht der Zeitreisende überhaupt das Gespräch mit dem Lyrischen Ich? Spricht er mit sich selbst? Mit einem alten Freund?