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Knirschen im Kies


 
 
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Babella
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 61
Beiträge: 889

Das goldene Aufbruchstück Der bronzene Roboter


Beitrag11.08.2022 19:00
Knirschen im Kies
von Babella
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Am linken Nachbartisch saß eine Familie mit zwei Kindern. Ein Junge, etwa neun, ein Mädchen, vielleicht sieben, Mama und Papa studierten die Speisekarten, die Kinder schienen schon gewählt zu haben, jedenfalls spielten sie mit Tierfiguren, die sie in einen Wald aus Bierdeckeln und Servietten aufstellten. Sie wirkten vertieft und friedlich. Die Eltern schwiegen.

Vivian hielt nach einer der Bedienungen Ausschau, die unter den ausladenden Sonnenschirmen herumwieselten und viel zu tun hatten. Sie war allein und wartete auf niemanden, nur auf ihren Salat, und den hatte sie noch nicht einmal bestellt.

Sie hatte noch ein gutes Stück zu fahren heute. Das hier war keine Vergnügungsreise, sie hatte einen Auftrag in Lübeck und würde morgen sehr früh aufstehen müssen.

„Die den Schuss nicht hörten“ – ein reizvolles Thema für eine Ausstellung. Menschen waren schon so oft sehenden Auges in die Katastrophe marschiert. Für einen Moment war sie gedanklich bei all den Anrufen und Besprechungen, die auf sie warteten, und vielleicht war es das Lachen und Plappern um sie herum, das wieder die Frage aufwarf, was denn kulturelle Veranstaltungen ausrichten könnten in den Köpfen ihrer Zeitgenossen, die nicht weiter dachten bis zu ihrem Gartentor, das einen neuen Anstrich brauchte, wofür man mit dem Auto zum Baumarkt fahren musste.

Nichts anderes konnte sie sich bei der Familie im Nachbartisch vorstellen, warum sollte sie anders sein als die Leute in ihrer Nachbarschaft; sie begann sich ein bisschen zu ärgern. Hunde, Mähroboter, dicke Autos. Ich sollte umziehen, dachte sie wieder einmal, aber wohin. Und überhaupt, ich bin eine von ihnen.

Als der mutmaßliche Vater der beiden Kinder den Kopf hob, wohl ebenfalls, um nach einem Kellner zu suchen, streifte sein Blick Vivian, und Vivian durchfuhr etwas, das sich anfühlte wie ein Schreck.

Sie war sich nicht sicher. Aber sie konnte auch nicht ausweichen. Das Wort „Jugendliebe“ stand wie ein Elefant im Raum, nur eben, dass es kein Raum war, sondern ein Biergarten, frei nach allen Seiten auf einer kleinen Anhöhe, Blick auf einen Wald, der nicht so gesund war, wie er auf den ersten Blick wirkte. Das Wort und all die Empfindungen, die damit verbunden waren, waberten durch den Geruch von Pommes und Schnitzel, Zigarettenrauch und Bier. Und Schweiß. Viel Schweiß. Dabei war es schon nach sechs am Abend.

Kurz nach dem Abitur hatten sich ihre Wege getrennt, er wollte nach Hamburg, sie nach München, niemand wollte nachgeben, eine Fernbeziehung – gab es das Wort damals überhaupt schon? – war keine Option. Es war klar, es war aus.

Sie hatten sich rasch aus den Augen verloren. Viel zu tun, kein Interesse. Das Studium, die neue Umgebung, andere Leute, man kann nicht alle Freunde behalten, die man so ansammelt, etwas in der Art hatte Simon gesagt, Simon, der viele Freunde hatte, weil er leicht Freundschaften schloss, Simon, der froh war, als er sein mittelprächtiges Abiturzeugnis in der Hand hielt und der nichts anderes wollte als in den Norden und in die Großstadt. Was genau er vorgehabt hatte, wusste sie nicht. Es war ein etwas-mit gewesen, aber sie wusste nicht mehr, ob es etwas-mit-Menschen oder etwas-mit-Medien war oder überhaupt etwas ganz anderes.

Sie hatten eine gute Zeit zusammen gehabt, ja, so war das wohl. Vivian fühlte die Leichtigkeit, die ihre Beziehung trug, die Sorglosigkeit, den Lebenshunger, die Offenheit. Der Geruch nach Pommes und Schweiß traf es ein bisschen. Es war viel Sommer dabei gewesen, auch Fastfood.
Sein Gesicht wirkte teigig, er hatte zugenommen an Hals und Armen, seine Haare waren dünner geworden. Auf der Stirn standen Schweißperlen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dies einmal der dünne Schlaks gewesen sein sollte, den sie damals gekannt hatte. Vielleicht vertat sie sich und er war es gar nicht?

„Haben Sie schon gewählt?“ Eine junge Frau war an ihren Tisch getreten. Sie wirkte hektisch und abgekämpft. Vivian orderte Salat und Apfelsaftschorle.

Während die Mutter mit Blick auf die beiden Kinder die Bestellung aufgab, sah der Vater zu Vivian herüber und ihre Blicke trafen sich.
Es war zuerst nur ein zufälliges Aneinandervorbeistreifen, Vivian in ihrer Unsicherheit konnte ihren Blick nicht auf ihm ruhen lassen, er aber ließ beim ziellosen Scannen der Umgebung ein Zucken erkennen, das seine Augen wie den Arm eines Schallplattenspielers, der hängengeblieben war, an ihr, Vivian, verweilen ließ, ungläubig, staunend und mit einem Mal voller Neugier. Es gab keinen Zweifel, er hatte sie erkannt und hinter seiner schweißigen Stirn arbeitete es.

In dem Moment wurde er gefragt, ob er Ketchup zu seinen Pommes wollte. Die Kinder liefen zu dem kleinen Spielplatz herüber, nicht mehr als ein Sandkasten, eine Schaukel und eine Rutsche, gleich vor dem Aussichtspunkt auf den Teutoburger Wald. Ein Blick auf einige vertrocknete, kahle Kiefern, die mahnmalgleich hoch über ihren Artgenossen in den Himmel ragten, als flehten sie bei Petrus um Regen.

Die mutmaßliche Mutter vom Nebentisch erhob sich und wollte wohl zur Toilette. Simon saß allein am Tisch, aber als seine Frau außer Sicht war, kam er zu Vivian herüber.

„Wir kennen uns“, sagte er.

„Ja, Simon, wir kennen uns“, sie zögerte, ihren eigenen Namen zu nennen. Er schien ja nicht darauf zu kommen. Das war typisch für ihn, und sie spürte einen Anflug von Ärger.

„Vivian …“

Für einen Moment starrten sie einander an, musterten ihr Gegenüber, schüttelten fast zeitgleich die Köpfe als wollten sie es immer noch nicht glauben. Der Moment zog sich in die Länge.

„Wie geht es dir? Was machst du?“ Sie sprachen wie im Chor und lachten dann, die Spannung löste sich auf. Alles war wieder da: Die Leichtigkeit ihrer Jugendzeit, die Anziehung und zugleich der Freiheitsdrang, der sie davon abhielt, sich zu fest zu binden, die Unternehmungslust, die Lust, neu anzufangen, die Lust als solche. Dachte sie.

Aber sie konnten nicht viel reden. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu sortieren und einander anzustarren und dann kamen zeitgleich ihr Salat und seine Frau, und Simon sagte zu ihr, dies sei Vivian und dass er sie aus der Schule kenne, die Antwort war ein Nicken und dann setzten sich beide wieder an ihren Tisch.

Vivian war zurück in ihrer Welt. Der Salat war groß und farbenfroh, sie kannte dieses Restaurant, das unweit von der Autobahn lag und an dem sie schon öfter Station gemacht hatte, und sie hatte sich auf genau diesen Salat gefreut, so einen, für den sie selbst meist nicht die Geduld hatte - so viele Zutaten, so viel Schnippelei. Sie mochte die einsamen Fahrten, die sie beruflich oft zu unternehmen hatte. Sie gaben ihr ein Gefühl von Freiheit. Unbeobachtet sein, immer die Option haben, Pläne zu ändern, Pause machen, wo niemand sie kannte. Manchmal stellte sie sich vor, einfach über ihr Ziel hinauszufahren, irgendwohin, wo niemand nach ihr fragte.

Sie zahlte vorn an der Theke und schaute nicht mehr zu Simon herüber, warum auch, er war glücklich mit seiner Familie, zwanzig Jahre waren eine lange Zeit, nichts galt mehr, was sollte das alles, sentimentaler Quatsch. Sie verließ den Biergarten durch das Gartentor und ging zügig zum Parkplatz. Sie überhörte das Knirschen im Kies, das von hinten an ihr Ohr drang.
Als sie ihre Handtasche im Fußraum des Beifahrersitzes verstaut hatte und starten wollte, öffnete sich die Beifahrertür und blitzschnell stieg Simon ein. Er schloss die Tür hinter sich und ließ sich in den Sitz fallen.

Ein Redeschwall. Lass uns fahren. Nimm mich mit. Das ist nicht meine Familie, das ist ein Date. Das sind nicht meine Kinder, das sind nicht einmal ihre, sie leben nur bei ihr. Sie ist Ersatzmama. Ich eigne mich nicht als Ersatzpapa. Ich will nichts anderes als mit dir fahren, wohin auch immer du unterwegs bist. Bitte fahr einfach los.

Halt den Mund, Simon. Vivian schrie es fast.

Sie hatte sich vor einiger Zeit mit dem Schweigen auseinandergesetzt. Das Schweigen, das einem Raum gab. Das Schweigen, das man mit anderen Menschen erst teilen konnte, wenn man miteinander sehr vertraut war. Das Schweigen, das verhinderte, dass man Dinge sagte, die man später bereute. Sie hatte schon viele Worte bereut.

Das Schweigen, das sie vorhin am Nachbartisch beobachtet hatte, hatte sie falsch gedeutet. Es war kein vertrautes, sondern ein fremdes Schweigen gewesen. Wie war es denn mit dem Vertrauen zwischen ihnen beiden?
Sie startete den Motor und gab Gas. Sie sagte nicht, wohin sie wollte und was sie vorhatte. Sie unterdrückte jede seiner Äußerungen mit einer unwirschen Handbewegung. Kurz überlegte sie, in welcher Weise sie gerade schwieg. Sie gab sich keine Antwort. Ist Schweigen Reden mit sich selbst, fragte sie sich. Sie fuhr auf die Autobahn, beschleunigte, überholte, wechselte hektisch die Spuren, bremste abrupt, beschleunigte wieder.

Du fährst ja einen Streifen, sagte Simon nach einer Weile. Er klang amüsiert.

Sie spürte einen Anflug von Ärger. Wovor läufst du weg. Was soll das. Hast du kein Zuhause.  

Aber sie sagte nichts. Die Autobahn war frei, sie fuhren Richtung Norden, sie schwiegen. Sie schwiegen sehr lang. Das Navi forderte sie auf, die Autobahn zu verlassen, sie tat es nicht, er sagte nichts.

Wer wird nach dir fragen, sagte Simon. Es war eine Feststellung, so wie manche Fragen eben Feststellungen sind, und sie antwortete nicht, denn es gab nichts zu antworten.

Bricht man so aus seinem Leben aus, sagte sie, und auch das war eine Feststellung. Wie ferngesteuert fuhr sie weiter.

Trelleborg? Trelleborg. Erst mal.

In Travemünde hatten sie noch etwas Zeit, bis die Nachtfähre ablegte. Man könnte auch anders fahren, sagte Simon, über Fehmarn.

Ja, könnte man, sagte Vivian.

Sie würde morgen früh telefonieren und ihren Termin in Lübeck absagen. Die Fähre ging täglich. Sie konnte jederzeit zurück. Aber sie dachte das nicht wirklich. Sie dachte eigentlich fast nichts, nur noch: Jetzt schweigen meine Gedanken. Gutes Gefühl.

Läufst du weg? Sie fragte es dann doch.

Ja, nein, vielleicht, war seine Antwort.

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V.K.B.
Geschlecht:männlich[Error C7: not in list]

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Das goldene Rampenlicht Das silberne Boot
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Beitrag22.08.2022 21:33

von V.K.B.
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Hallo Inky,

eine Frau, die ihre Freiheit und das Schweigen (jedenfalls oft genug erwähnt) liebt, trifft eine alte Jugendliebe und dieser steigt zu ihr ins Auto und fährt mit. Sie beschließt, nicht ihre Ausfahrt zu nehmen, sondern spontan nach Trelleborg zu fahren und aus ihrem Leben auszubrechen.

Schauen wir erstmal nach Schema:

E-Lit: Hart an der Grenze, würde ich sagen. Jedenfalls könnte ich mir das auch als erstes Kapitel eines Liebesromans vorstellen.
Sperrig: Nö, eigentlich ziemlich konventionell und geradeaus geschrieben. An einigen Formulierungen bleibe ich hängen, weiß aber nicht, ob das beabsichtigt ist. Falls ja, kann ich keinen Mehrwert darin entdecken.
Thema Sommergäste: Irgendwie auch nicht wirklich, oder? Klar könnte man sagen, sie sind Sommergäste in dem Restaurant und dann miteinander auf der Fahrt, aber wirklich Thema ist das nicht.
Begegnungen/Abschiede: Sicher, es geht um die alte Jugendliebe, das Date (das wohl nicht so erfolgreich verlief) und das Wiedersehen. Auch die Vergangenheit wird in ihren Gedanken thematisiert.
ungehörter Schuss: Hier schwimme ich noch. Klar wird das direkt bezüglich der Aufstellung erwähnt, aber kommt mir ein bisschen wie Vorgaben-Dumping (analog zu Infodump) vor, denn eine weitere Rolle spielt das nicht. Möglicherweise als Metapher, aber ob sie "auch den letzten Schuss nicht gehört hat" oder das Richtige für eine vielleicht glücklichere Zukunft tut, bleibt ja offen.
Hintergrund Veränderung: Die Geschichten sollten vorm Hintergrund einer sich anbahnenden Veränderung spielen. Das kann ich hier nicht entdecken. Ja, es gibt eine Veränderung, sie will aus ihrem Leben ausbrechen, aber das ist ja kein Hintergrundszenario, sondern geht aktiv von ihr selbst aus.
Persönliches Gefallen: Das ist jetzt natürlich die wichtigste Kategorie, und leider kann die Geschichte hier nicht wirklich punkten. Für einen Zehnztausendertext ist mir das alles zu wenig. Zu wenig E, zu wenig Vorgabenumsetzung (oder zumindest zu wenig wirkliches Auseinandersetzen damit), zu wenig echte Tiefe. Es bleibt für mich alles ziemlich an der Oberfläche. Von daher also wahrscheinlich nicht bei den Punkten dabei, aber die verteile ich erst, wenn ich alles gelesen habe.


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Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills …
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dürüm
Wolf im Negligé

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Beitrag23.08.2022 15:04

von dürüm
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Hallo Inco,

Glückwunsch zur Teilnahme, der 10k ist der Mt. Everest der Bewerbe im DSFo, quasi nur für Größenwahnsinnige (was hat mich da nur geritten?)

Dein Plot ist nicht glaubwürdig. Keine Frau geht mit geliehenen Kindern zu einem Date.

Und schon gar nicht in ein Autobahnrestaurant.

Ich hätte den Klassiker, weibliche Verwandte gewählt, die kann liebevoll/Missverständnisse auslösend angeschaut werden, kann auch Kinder dabei haben (Nichten und Neffen).

Soviel zum Plot.

Umsetzung.
Hm. War flüssig zu lesen, aber nicht wirklich vielschichtig oder anspruchsvoll, und das Ende war reichlich abrupt.

Die schönste Stelle, die über das "Schweigen".

Von mir diesmal leider keine Punkte.

Gruß
Kerem


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(Seneca)
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Reimeschreiberin
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 220



Beitrag24.08.2022 22:15

von Reimeschreiberin
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Eine interessante Situation. Und wer hat es nicht schonmal erlebt? Die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, das Aufflammen von längst vergessenen Wünschen und Träumen. Nur dass die Wenigsten sich dem hingeben, in die erneut dargebotenen Möglichkeiten eintauchen und einfach an der Abzweigung in den altbekannten Alltag vorbei fahren.

Etwas gestört hat mich, dass im 6. Absatz mit der Bezeichnung "mutmaßlicher Vater" und im 13. Absatz mit "mutmaßlicher Mutter" eine entscheidende Wendung bereits vorweg genommen wurde. Ich hätte die Ergänzung "mutmaßlich" einfach weggelassen.

Ansonsten gerne gelesen.
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sleepless_lives
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Beitrag24.08.2022 23:52

von sleepless_lives
Antworten mit Zitat

Vielversprechender Titel und vielversprechender Anfang. Klare Exposition ohne Infodump und in dem hier
Zitat:
der mutmaßliche Vater der beiden Kinder

überliest man glücklicherweise das „mutmaßliche“, das einen Bruch in der Perspektive gleichkommt, denn warum sollte die Protagonistin mutmaßen. Im ersten Abschnitt tut sie es ja auch nicht. Die Sprache ist nüchtern und präzise und auch im Mittelteil tauchen in den Beschreibungen genügend Einzelheiten auf, um die Geschehnisse nicht auf ein unverbindliches Irgendwo und Irgendwann und eine Standardsitutation zu reduzieren. Wobei es allerdings mit der „mutmaßliche Mutter“ dann anfängt, einen Hauch von Merkwürdigkeit zu bekommen, aber der Abschnitt über den Salat versöhnt, schön zu lesen und ein Musterbeispiel dafür, wie ein paar scheinbar unzusammenhängende Details so viel zur Atmosphäre und zur Zeichnung des Charakters der Protagonistin beitragen können.
Dann geht es leider bergab.
Zitat:
Sie überhörte das Knirschen im Kies, das von hinten an ihr Ohr drang.

Also überhörte sie es nicht oder wir verlassen hier Vivians Perspektive. Doch der Satz enthält den Titel! Es muss ein zentraler Moment, ein Schlüsselmoment sein. Das würde den Bruch in den Perspektive motivieren, doch auf diese eine Erwähnung folgend kommt nichts mehr. Das Knirschen bleibt in der Tat bedeutungslos, nichts in der Geschichte würde sich ändern, wenn der Parkplatz asphaltiert wäre oder mit Gummimatten ausgelegt. Das Öffnen der Autotür durch Simon wirkt auf jeden Fall überfallartig und über den titelgebenden Moment findet sich auch später kein Reflexion.   

Was dann von Simon gesagt wird hatte ich beim erste Lesen für eine platte und lächerlich unglaubwürdige Lüge gehalten und angenommen, sie schmeißt ihn aus dem Wagen. Aber der weitere Verlauf der Geschichte und die beim wiederholten Lesen bewusst werdenden zwei Mal „mutmaßlich“ sagen etwas anderes. Das ist nicht ein Deus ex machina, das sind zwei, Zwillingsgötter sozusagen. Date und nicht einmal die Kinder der Frau. Hätte das Vivian nicht unweigerlich merken müssen, zumindest, dass es sich um ein Date handelt. Und übergeht der Text nicht einfach (um des Überraschungseffekt willen?), wie Simon sein Date gegenüber Vivian vorstellt? Was ja eigentlich ein exzellente Möglichkeit gewesen wäre, mehr Glaubwürdigkeit hereinzubringen? Simon stellt sie nicht als seine Frau vor, sagt nur den Namen, bricht ab vor einer Erklärung. Etwas in der Art halt.

Leider ist damit für mich die Geschichte gelaufen, ich bin sozusagen auf dem Nachbargleis und mein Zug entfernt sich gewaltig schnell und fährt in eine andere Richtung. Die Situation selbst wäre vielleicht noch zu verkraften, auch wenn sie schon sehr bequem günstig daherkommt, aber so sei es halt. Doch als beinahe fingerschnippende Überraschung – da steige ich leider aus.

Dir sind wegen der ersten Häfte des Textes dennoch 4 Punkte entgangen.


_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
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Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag25.08.2022 09:58

von Constantine
Antworten mit Zitat

Bonjour Señora Incógnita

Feedback im Text und Gesamtfazit am Ende:
Señora Incógnita hat Folgendes geschrieben:
Am linken Nachbartisch saß eine Familie mit zwei Kindern. Ein Junge, etwa neun, ein Mädchen, vielleicht sieben <-- die Geschichte scheint aus der Perspektive von Vivien erzählt zu werden. Ok. , Mama und Papa studierten die Speisekarten, die Kinder schienen schon gewählt zu haben, jedenfalls spielten sie mit Tierfiguren, die sie in einen Wald aus Bierdeckeln und Servietten aufstellten. Sie wirkten vertieft und friedlich. Die Eltern schwiegen.

Vivian hielt nach einer der Bedienungen Ausschau, die unter den ausladenden Sonnenschirmen herumwieselten und viel zu tun hatten. Sie war allein und wartete auf niemanden, nur auf ihren Salat, und den hatte sie noch nicht einmal bestellt.

Sie hatte noch ein gutes Stück zu fahren heute. Das hier war keine Vergnügungsreise, sie hatte einen Auftrag in Lübeck und würde morgen sehr früh aufstehen müssen.

„Die den Schuss nicht hörten“ – ein reizvolles Thema für eine Ausstellung. Menschen waren schon so oft sehenden Auges in die Katastrophe marschiert. <-- Im Gesamtkontext des Textes würde ich dies schon als ein ironisches Teasen betrachten, dass Vivien selbst es nicht besser macht, in dem sie Simon in ein Ja-Nein-Vielleicht-Weglaufen mitnimmt, von dem ich als Leser mir schon denken kann, so wie das hier im Text mit dem Wiedersehen der beiden anfängt, das kann nichts werden. Für einen Moment war sie gedanklich bei all den Anrufen und Besprechungen, die auf sie warteten, und vielleicht war es das Lachen und Plappern um sie herum, das wieder die Frage aufwarf, was denn kulturelle Veranstaltungen ausrichten könnten in den Köpfen ihrer Zeitgenossen, die nicht weiter dachten bis zu ihrem Gartentor, das einen neuen Anstrich brauchte, wofür man mit dem Auto zum Baumarkt fahren musste.

Nichts anderes konnte sie sich bei der Familie im Nachbartisch vorstellen, warum sollte sie anders sein als die Leute in ihrer Nachbarschaft; sie begann sich ein bisschen zu ärgern. Hunde, Mähroboter, dicke Autos. Ich sollte umziehen, dachte sie wieder einmal, aber wohin. Und überhaupt, ich bin eine von ihnen.

Als der mutmaßliche <-- Ich verstehe diese Zweifel nicht, denn bereits zu Beginn charakterisiert Vivien das Paar als Mama und Papa. Warum hier jetzt "mutmaßlich"? Wirkt angestrengt formuleirt. Vater der beiden Kinder den Kopf hob, wohl ebenfalls, um nach einem Kellner zu suchen <-- diese Erklärung/Vermutung kann mMn gestrichen werden, da Vivien bereits zu Beginn beschrieben hat, dass die Eltern die Speisekarte studieren  , streifte sein Blick Vivian, und Vivian durchfuhr etwas, das sich anfühlte wie ein Schreck.

Sie war sich nicht sicher. Aber sie konnte auch nicht ausweichen. Das Wort „Jugendliebe“ stand wie ein Elefant im Raum, nur eben, dass es kein Raum war, sondern ein Biergarten, frei nach allen Seiten auf einer kleinen Anhöhe, Blick auf einen Wald, der nicht so gesund war, wie er auf den ersten Blick wirkte. Das Wort und all die Empfindungen, die damit verbunden waren, waberten durch den Geruch von Pommes und Schnitzel, Zigarettenrauch und Bier. Und Schweiß. Viel Schweiß. <-- Klasse geschrieben. Dabei war es schon nach sechs am Abend.

Kurz nach dem Abitur hatten sich ihre Wege getrennt, er wollte nach Hamburg, sie nach München, niemand wollte nachgeben, eine Fernbeziehung – gab es das Wort damals überhaupt schon? – war keine Option. Es war klar, es war aus.

Sie hatten sich rasch aus den Augen verloren. Viel zu tun, kein Interesse. Das Studium, die neue Umgebung, andere Leute, man kann nicht alle Freunde behalten, die man so ansammelt, etwas in der Art hatte Simon gesagt, Simon, der viele Freunde hatte, weil er leicht Freundschaften schloss, Simon, der froh war, als er sein mittelprächtiges Abiturzeugnis in der Hand hielt und der nichts anderes wollte als in den Norden und in die Großstadt. Was genau er vorgehabt hatte, wusste sie nicht. Es war ein etwas-mit gewesen, aber sie wusste nicht mehr, ob es etwas-mit-Menschen oder etwas-mit-Medien war oder überhaupt etwas ganz anderes.

Sie hatten eine gute Zeit zusammen gehabt, ja, so war das wohl. Vivian fühlte die Leichtigkeit, die ihre Beziehung trug, die Sorglosigkeit, den Lebenshunger, die Offenheit. Der Geruch nach Pommes und Schweiß traf es ein bisschen. Es war viel Sommer dabei gewesen, auch Fastfood. <-- auch ein toller Satz.
Sein Gesicht wirkte teigig, er hatte zugenommen an Hals und Armen, seine Haare waren dünner geworden. Auf der Stirn standen Schweißperlen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dies einmal der dünne Schlaks gewesen sein sollte, den sie damals gekannt hatte. Vielleicht vertat sie sich und er war es gar nicht?

„Haben Sie schon gewählt?“ Eine junge Frau war an ihren Tisch getreten. Sie wirkte hektisch und abgekämpft. Vivian orderte Salat und Apfelsaftschorle.

Während die Mutter mit Blick auf die beiden Kinder die Bestellung aufgab, sah der Vater <-- der mutmaßliche Vater zu Vivian herüber und ihre Blicke trafen sich.
Es war zuerst nur ein zufälliges Aneinandervorbeistreifen, Vivian in ihrer Unsicherheit konnte ihren Blick nicht auf ihm ruhen lassen <-- So ganz will mir ihre Unsicherheit nicht passen, unte Berücksichtigung ihrer zusammenfassenden Erinnerung weiter oben und ihrer Reaktion unten auf sein Ansprechen, dann sind eindeutig Gefühle für Simon vorhanden. Vielleicht diese Unsicherheit einen Ticken runterschrauben?  , er aber ließ beim ziellosen Scannen der Umgebung ein Zucken erkennen, das seine Augen wie den Arm eines Schallplattenspielers, der hängengeblieben war <-- Schöner Vergleich. , an ihr, Vivian, verweilen ließ, ungläubig, staunend und mit einem Mal voller Neugier. Es gab keinen Zweifel, er hatte sie erkannt und hinter seiner schweißigen Stirn arbeitete es.

In dem Moment wurde er gefragt, ob er Ketchup zu seinen Pommes wollte. Die Kinder liefen zu dem kleinen Spielplatz herüber, nicht mehr als ein Sandkasten, eine Schaukel und eine Rutsche, gleich vor dem Aussichtspunkt auf den Teutoburger Wald. Ein Blick auf einige vertrocknete, kahle Kiefern, die mahnmalgleich hoch über ihren Artgenossen in den Himmel ragten, als flehten sie bei Petrus um Regen.

Die mutmaßliche Mutter vom Nebentisch erhob sich und wollte wohl zur Toilette. Simon saß allein am Tisch, aber als seine Frau <-- schon seltsam, diese Vivien. Zweifelt die Elternschaft von beiden an, aber ist sich sicher, dass die beiden verheiratet sind? Warum nicht "seine mutmaßliche Frau"? außer Sicht war, kam er zu Vivian herüber.

„Wir kennen uns“, sagte er.

Ja, Simon, wir kennen uns“ <-- Interessant, diese Direktheit von ihr. , sie zögerte, ihren eigenen Namen zu nennen. Er schien ja nicht darauf zu kommen. Das war typisch für ihn, und sie spürte einen Anflug von Ärger. <-- Die Ungeduld und Vorverurteilung verwundern mich, in Anbetracht dessen, dass sie sich weiter oben selbst fragt, ob sie sich vertat und er es nicht ist, kurz darauf ist sie sich sicher, dass er es ist. Sie hat aber deutlich mehr Zeit bezüglich des Erinnerns an ihn gehabt, als er. Es ist zwanzig Jahre her. Ihre Sehnsucht, dass er sie wiedererkennt, auch ihren Namen, ist stark, aber ich fände Neugier, ob er sich an sie erinnert, passender als den Ärger.

„Vivian …“

Für einen Moment starrten sie einander an, musterten ihr Gegenüber, schüttelten fast zeitgleich die Köpfe als wollten sie es immer noch nicht glauben. Der Moment zog sich in die Länge.

„Wie geht es dir? Was machst du?“ Sie sprachen wie im Chor und lachten dann, die Spannung löste sich auf. Alles war wieder da: Die Leichtigkeit ihrer Jugendzeit, die Anziehung und zugleich der Freiheitsdrang, der sie davon abhielt, sich zu fest zu binden, die Unternehmungslust, die Lust, neu anzufangen, die Lust als solche. Dachte sie. <-- Das geht mir zu schnell. Zwanzig Jahre sind ein Tag. So wie die rasche Zusammenfasung ihrer Beziehung und des Bruchs weiter oben, sind in ihr Gefühle für Simon warumauchimmer noch da und jetzt hat sie wieder Interesse an ihm.

Aber sie konnten nicht viel reden. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu sortieren und einander anzustarren und dann kamen zeitgleich ihr Salat und seine Frau, und Simon sagte zu ihr, dies sei Vivian und dass er sie aus der Schule kenne, die Antwort war ein Nicken und dann setzten sich beide wieder an ihren Tisch.

Vivian war zurück in ihrer Welt. Der Salat war groß und farbenfroh, sie kannte dieses Restaurant, das unweit von der Autobahn lag und an dem sie schon öfter Station gemacht hatte, und sie hatte sich auf genau diesen Salat gefreut, so einen, für den sie selbst meist nicht die Geduld hatte - so viele Zutaten, so viel Schnippelei. Sie mochte die einsamen Fahrten, die sie beruflich oft zu unternehmen hatte. Sie gaben ihr ein Gefühl von Freiheit. Unbeobachtet sein, immer die Option haben, Pläne zu ändern, Pause machen, wo niemand sie kannte. Manchmal stellte sie sich vor, einfach über ihr Ziel hinauszufahren, irgendwohin, wo niemand nach ihr fragte. <-- Hier wechselt der Text plötzlich zum Salat und Freiheit und es wird kein Gedanke mehr an Simon geäußert. Er wird ausgeblendet und sie denkt über ihren Salat? Bloß, um mir dann im nächsten Absatz den sentimentalen Quatsch zu erklären? Passt für mich leider nicht in dieser abgehackten Form: Ein Absatz über salat und Feiheit, der nächste dann über das Wegschauen und den sentimentalen Quatsch. Das wird sie bestimmt während des Verspeisens des Salats auch gedacht haben. Ich habe den Eindruck, als sei der Test in hermetischen Blöcken konstruiert worden und dadurch leidet der Fluss der Erzählung.

Sie zahlte vorn an der Theke und schaute nicht mehr zu Simon herüber, warum auch, er war glücklich mit seiner Familie, zwanzig Jahre waren eine lange Zeit, nichts galt mehr, was sollte das alles, sentimentaler Quatsch. Sie verließ den Biergarten durch das Gartentor und ging zügig zum Parkplatz. Sie überhörte das Knirschen im Kies, das von hinten an ihr Ohr drang. <-- Ein spannender Satz, der ihre Abkapslung gut einfängt.
Als sie ihre Handtasche im Fußraum des Beifahrersitzes verstaut hatte und starten wollte, öffnete sich die Beifahrertür und blitzschnell stieg Simon ein. Er schloss die Tür hinter sich und ließ sich in den Sitz fallen.

Ein Redeschwall. Lass uns fahren. Nimm mich mit. Das ist nicht meine Familie, das ist ein Date. Das sind nicht meine Kinder, das sind nicht einmal ihre, sie leben nur bei ihr. Sie ist Ersatzmama. Ich eigne mich nicht als Ersatzpapa. Ich will nichts anderes als mit dir fahren, wohin auch immer du unterwegs bist. Bitte fahr einfach los.
<-- Ich hatte Hoffnung, dass die Geschichte nicht ins Kitschige abdriftet, aber hier geht mir die Geschichte bergab und aus dem Leim. Vieles kommt mir zu angestrengt, zu konstruiert, zu unmotiviert vor. Simon hatte auch in dieser situation mit der Ersatzmutter und den Kids keinerlei Verpflichtung, jetzt handelt es sich um ein Date und Simon kommt plötzlich so affektiert und verzwiefelt rüber. Hier verliert mich der Text vollends.

Halt den Mund, Simon. Vivian schrie es fast.

Sie hatte sich vor einiger Zeit mit dem Schweigen auseinandergesetzt. Das Schweigen, das einem Raum gab. Das Schweigen, das man mit anderen Menschen erst teilen konnte, wenn man miteinander sehr vertraut war. Das Schweigen, das verhinderte, dass man Dinge sagte, die man später bereute. Sie hatte schon viele Worte bereut.

Das Schweigen, das sie vorhin am Nachbartisch beobachtet hatte, hatte sie falsch gedeutet. Es war kein vertrautes, sondern ein fremdes Schweigen gewesen. Wie war es denn mit dem Vertrauen zwischen ihnen beiden?
Sie startete den Motor und gab Gas. Sie sagte nicht, wohin sie wollte und was sie vorhatte. Sie unterdrückte jede seiner Äußerungen mit einer unwirschen Handbewegung. Kurz überlegte sie, in welcher Weise sie gerade schwieg. Sie gab sich keine Antwort. Ist Schweigen Reden mit sich selbst, fragte sie sich. Sie fuhr auf die Autobahn, beschleunigte, überholte, wechselte hektisch die Spuren, bremste abrupt, beschleunigte wieder.

Du fährst ja einen Streifen, sagte Simon nach einer Weile. Er klang amüsiert.

Sie spürte einen Anflug von Ärger. Wovor läufst du weg. Was soll das. Hast du kein Zuhause.  

Aber sie sagte nichts. <-- Hier vermisse ich Viviens Direktheit von weiter oben. Die Autobahn war frei, sie fuhren Richtung Norden, sie schwiegen. Sie schwiegen sehr lang. Das Navi forderte sie auf, die Autobahn zu verlassen, sie tat es nicht, er sagte nichts.

Wer wird nach dir fragen, sagte Simon. Es war eine Feststellung, so wie manche Fragen eben Feststellungen sind, und sie antwortete nicht, denn es gab nichts zu antworten.

Bricht man so aus seinem Leben aus, <-- Kommt mir im gesamten Text zu kurz: Ihre Motivation nach einem Ausbruch aus ihrem Leben. Ich verstehe ihre Motivation nicht. In dieser Hinsicht bleibt der Text für mich zu oberflächlich. sagte sie, und auch das war eine Feststellung. Wie ferngesteuert fuhr sie weiter.

Trelleborg? Trelleborg. Erst mal.

In Travemünde hatten sie noch etwas Zeit, bis die Nachtfähre ablegte. Man könnte auch anders fahren, sagte Simon, über Fehmarn.

Ja, könnte man, sagte Vivian.

Sie würde morgen früh telefonieren und ihren Termin in Lübeck absagen. Die Fähre ging täglich. Sie konnte jederzeit zurück. Aber sie dachte das nicht wirklich. Sie dachte eigentlich fast nichts, nur noch: Jetzt schweigen meine Gedanken. Gutes Gefühl.

Läufst du weg? Sie fragte es dann doch.

Ja, nein, vielleicht, war seine Antwort.



Insgesamt ein zerfahrener, in hermetischen Blöcken erzählter, wenig innovativer Text über eine ins banal-kitschige abdriftende zufällige Begegnung mit einer Jugendliebe. Der Text schafft es hier und da die emotionale Spannung zu halten, da ist der Test stark, aber an anderen Stellen bricht diese Spannug zusammen und regeneriert sich nicht mehr bis zum überhasteten Ende. Etwas mehr Länge täte dem Text gut, um die Motivationen der Protagonisten besser herauszuarbeiten.

Im Vergleich mit allen Wettbewerbstexten und da zehn Texte bepunktet werden müssen, bekommt dieser hier: quatre points.


Merci beaucoup
Constantine
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holg
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Bronzenes Licht Der bronzene Roboter


Beitrag25.08.2022 15:30

von holg
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Für das kleine Fernsehspiel ist das Ende dann doch zu viel. Also SAT 1 Sommerfilm, ca. 1998.

Frau begegnet Jugendliebe. Er scheint verheiratet und sie nicht zu erkennen, doch nicht nur das, die vermeintliche Gattin ist keine, die Kinder sind nicht seine und er begehrt sie noch immer so sehr, dass er sich mit ihr nach Trelleborg absetzt. In meinem Kopf hallt es wiederholt Modell Trulleberg. Echt Nussbaum, furniert. Und ich wünschte der Geschichte zumindest ein bisschen dieses Spirits.

Bei aller Stringenz und wohlig gefühlter Alltäglichkeit dieser Sommerszene (wer kennt das nicht, das Waswärewenn der Jugendliebe) und der Mittdreißigertristesse, die sich in Ausbruchsfantasien ergeht, so richtig gut und ungewöhnlich erzählt (und darauf kommt es hier im 10.000 doch vor allem an) ist das leider nicht. Und so schafft es der Text nicht in meine Top Ten. Auch nicht Ja, nein, vielleicht.


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Why so testerical?
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d.frank
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D
Beitrag27.08.2022 22:35

von d.frank
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Das wurde ja dann doch noch ganz interessant. Der Einstieg hat mich mehrere Male abschrecken können. Drüber weg hab ich´s dann ohne viel Mühe zu Ende gelesen. Ein paar schöne Gedanken, ein netter Twist, aber leider nicht besonders ungefügig oder erhellend. Das liest man und dann ist es auch schon wieder weg.

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Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag28.08.2022 20:23

von Heidi
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Das Thema

Der Wunsch nach Freiheit, partnerschaftliche Liebe, Flucht aus dem eigenen Leben? So ganz klar wird es nicht, was genau hier erzählt werden möchte.

Der Titel

Haut mich nicht unbedingt vom Hocker, obwohl mir einleuchtet, warum die Geschichte so genannt wurde. Wenn es um Freiheit und Ausflucht gehen sollte, dann ist das Knirschen, das die Figur Simon hervorruft, das Signal dafür.

Der Anspruch / Die Ungefügigkeit / Die Eigenständigkeit

Der Text lässt sich locker lesen und ist dabei eher gefügig, der Anspruch besteht darin, dass ich mich in die Figur einfühle, ihr Innenleben miterlebe, mehr nicht. Ein wenig verschwindet der Text in der Masse, es fehlt etwas, das aufblitzt nach dem Lesen; etwas, das mich nicht mehr loslässt.

Die Sprache

Hierbei fehlt mir tatsächlich die Grundstimmung. Ist die Protagonistin eher wehmütig oder unzufrieden mit ihrem Leben? Das kommt nicht wirklich raus durch die Sprache und Umsetzung. Ich hätte mir mehr Stellen wie diese hier gewünscht:

Zitat:
Sie hatte sich vor einiger Zeit mit dem Schweigen auseinandergesetzt. Das Schweigen, das einem Raum gab. Das Schweigen, das man mit anderen Menschen erst teilen konnte, wenn man miteinander sehr vertraut war. Das Schweigen, das verhinderte, dass man Dinge sagte, die man später bereute. Sie hatte schon viele Worte bereut.


Hier komme ich Vivian nahe und spüre eine gewisse Tiefgründigkeit und Melancholie.

Der Gesamteindruck

Es ist mir schleierhaft, wie es dazu kommt, dass Simon so mir nichts dir nichts in Vivians Wagen steigt und ohne Gepäck oder sonstwas mit ihr kommt (und das nach zwanzig Jahren). Realistisch ist das nicht, weshalb ich es nur als Metapher lesen kann. Für eine Metapher fühlt es sich aber dann zu haltlos an. Ich komme nicht ganz dahinter, ob allein das Freiheitsgefühl oder der Wunsch danach mit diesem Bild gedeckt werden soll.
Hier möchte ich noch hinzufügen, dass es nicht immer realistisch sein muss in einer Geschichte. Klar könnte der Gute auch einfach einsteigen in den Wagen und die beiden düsen ab, aber dafür ist der Rest nicht abgefahren genug angelegt; da müsste dann schon von Vornherein eine Road-Novel-Stimmung angelegt sein, die aber in diesem Stück entschieden fehlt.

Was ebenfalls seltsam ist, sind die Kinder, die weder seine, noch die seines Dates sind. Die Einleitung mit der Frau und den Kindern an seiner Seite wirkt so, als wäre sie deshalb erschaffen worden, damit später ein Plot-Twist hervorgerufen werden kann.
Dann lässt sich Vivian auch noch darauf ein, den Simon mitzunehmen. Das ist mir ebenfalls unerklärlich. Sie findet sein Gesicht mittlerweile teigig, sein Haar ist dünner, er hat zugenommen und Schweiß auf der Stirn, was ihn auf mich eher unattraktiv wirken lässt. Warum aber nimmt sie ihn mit? Aus Mitleid? Ist sie neugierig? Ich komme hier nicht an sie ran und weiß nicht, was sie darüber denkt, über ihn, über die Situation, was sie fühlt, welche Beweggründe sie für ihr Handeln hat.

Am Ende habe ich das Gefühl, dass die Geschichte viel will – ein großes Thema will sie behandeln. Freiheit und der Weg dorthin vermutlich. Simon soll derjenige sein, der Freiheit gibt, denn er war es in jungen Jahren auch, der Vivian dieses Gefühl gegeben hat. Das alles ist aber viel zu wenig im Fokus, denn erst wird lang und breit in Szene gesetzt, wie Mann, Frau und Kinder am Nachbartisch sitzen und agieren. Das finde ich schade, weil ich hier großes Potenzial erkenne und ich genau dieses Freiheits-Thema sehr schätze.

Es kann auch mal verrückt sein – eben mit einem Kerl, der da plötzlich ins Auto steigt und dann fängt alles neu an. Dafür ist das Ende aber zu realistisch inszeniert. Ich frage mich dann schon, was sie machen, wenn sie in Trelleborg sind. Geht es nur darum, dass er wegläuft? Läuft auch sie weg? Laufen sie zusammen weg? Was ist ihre Motivation? Warum nimmt sie ihn mit? Warum hinterfragt sie sein Handeln nicht?

All diese Fragen kann ich für mich nicht beantworten, was im Grunde nicht immer wichtig ist. Hier wäre es das aber schon, weil eine anfänglich sehr konkrete Geschichte sich in ein schwammiges Gebilde auflöst. Es fällt mir schwer, mich am Ende mit Vivian zu verbinden. Ich finde es schade, dass sich die Tiefgründigkeit, die sich in ihren philosophischen Gedanken rund um das Schweigen verbirgt, nicht weiterentwickelt.

Was den vermuteten Plot-Twist betrifft, wollte ich noch erwähnen: Den bräuchte ich nicht, es würde mir ausreichen, einfach zu lesen, was Vivian umtreibt, was genau die Beziehung zwischen ihr und Simon beinhaltet. Welche Gefühle sie damit verbindet. Und das vertieft. Ich würde gerne eine Innenschau erleben. Diese Date-Frau und diese Kinder sind meiner Meinung nach unwesentlich für die Geschichte.

Die Freiheit im Fokus finde ich allerdings richtig gut als Thema, weshalb der Text ein Pünktchen von mir bekommt.
Ich denke, man könnte aus dieser Geschichte ein prima Road Novel bauen. Vielleicht bräuchte der Text auch einfach mehr Platz zur Entfaltung.
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Globo85
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Beitrag29.08.2022 09:53

von Globo85
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"Verlorene und wiedergefundene Jugendliebe" oder Ab durch die Mitte

Vorgaben:
  • Begegnungen und/oder Abschiede: Simon und Vivian
  • Anbahnende Veränderung: Eine mögliche Beziehung zwischen den beiden.
  • Sommergäste/Nichtbeachteter Schuss: Die Gäste im Ausflugslokal. Der Schuss? Hm, vielleicht das Verharren von V in ihrem Singleleben, der durchgeplanten Karriere ect …
  • Ist das E? Stilistisch vielleicht nicht, auch wenn das routiniert geschrieben ist. Aber thematisch liegt da doch noch einiges unter der Oberfläche, also für mich: ja.

Eindrücke:
Eine anfänglich beinah unspektakuläre Geschichte, die dann doch ordentlich an Fahrt aufnimmt, über zwei Charaktere die irgendwie gefangen sind in ihrem Leben, den Käfig aber vielleicht gar nicht so ganz bewusst wahrnehmen und am Ende (hoffentlich) den Mut finden, gemeinsam auszubrechen. Beim zweiten und dritten Mal entdecke ich dann auch noch "Fleisch" auf den Rippen der Story, wenn durch beiläufige Infos Viviens Leben und ihr Charakter klarer gezeichnet werden (z.B. der Salat, für den sie zu Hause nie Zeit hat) und das hievt den Text am Ende dann auch in meine Top Ten.

Lieblingsstelle:
Zitat:
Sie hatte sich vor einiger Zeit mit dem Schweigen auseinandergesetzt. Das Schweigen, das einem Raum gab. Das Schweigen, das man mit anderen Menschen erst teilen konnte, wenn man miteinander sehr vertraut war.


Fazit:
Mein neunter Platz und damit 2 Punkte.
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F.J.G.
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Beitrag30.08.2022 17:58

von F.J.G.
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Liebes verfassendes Wesen,

eine sehr interessante gesellschaftliche Studie. Flüssig geschrieben und mit reichlich Kopfkino.

Alles in allem: gute Mittelklasse – und damit immerhin 3 Punkte von mir.

Ciao
Kojote


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nicolailevin
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Beitrag01.09.2022 17:44

von nicolailevin
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Eine Frau sieht in einem Biergarten am Nachbartisch einen Mann, begleitet von Frau und Kindern, erkennt in ihm ihre Jugendliebe. Sie sprechen kurz und oberflächlich miteinander, dann geht sie. Im Auto stürzt er zu ihr, will mit ihr abhauen, und gemeinsam fahren sie Richtung Dänemark.

Das ist so eine Geschichte, wo ich meine Kritik nicht dem/der Autor_in, sondern der Figur um die Ohren hauen möchte. Wie kann sie nur? Was soll das denn? Ja, spinnt denn die?

An sich kein schlechtes Signal, wenn man bei so einer kurzen Geschichte so sehr mitfiebert.

Hinterher verflüchtigt sich die Energie doch recht schnell, zum Nachdenken oder Wiederkäuen bleibt wenig vom Text. Das Sinnieren über das Schweigen, ok, die Kunstausstellung, die genau das Thema des Wettbewerbs hat, finde ich doof und übertrieben. Und ich hätte die schön geschriebenen Eindrücke aus dem Biergarten vor die erste Begegnung gezogen, denn ich unterstelle, dass Vivian dann nicht mehr im Hier und Jetzt ihrer Sinneseindrücke ist, sondern weit weg in der Vergangenheit mit Simon.

Am Ende mein Platz sechs mit fünf Punkten.
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Schlomo
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Beitrag01.09.2022 23:19

von Schlomo
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So vertraut und doch ganz anders. Beim Titel - Knirschen im Kies - kroch bereits eine Erinnerung in meinen Hinterkopf. Aber als dann der Satz: "Die den Schuss nicht gehört haben" auftauchte, lief bei mir wieder einmal ein Film im Kopfkino der Erinnerungen ab. Ist zwar schon 35 Jahre her, fühlt sich aber immer noch surreal an. Ich lief in einer Nacht fast 30 km weit mit einem Seesack (Proviant für 4 Wochen), und auf einem Kiesweg hörte ich vor mir ein "Pitsch", ein Knirschen im Kies. Bin sofort in Deckung gesprungen und hab gewartet. Den Schuss selbst hab ich tatsächlich nicht gehört. Als nach einer Stunde immer noch alles ruhig war, bin ich aufgesprungen und weiter gerannt, den Seesack als "mobile Deckung" nutzend ... (Falls jemand fragt: Ich bin nicht getroffen worden.)

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#no13
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Minerva
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Beitrag03.09.2022 19:11

von Minerva
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Daphne Du Maurier hat Folgendes geschrieben:
Die Liebe ist eine alte Geschichte mit immer neuen Fortsetzungen.


Inhalt:
Vivian, auf dem Weg zu einer Ausstellung, macht Halt an einem Biergarten, um einen Salat zu essen. Im Vater der Familie am Nachbartisch erkennt sie plötzlich ihre einstige Jugendliebe Simon wieder. Er kommt zu ihr, da er sie auch erkannt hat, geht dann zurück an den Tisch. Vivian macht sich auf den Weg, um weiterzufahren, da kommt Simon ihr hinterher und will, dass sie ihn mitnimmt. Das sei auch nicht seine Familie, sondern nur ein Date. Zusammen fahren sie schließlich davon und sie will den Termin, für den sie eigentlich unterwegs ist, absagen.

Wertung

Der Übersichtlichkeit halber habe ich die Details zu den Kategorien in den Fußnoten ausführlich aufgeführt. Die Wertung dient dazu, die Geschichte für den Wettbewerb ranken zu können, deswegen wird alles im Detail betrachtet, bitte nimm es nicht als zerpflückende Kritik wahr, sondern als eine intensive Auseinandersetzung.

1 Die Geschichte an sich 3/5
Zitat:
Menschen waren schon so oft sehenden Auges in die Katastrophe marschiert.

Ich glaube, das ist eine Vorausdeutung.
Die Wendung ist unerwartet. Finde ich allerdings schäbig, dass er sein Date so sitzen lässt für die Salatfrau. Und ehrlich gesagt, nehme ich ihm das auch nicht ab.
Die Geschichte an sich ist solide und überraschend, hat aber klar eher was von Unterhaltungsliteratur. Ich finde auch schade, dass ich nicht spüren kann, dass die beiden „zueinander gehören“, das wird behauptet. Ich hätte mir da im Rückblick eher so eine Art starke Leidenschaft (nicht rein sexuell) und ein Nicht-ohne-einander-Können o.ä. … gewünscht, das dann eben zwangsweise durch die Dickköpfigkeit kaputt ging. Und das die gegenseitige Chemie sofort hochschnellt, als sie sich erkennen. Das ist hier für mich nicht glaubwürdig genug, nicht tief genug spürbar. (In dem Fall wären mehr Zeichen hilfreich gewesen). Ich habe auch gar nicht den Eindruck, dass es eine gefühlsmäßige Sache ist, eher so ein Weglaufen. Das wird auch so ausgedrückt, erklärt sich mir aber nicht. Ist es eventuell so, dass Vivian den Punkt verpasst hat, schnell wegzulaufen, als der Simon durch den Kies knirschte? Vielleicht wäre sie mit einer Portion Pommes etwas flotter gewesen, wer weiß?
Oder (alternative Interpretation): Drückt der unten verwendete indirekte Dialog aus, dass sie sich hier einfach eine Fanatsie zusammenspinnt? Dass Simon noch immer bei seiner »Familie« sitzt und sie sich zusammenspinnt, er wäre mitgekommen. Aber auch da fehlt mir die aufrichtige Nachvollziehbarkeit ihres Impulses, jetzt alles hinzuschmeißen.

2 Umsetzung der Themen 3/7
Gäste im Biergarten kann man durchgehen lassen, begeistern tut mich diese Interpretation aber nicht. Begegnung/Abschied sind vorhanden. Eine sich anbahnende Veränderung merke ich leider nicht, nur eine Veränderung, als alle Pläne über den Haufen geworfen werden. Die Geschichte könnte natürlich auch anders spielen, die Vorgaben sind nicht zwingend mit der Geschichte verwoben.

3 E-Faktor 3/5
Ich nehme mal die alternative Interpretation als Grundlage. Dann ist das interessant aufgemacht, spiegelt so ein Lebensgefühl der Frau ohne Partner, Kinder, aber mit Kulturjob. Womöglich gezügelt beim Essen, um die Figur zu halten, zornig über die anderen, die mit dem Auto in den Baumarkt fahren, wenn etwas ist, aber ohne Selbstreflexion, dass sie den Schuss ja wohl auch nicht gehört hat. Sonst wäre sie Bahn gefahren. An vertrockneteten Wäldern sind immer die anderen Schuld, und Simon sieht auch nicht mehr so toll aus. Irgendwie läuft sie einfach immer vor allem davon.
Sollte das nicht absichtlich so gemeint sein, hätte ich weniger E-Punkte vergeben müssen. Aber ich lege es ja immer zu Gunsten aus …
In dem Fall ist das mit dem umfassenden Bild einigermaßen eingefangen, aber mir fehlt da doch was. In dem Fall ist es auch mehrschichtig, nicht direkt zu entschlüsseln.
(Ich glaube auch, es war nicht so gemeint und ich sauge mir das nur aus den Fingern, lol)

4 Lesbarkeit und Handwerk 3/5
Gut lesbar war es auf jeden Fall.
Mit dieser Mischung aus direktem und indirektem Dialog kann ich mich nicht so anfreunden. Ich gehe davon aus, dass es vielleicht irreal ist im letzten Abschnitt, aber dafür ist mir zu wenig vorhanden, um es »herauszulesen«. Deswegen bemängel ich das hier doch mal.
Die Leerzeilen zwischen den Dialogen lassen alles so auseinandergerissen wirken auseinandergerissen. Nicht nur dort, auch an anderen Stellen hätte eine neue Zeile es besser getan.

5 Logik 2/3
Von der Autobahn abfahren, um einen Biergarten aufzusuchen, in dem man dann einen Salat bestellt. Das wirkt für mich gemacht, damit man das mit dem Date glaubt, was vielleicht stimmen soll, und nicht denkt, er lässt seine Familie an der Autobahnraststätte sitzen. Und damit die Kinder mal vom Tisch abhauen.  Und wer hat denn bitte ein Date in einem Biergarten samt Anhang, also zumindest ein erstes Date? Und wenn es eine Lüge war, wie kann Vivian das einfach so glauben? Da ich oben noch eine Alternativinterpretation habe, ziehe ich aber nur 1 Punkt ab.

6 Sorgfalt 1/2
Aufgefallen ist mir:
herüber, in dem Fall 2x, müsste eigentlich »hinüber« heißen, wegen der Perspektive
von mir/ihnen – dorthin = hinüber
von dort – nach hier/zu mir = herüber
2 fehlende Fragezeichen hinter Fragen.

7 Sommerfrischequotient 4/5

Gesamtpunkte: 19/32

PUNKTESPOILER * trommelwirbel *
Hat leider nicht gereicht :,(

Meine liebsten Textstellen:
Zitat:
„Die den Schuss nicht hörten“ – ein reizvolles Thema für eine Ausstellung.
Zitat:
Der Geruch nach Pommes und Schweiß traf es ein bisschen. Es war viel Sommer dabei gewesen, auch Fastfood.
Zitat:
Das Schweigen, das verhinderte, dass man Dinge sagte, die man später bereute. Sie hatte schon viele Worte bereut.

-----------------------
Bewertung – ein Versuch. Ein bisschen Neutralität einbringen, jenseits von: mag ich - nicht mein Ding. Hab ich eigentlich „Ahnung“ von E-Lit? Nee, deswegen brauch ich diese Krücke zum Bewerten. Bei Offenheit der Interpretation einzelner Aspekte, lege ich immer alles zu euren Gunsten aus. Tut mir leid, dass das so ausführlich geworden ist. Jegliche Kritik ist meine persönliche Sichtweise, wenn ihr davon etwas gebrauchen könnt, greift zu, ansonsten lasst euch nicht den Tag vermiesen.

1 Ich will einfach eine gute Geschichte lesen und etwas herauslesen. 5 Punkte

2 a) Sind Sommergäste tatsächlich oder symbolisch vorhanden?
b) Dreht sich die Geschichte um eine oder mehrere Begegnungen und/oder Abschiede?
c) und d) Ist eine Veränderung thematisiert, und ist diese anbahnend, d.h. nicht schon im gesamten Text vollzogen und zudem „spürbar“ über den Textverlauf?
e) Wie relevant ist das zentrale Thema für die Geschichte?
f) Können es nur „Sommergäste“ sein oder könnte die Geschichte auch anderswie spielen?
g) Wie sehr durchdringen diese Themen insgesamt den Text als Ganzes? 7 Punkte

3 a) Künstlerischer Anspruch und Kreativität allgemein, also alles, was sich sinnhaft von einem Genretext abhebt. Hier „reicht“ es nicht, einfach die 2. Person Futur Präsens zu wählen oder möglichst lange und komplizierte Sätze oder Wörter zu verwenden – im Gegenteil, das gibt Abzüge bei Stil und Lesbarkeit, Handwerk muss beherrscht werden. Auch ist eine komplizierte Wortwahl nicht ausschlaggebend, kann auch vollkommen simpel sein. Es kommt immer darauf an … auch auf das, was vielleicht nicht gesagt wird, aber durch den Textaufbau durchwirkt. Die Form, das Gesagte und das Ungesagte müssen Hand-in-Hand gehen, eine Wirkung bewusst erzielt werden (oder zufällig-intuitiv … wer weiß das schon?). [Form und Inhalt oder form follows function] 2 Teilpunkte hier.
b) Ernsthaftigkeit der Themen, wobei Humor dazuzählt, wenn er mir bspw. „die Absurdität“ (des Lebens oder wovon auch immer vermittelt) darstellt; und/oder Sozialkritik und/oder regt mich das zum Nachdenken an? Hat das eine Relevanz? Ein gewisses Maß an Realismus, aber kein absoluter. Bizarr und surreal sind erlaubt. Auch das kann ich nur subjektiv abwägen: ist das Phantastik oder  E-tastik?
c) Mehrschichtigkeit und Ungefügigkeit. Auch hier ist Augenmaß gefordert, ich möchte mir den Inhalt oder die Bedeutung/Interpretation ein wenig erarbeiten müssen (nicht alles erklärt bekommen), aber nicht wie die Sau ins Uhrwerk glotzen. Ob ein Text mich bewusst verwirren will oder ob Thema, Sprache, Aufbau etc. mich nicht richtig erreichen, muss ich subjektiv abwägen.
d) Verwendung einer besonderen Sprache oder Spielerei damit, Verwendung besonderer Bilder oder einer Wirkung durch die gewählte, durchaus auch einfache, Sprache (Intensität).
5 Punkte

4 Kann ich den Text, rein vom Formalen her, gut weglesen, ungeachtet von Pausen zum Nachdenken oder des Anspruchs der Sprache? Wie sieht es mit dem Handwerklichen des Schreibens aus? Wird es beherrscht, wird es gar bewusst gebrochen? 5 Punkte

5 Soweit nachvollziehbar:
a) Logik inhaltlicher Art (in sich logische Geschichte, Reihenfolge),
b) Logik der Details (das namensbestickte Taschentuch von Onkel Günther lag aber vorhin nicht auf dem Liegestuhl sondern auf der Tiefkühltruhe im Keller) – auch: recherchierte Details
c) Logik des menschlichen Handelns (also wie plausibel ist das Verhalten, ungeachtet künstlerischer oder storytechnischer Abweichungen) 3 Punkte

6 Sorgfalt muss sein, bitte nicht mit den Augen rollen, es sind ja nur 2 Punkte. Es gibt immer eine Möglichkeit, die man vorm Absenden wahrnehmen kann: einen Testleser, ausdrucken, sehr langsam lesen, laut vorlesen, mit (kostenloser) Software vorlesen lassen, in ein E-Book umwandeln, um es auf einem anderen Medium zu lesen, Rechtschreibkorrektur der Schreibsoftware, zur Not Gerold (obwohl der nicht der Hellste ist, sorry Gerold). Bei zu vielen Rechtschreib- oder Grammatikfehlern wird etwas abgezogen. Wie gesagt, es sind nur wenige Punkte, aber auch Sorgfalt spielt eine Rolle. Das ist eine Frage der Fairness gegenüber anderen. Ich weiß, du hast viel zu tun und die Muße kam recht spät oder du hast Legasthenie oder ... Nicht bös gemeint. 2 Punkte

7 Onkel Günther würfelt mit seinem 5-seitigen Würfel und dividiert das Ergebnis durch 1… (Nach meinem ersten Bewertungssystem tummelten sich auf einmal mehrere Texte auf den gleichen Rängen, auch mehr Punkte in den Kategorien schafften keine Abhilfe … Leute, das geht nicht, ich muss irgendwie ein Ranking hineinbringen. Onkel Günthers Würfel ist quantenverschränkt mit dem Text und weiß, was richtig ist.) 5 Punkte


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... will alles ganz genau wissen ...
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Nachtvogel
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Wohnort: Münster


Beitrag03.09.2022 23:17

von Nachtvogel
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Richtig interessant wurde es für mich erst, als er zu ihr ins Auto steigt. Ich frage mich, ob das alles vielleicht nur in ihrer Fantasie passiert. Das ist auf jeden Fall gut gemacht, da ist der Text nicht eindeutig (im positiven Sinn!). Die Geschichte ist ganz nett, aber andere haben mich etwas mehr überzeugt.

Für Punkte hat es leider nicht gereicht.
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MoL
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Das bronzene Stundenglas


Beitrag04.09.2022 16:17

von MoL
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So schnell kann sich alles ändern... Schön beobachtet, das Zwischenmenschliche in einer solchen Situation. Von mir bekommt der Text daher einen Punkt. Smile

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gemeinsam mit Leveret Pale:
"Menschen und andere seltsame Wesen"
----------------------------------
Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021.
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