18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> DSFo Wettbewerbe -> Zehntausend
Vollständige Gästeliste des Grand Hotels ›Palais Esplanade‹ vom 22. August 2022


 
 
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
sleepless_lives
Geschlecht:männlichSchall und Wahn

Administrator
Alter: 58
Beiträge: 6477
Wohnort: München
DSFo-Sponsor Pokapro und Lezepo 2014
Pokapro VI Weltrettung in Gold


Beitrag11.08.2022 19:00
Vollständige Gästeliste des Grand Hotels ›Palais Esplanade‹ vom 22. August 2022
von sleepless_lives
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Da war Rita, Mitte Dreißig, die Lippen kirschrot geschminkt, brünettes Haar, khakifarbenes Sommerkleid, die jedes Mal »Buuumm« sagte und die Augen Comic-ähnlich weit aufriss, wenn jemand mit dem Liegestuhl umfiel, was eigentlich ständig der Fall war. Die Liegestühle, Modell Lascivitis, standen vorne auf der Sonnenterrasse, nahe des Geländers, dort wo früher der Sandstrand begonnen hatte und jetzt das Meer strudelte und schwappte. Hergestellt von der Firma ›Habinscher und Sohn‹, einem Traditionsunternehmen aus dem Berchtesgadener Land, beruhte das Modell Lascivitis auf einer Erfindung des stellvertretenden Geschäftsführers Paul Habinscher, dem Sohn, einer Erfindung, die das Aufklappen und Aufstellen des Stuhls mit einer Hand ermöglichte (Patent № EP 0 424 242 B). Die Liegestuhl-Antwort auf Hakuins Sekishu Zen-Kōan, wie Paul gerne sagte.
Er sollte die Flut der Beschwerden per Post, per Email, per Telefon, aus dem fahrenden Auto über die Straße gerufen, die 1,2 Sterne-Durchschnittsbewertung (41k Bewertungen) und die vernichtenden Kommentare1 nicht mehr erleben. Kurz nach Produktionsbeginn kam Paul, ein passionierter Kletterer, bei einem Bergunfall ums Leben. Schmelzendes Eis an den Zwillingsgipfeln Pollux und Castor hatte Geröll freigegeben und auf der eigentlich klassischen Route zu unerwartetem Steinschlag geführt. Seinem früher oft, wenn auch scherzhaft geäußerten Wunsch entsprechend wurde Paul auf dem Friedhof von Zermatt beerdigt. Allerdings nicht auf dem kleinen alten direkt an der Pfarrkirche St. Mauritius, dem mit dem Grab für den unbekannten Bergsteiger, sondern ein paar Schritte weiter auf dem neueren unten am Fluss, der Mattervispa, die dort in ein eng gemauertes und betoniertes Becken gefasst gegen ihre Begrenzungen tobte und wütete.
Aufgrund eines Fehlers, für dessen Ursache sich die Hinterbliebenen und die Zermatter Behörden gegenseitig beschuldigten, wurde jedoch nur Pauls Rucksack (schwarz, The North Face) beigesetzt, während der Leichnam offiziell ›abhanden gekommen‹ war. Gerüchten zufolge, sicher falsch, war er von einem Liegestuhl-geschädigten Hater an eine Wurstfabrik in Gütersloh geschickt worden. Johannes 6:562, das der Pfarrer zitierte, schien eine völlig neue Bedeutung anzunehmen. Nicht wenige in der anwesenden Verwandtschaft fühlten sich in unangenehmer Weise an Pauls Onkel Gabriel erinnert, Besitzer einer Straßenbaufirma und in der Lokalpresse von Bad Dürkheim3 oft als ›König der Waldautobahn‹ bezeichnet, während er sich selbst jedoch lieber als ›Asphalt Heiland‹ tituliert hörte. Er hatte jahrelang den regionalen Politikern in der Ohren gelegen mit seiner Idee, eine neue Autobahn von Neustadt bis ins französische Bitche zu bauen, mitten durch den Pfälzerwald. Bevor es dazu kam, verschwand er spurlos auf einem Spaziergang in der Nähe der Schloss- und Festungsruine Hardenburg. Eine Ruinen-Besucherin aus Hameln gab zu Protokoll, sie habe zwar einen Schuss gehört, sich aber nichts dabei gedacht, es habe sich wie ein – Zitat –  ›Feuerwehrkörper‹ (sic!) angehört.
Es hieß, Onkel Gabriel habe sich aus unerfindlichen Gründen und in nicht nachvollziehbarer Weise mit der New Yorker Mafia angelegt, es ging irgendwie um Beton. Wie zur Bestätigung wurde er Monate später mit einem Betonklotz an den Beinen im ausgetrockneten Rhein-Flussbett gefunden. Man muss wissen, dass ein Viertel Kubikmeter Festbeton etwa 612 Kilogramm wiegt und aus Sand und Kies (13/16 Gewichtsanteile), Zement als hydraulisches Bindemittel (2/16) und Wasser4 (1/16) hergestellt wird. Im Grand Hotel ›Palais Esplanade‹ war der ubiquitäre Baustoff erst vor ein paar Jahren das erste Mal zum Einsatz gekommen, in der Uferbefestigung, die die Sonnenterrasse gegen die gierigen Fangarme des Ozeans verteidigte. Das Hotel selbst war vor gut hundertfünfzig Jahren aus Klinker und Holz gebaut worden und herrschte triumphierend über die sandgelben und Strandhafer-dunkelgrünen Dünen und das rückseitig gelegene Marschland, das sich weigerte, auf eine Farbe festgelegt zu werden. Das Hotel hatte bessere Tage gesehen, die Treppen waren abgetreten, die Korridore rochen wie alte Wäsche und die Rohre sangen von verlorenen Träumen, wenn man den Wasserhahn aufdrehte. Legte man sich im Erdgeschoss auf den Boden und lauschte, was freilich nicht viele taten, konnte man ein Gurgeln und Glucksen vernehmen, beredtes Zeugnis davon, dass das Meer schon näher war, als viele dachten. Doch nach außen strahlte das Grand Hotel in der weißen Perfektion eines neuen Anstrichs vom letzten Jahr, weiß, wie das Segel eines Schiffes, bereit für die große Fahrt in die Weiten der See, weiß, wie die Farbe des Windes selbst.
Man hätte es mit einer alten, überschminkten Frau vergleichen können, aber Denis, Ende Dreißig, schwarzes Haar, cremefarbenes Sommerhemd und -hose, und wie Rita hinten auf der Terrasse direkt an der Fensterfront und auf einem ordentlichen Rattanstuhl sitzend, gähnte demonstrativ.
»Eher mit einem altem Mann in zu kurzer Badehose«, sagte er und trank einen großen Schluck von seinen Aperol Spritz, »dem der Sack aus dem Hosenbein rutscht.«
Rita lachte und Daisy, Anfang Dreißig, rotes Haar, Sommersprossen, auf der anderen Seite neben Rita, dachte an alles Mögliche und errötete dabei. Daisy verliebte sich dauernd in jemanden in ihrem großen Freundeskreis, einen der vielen hübschen Jungs, die sie ‚Freunde‘ nannte, und konnte sich nur immer nicht mehr erinnern, in wen. Während andere beim Zupfen von Blütenblättern zwischen geliebt und nicht geliebt hin- und hergeworfen wurden, zählte Daisy mit Gottes eigenem Ernst im Gesicht die Namen von Männern ab.
»Ist heute nicht der Zwanzigste, wollten da nicht Joe und Sebastian ankommen?«
»Richtig. Wo bleiben die denn«, sagte Rita.
»Hab mir extra ein neues Top und Shorts gekauft. Hat was, oder?«
»Ich dachte, du hasst Blau.«
»Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher«, entgegnete Daisy und zog ihr Top gerade, das immer wieder zusammen mit ihr selbst im Stuhl verrutschte. »Sun Tsu – Die Kunst des Krieges.«
Denis schüttelte den Kopf.
»Al Pacino in ›Der Pate‹.«
»Wirklich«, sagte Rita und folgte mit dem Blick einer Möwe, die gerade noch ein Kind des Himmels sich im nächsten Moment mit einem Schrei und einem fallenden Engel nicht unähnlich auf das Waffeleis eines auf dem Geländer sitzenden, älteren Gastes in einer kurzen Badehose stürzte. Er verlor im Erschrecken den Halt und fiel hintenüber in die See, nicht ohne Kampf jedoch, mit einer ruckartigen Gegenbewegung des rechten Beins versuchend, das Gleichgewicht doch noch zu behalten. Vergeblich natürlich, man musste nur die Daten anschauen und wusste, der Fall war unvermeidbar, und nur eine seiner Flipflop-Sandalen entkam, machte sich fast wie die Möwe davon, ohne Eis allerdings, und auf einen parabelförmigen Flug zu einem Teller Pommes mit extra viel Mayo. War es ein ›Platsch‹ oder war es ein ›Plitsch‹, mit dem die Sandale in der Mayonnaise landete? Rita war sich nicht sicher. Um der sich gleichmäßig konzentrisch verteilenden, luftgeborenen Mayonnaise zu entgehen, lehnte sich ein Mädchen in einem Death-Metal-T-Shirt auf ihrem Lascivitis-Liegestuhl nur einen Hauch zur Seite und der Stuhl kippte nach links. Das Death-Metal-Mädchen fiel gegen ihren nächsten Habinscher-bestuhlten Nachbarn, der ebenso nach links kippte, wie auch seine nächste Nachbarin und gleich sorgsam aufgestellten Domino-Steinen krachte die ganze vordere Liegestuhlreihe zu Boden.
»So viel zur Avantgarde«, sagte Denis.   
Rita blieb der Mund offen stehen, ein kirschrotes Oval der Verblüffung. Und uraufeinmal hatte sie die Epiphanie, dass die Antwort auf das Sekishu Kōan, die Frage nach dem Geräusch des Klatschens mit einer Hand, ein Slapstick war, das Original, ein einfaches Gerät aus zwei Brettern, die gegeneinander schlugen, um das Geräusch einer Ohrfeige im Film zu simulieren. Es schien eine tiefere Bedeutung in ihrer neuen Erkenntnis zu liegen; etwas Profundes, dachte Rita, etwas, das so vieles erklären würde, aber sie wusste weder, was das sein könnte, noch was das erklären würde.   
Daisy bemerkte Joe und Sebastian an der Terrassentür, winkte, und die beiden kamen herüber, zogen zwei Stühle heran und setzten sich Denis und Rita gegenüber.
»Ich sitze eigentlich lieber in Fahrtrichtung«, sagte Joe.
»Fahrtrichtung?«, fragte Rita und versuchte, Daisy zu ignorieren, die versteckt mit dem Zeigefinger der rechten Hand mal auf Joe, mal auf Sebastian deutete, leichte Verzweiflung im Gesicht, während sie mit der linken Hand einen Träger ihres Tops adjustierte.
»Sieht aus wie im Zug, wie ihr da sitzt«, sagte Joe und drehte kurz den Kopf Richtung Meer. »Der kann nur dorthin fahren.«
»Wir steuern auf das Ende der Schienen zu?«, fragte Denis.
»Sieht so aus. Macht der Gewohnheit, kurzfristige Prioritäten.«
»Der Aperol Spritz schmeckt zu gut«, sagte Denis.
»Ich sitze gerade so gemütlich«, sagte Rita.
»Ich kann hier im Moment nicht weg«, sagte Daisy.
»Ich bin gerade erst angekommen«, sagte Sebastian.
»Ich habe nur analysiert«, sagte Joe und drehte sich mit dem ganzen Oberkörper um, als wollte er sehen, wo der Zug entgleisen würde.
Daisy sagte: »We are all just prisoners here, of our own device.«
»Hotel California«, meinte Denis. »Sehr treffend.«
Der nicht existierende Zug pfiff, mehrfach.
»Buuumm«, sagte Rita.
Am 21. August 2022 wurde das Grand Hotel ›Palais Esplanade‹ aufgrund struktureller Sicherheitsmängel permanent geschlossen.
Beginn Liste.




_________

1 Etwa:
›Katastrophe‹ - Z.
›Sollte es in der Hölle Sitzmöglichkeiten geben, sind es Stühle von Habinscher‹ - Sonja19
›Jetzt wissen wir, wo das Wort Stuhlgang herkommt‹ – arGus
2 ›Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm‹
3 Überregional bekannt durch den Bad Dürkheimer Wurstmarkt
4 Rita hatte irgendwo mal gelesen, dass für Beton Meteorwasser verwendet wurde, und konnte sich nicht vorstellen, dass es davon ausreichend gab für die weltweit benötigten Betonmengen. Wie viele Meteore fielen denn schon auf die Erde.

Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
V.K.B.
Geschlecht:männlich[Error C7: not in list]

Alter: 51
Beiträge: 6155
Wohnort: Nullraum
Das goldene Rampenlicht Das silberne Boot
Goldenes Licht Weltrettung in Silber


Beitrag21.08.2022 20:39

von V.K.B.
Antworten mit Zitat

Hallo Inky,

so also müsste sich Monty Python anfühlen, wäre das ein E-Lteraturteam gewesen. Vielleicht noch ein Hauch Douglas Adams, wegen der Fußnoten. Schade, dass du das nicht ganz durch den Text gezogen hast, die Fußnoten beziehen sich allesamt nur auf den ersten Teil, und die letzte endet dann mit einem Flachwitz. Etwas entäsuchend, fand ich.

Der Erzähler muss von Beruf Erklärbär sein, nur so lässt sich das konsequente Abschweifen zu allem möglichen erklären. Am Anfang fand ich das noch sehr witzig, aber dann stellten sich doch recht schnell Ermüdungserscheinungen beim Lesen ein. Dafür musste ich dann aber beim letzten Satz wieder laut lachen.

Unklar bleibt, für was der Liegestuhlfabrikant jetzt der Herold (Harbinger?) sein soll. Die eklatanten Sicherheitsmängel des Hotels?

Was bleibt jetzt unter dem Strich übrig?
E-Lit: Von der Art und Weise, wie das geschrieben ist, sicherlich. Inhaltlich eher nicht.
Sperrig: Ja, durchaus. Aber auch anstrengend und letztendlich ermüdend.
Thema Sommergäste: Nun ja, sie kommen vor.
Begegnungen/Abschiede: dito. Eine wirklich tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik sehe ich nicht.
ungehörter Schuss: schwierig. Vielleicht, dass das Hotel so unsicher ist und da mal Leute vom Balkon fallen, ohne dass es jemanden groß zu stören scheint?
Hintergrund Veränderung: Das Hotel wird geschlossen?
Persönliches Gefallen: Ich klatsche Beifall, aber nur mit einer Hand. Habe die Geschichte gerne gelesen und mich an den ganzen Anspielungen erfreut, manchmal musste ich sogar lachen. Aber letztendlich fehlt mir irgendwas, das den Text zu einer wirklich anspruchsvollen Geschichte machen würde. Von daher steht also vielleicht doch der U-Aspekt mehr im Vordergrund. Oberflächlich jedenfalls. Natürlich könnte man das ganze Hotel und seine Gäste als Metapher für unsere Welt sehen. Wir wissen, dass der Zug irgendwann entgleisen wird, aber sind zu bequem, etwas dagegen zu übernehmen. Und irgendwann wird auch unser Hotel Erde permanent geschlossen werden, jedenfalls für uns Zivilisationsgäste. Oder interpretiere ich da jetzt zuviel hinein?

Fünf Punkte gibt’s von mir.


_________________
Hang the cosmic muse!

Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills …
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
sleepless_lives
Geschlecht:männlichSchall und Wahn

Administrator
Alter: 58
Beiträge: 6477
Wohnort: München
DSFo-Sponsor Pokapro und Lezepo 2014
Pokapro VI Weltrettung in Gold


Beitrag22.08.2022 23:26

von sleepless_lives
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Text, wir kennen uns, wir waren mal zusammen. Es waren nicht mehr als neun Tage und wir haben viel miteinander gestritten, uns aber schließlich zusammengerauft. Und dann bist du einfach gegangen. Aber schön, dich hier zu treffen. Du siehst gut aus, wenn ich das so sagen darf, ohne gleich wieder einen Streit anzufangen. Ein andermal mehr, ich muss jetzt erst mal weiter. Ciao.

_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
dürüm
Wolf im Negligé

Alter: 46
Beiträge: 966
Wohnort: Cape Town
Das bronzene Eis am Stiel Das Bronzene Pfand
Der bronzene Spiegel - Lyrik Podcast-Sonderpreis
Vorlesbar I


Beitrag23.08.2022 15:18

von dürüm
Antworten mit Zitat

Hallo Sleepless (wenn Du nicht Sleepless bist, dann bist Du sein Doppelgänger)

Ich verwette Onkel Günthers Keller und Hoppsi, dass Sleepless diesen Text geschrieben hat.

Ganz großes Kino, mit Abstand der beste Text im Wettbewerb.

Absurd. Komisch. Vielschichtig, Wissenschaftliche Fußnoten, Griechische Götter. North Face. Verschwundene Leichen.
Meine Güte, wo bekommst Du diese Ideen her.

Diese Sprachgewalt, diese Wortschöpfungen, so genial.

Danke für diesen Text!

Douze Points

In Ehrfurcht erstarrt! Darauf einen Aperol Spritz!

Kerem


_________________
Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.
(Oscar Wilde)
Der Willige wird vom Schicksal geführt. Der Störrische geschleift.
(Seneca)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
thepriest
Geschlecht:männlichLeseratte

Alter: 53
Beiträge: 100
Wohnort: Schweiz


Beitrag23.08.2022 16:08

von thepriest
Antworten mit Zitat

Der Text nimmt mich mit auf eine Reise. Von der Hotelterrasse nach Zermatt und schließlich in den Pfälzer Wald, wo ich gerne etwas verweilt wäre. Doch bereits hetze ich weiter nach New York, wo ich Gott sei Dank der Exekution entgehe. Zurück auf der Terrasse mache ich üble Bekanntschaft mit der geringen Standfestigkeit eines Liegestuhls, nachdem ich mich bereits in den Fußnoten des Textes verheddert habe. Als das Hotel am Ende geschlossen wird, weine ich ihm keine all zu große Träne nach. Auf den Aperol Spritz kann ich getrost verzichten.

Es sind weniger die großen Linien, die hier hängen bleiben, als vielmehr die eine oder andere witzige Anekdote, die sich wie auf einer etwas eigenwillig zusammengestellten Perlenkette aneinanderreihen.


_________________
"Don't get up gentlemen, I'm only passing through"
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag25.08.2022 09:59

von Constantine
Antworten mit Zitat

---
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag25.08.2022 10:33
Re: Vollständige Gästeliste des Grand Hotels ›Palais Esplanade‹ vom 22. August 2022
von Constantine
Antworten mit Zitat

Bonjour Señora Incógnita

Anmerkungen im Text und weiter unten der Gesamteindruck:
Señora Incógnita hat Folgendes geschrieben:
Da war Rita, Mitte Dreißig, die Lippen kirschrot geschminkt, brünettes Haar, khakifarbenes Sommerkleid, die jedes Mal »Buuumm« sagte und die Augen Comic-ähnlich weit aufriss, wenn jemand mit dem Liegestuhl umfiel, was eigentlich ständig der Fall war. Die Liegestühle, Modell Lascivitis, standen vorne auf der Sonnenterrasse, nahe des Geländers, dort wo früher der Sandstrand begonnen hatte und jetzt das Meer strudelte und schwappte. Hergestellt von der Firma ›Habinscher und Sohn‹, einem Traditionsunternehmen aus dem Berchtesgadener Land, beruhte das Modell Lascivitis auf einer Erfindung des stellvertretenden GeschäftsführersPaul Habinscher, dem Sohn, einer Erfindung, die das Aufklappen und Aufstellen des Stuhls mit einer Hand ermöglichte (Patent № EP 0 424 242 B). Die Liegestuhl-Antwort auf Hakuins Sekishu Zen-Kōan, wie Paul gerne sagte.
Er sollte die Flut der Beschwerden per Post, per Email, per Telefon, aus dem fahrenden Auto über die Straße gerufen, die 1,2 Sterne-Durchschnittsbewertung (41k Bewertungen) und die vernichtenden Kommentare1 nicht mehr erleben. Kurz nach Produktionsbeginn kam Paul, ein passionierter Kletterer, bei einem Bergunfall ums Leben. Schmelzendes Eis an den Zwillingsgipfeln Pollux und Castor hatte Geröll freigegeben und auf der eigentlich klassischen Route zu unerwartetem Steinschlag geführt. Seinem früher oft, wenn auch scherzhaft geäußerten Wunsch entsprechend wurde Paul auf dem Friedhof von Zermatt beerdigt. Allerdings nicht auf dem kleinen alten direkt an der Pfarrkirche St. Mauritius, dem mit dem Grab für den unbekannten Bergsteiger, sondern ein paar Schritte weiter auf dem neueren unten am Fluss, der Mattervispa, die dort in ein eng gemauertes und betoniertes Becken gefasst gegen ihre Begrenzungen tobte und wütete.
Aufgrund eines Fehlers, für dessen Ursache sich die Hinterbliebenen und die Zermatter Behörden gegenseitig beschuldigten, wurde jedoch nur Pauls Rucksack (schwarz, The North Face) beigesetzt, während der Leichnam offiziell ›abhanden gekommen‹ war. Gerüchten zufolge, sicher falsch, war er von einem Liegestuhl-geschädigten Hater an eine Wurstfabrik in Gütersloh geschickt worden. Johannes 6:562, das der Pfarrer zitierte, schien eine völlig neue Bedeutung anzunehmen.
Nicht wenige in der anwesenden Verwandtschaft fühlten sich in unangenehmer Weise an Pauls Onkel Gabriel erinnert, Besitzer einer Straßenbaufirma und in der Lokalpresse von Bad Dürkheim3 oft als ›König der Waldautobahn‹ bezeichnet, während er sich selbst jedoch lieber als ›Asphalt Heiland‹ tituliert hörte. Er hatte jahrelang den regionalen Politikern in der Ohren gelegen mit seiner Idee, eine neue Autobahn von Neustadt bis ins französische Bitche zu bauen, mitten durch den Pfälzerwald. Bevor es dazu kam, verschwand er spurlos auf einem Spaziergang in der Nähe der Schloss- und Festungsruine Hardenburg. Eine Ruinen-Besucherin aus Hameln gab zu Protokoll, sie habe zwar einen Schuss gehört, sich aber nichts dabei gedacht, es habe sich wie ein – Zitat –  ›Feuerwehrkörper‹ (sic!) angehört.
Es hieß, Onkel Gabriel habe sich aus unerfindlichen Gründen und in nicht nachvollziehbarer Weise mit der New Yorker Mafia angelegt, es ging irgendwie um Beton. Wie zur Bestätigung wurde er Monate später mit einem Betonklotz an den Beinen im ausgetrockneten Rhein-Flussbett gefunden.
Man muss wissen, dass ein Viertel Kubikmeter Festbeton etwa 612 Kilogramm wiegt und aus Sand und Kies (13/16 Gewichtsanteile), Zement als hydraulisches Bindemittel (2/16) und Wasser4 (1/16) hergestellt wird. Im Grand Hotel ›Palais Esplanade‹ war der ubiquitäre Baustoff erst vor ein paar Jahren das erste Mal zum Einsatz gekommen, in der Uferbefestigung, die die Sonnenterrasse gegen die gierigen Fangarme des Ozeans verteidigte. Das Hotel selbst war vor gut hundertfünfzig Jahren aus Klinker und Holz gebaut worden und herrschte triumphierend über die sandgelben und Strandhafer-dunkelgrünen Dünen und das rückseitig gelegene Marschland, das sich weigerte, auf eine Farbe festgelegt zu werden. Das Hotel hatte bessere Tage gesehen, die Treppen waren abgetreten, die Korridore rochen wie alte Wäsche und die Rohre sangen von verlorenen Träumen, wenn man den Wasserhahn aufdrehte. Legte man sich im Erdgeschoss auf den Boden und lauschte, was freilich nicht viele taten, konnte man ein Gurgeln und Glucksen vernehmen, beredtes Zeugnis davon, dass das Meer schon näher war, als viele dachten. Doch nach außen strahlte das Grand Hotel in der weißen Perfektion eines neuen Anstrichs vom letzten Jahr, weiß, wie das Segel eines Schiffes, bereit für die große Fahrt in die Weiten der See, weiß, wie die Farbe des Windes selbst.
Man hätte es mit einer alten, überschminkten Frau vergleichen können
, aber Denis, Ende Dreißig, schwarzes Haar, cremefarbenes Sommerhemd und -hose, und wie Rita hinten auf der Terrasse direkt an der Fensterfront und auf einem ordentlichen Rattanstuhl sitzend, gähnte demonstrativ.
»Eher mit einem altem Mann in zu kurzer Badehose«, sagte er und trank einen großen Schluck von seinen Aperol Spritz, »dem der Sack aus dem Hosenbein rutscht.«
Rita lachte und Daisy, Anfang Dreißig, rotes Haar, Sommersprossen, auf der anderen Seite neben Rita, dachte an alles Mögliche und errötete dabei. Daisy verliebte sich dauernd in jemanden in ihrem großen Freundeskreis, einen der vielen hübschen Jungs, die sie ‚Freunde‘ nannte, und konnte sich nur immer nicht mehr erinnern, in wen. Während andere beim Zupfen von Blütenblättern zwischen geliebt und nicht geliebt hin- und hergeworfen wurden, zählte Daisy mit Gottes eigenem Ernst im Gesicht die Namen von Männern ab.
»Ist heute nicht der Zwanzigste, wollten da nicht Joe und Sebastian ankommen?«
»Richtig. Wo bleiben die denn«, sagte Rita.
»Hab mir extra ein neues Top und Shorts gekauft. Hat was, oder?«
»Ich dachte, du hasst Blau.«
»Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher«, entgegnete Daisy und zog ihr Top gerade, das immer wieder zusammen mit ihr selbst im Stuhl verrutschte. »Sun Tsu – Die Kunst des Krieges.«
Denis schüttelte den Kopf.
»Al Pacino in ›Der Pate‹.«
»Wirklich«, sagte Rita
und folgte mit dem Blick einer Möwe, die gerade noch ein Kind des Himmels sich im nächsten Moment mit einem Schrei und einem fallenden Engel nicht unähnlich auf das Waffeleis eines auf dem Geländer sitzenden, älteren Gastes in einer kurzen Badehose stürzte. Er verlor im Erschrecken den Halt und fiel hintenüber in die See, nicht ohne Kampf jedoch, mit einer ruckartigen Gegenbewegung des rechten Beins versuchend, das Gleichgewicht doch noch zu behalten. Vergeblich natürlich, man musste nur die Daten anschauen und wusste, der Fall war unvermeidbar, und nur eine seiner Flipflop-Sandalen entkam, machte sich fast wie die Möwe davon, ohne Eis allerdings, und auf einen parabelförmigen Flug zu einem Teller Pommes mit extra viel Mayo. War es ein ›Platsch‹ oder war es ein ›Plitsch‹, mit dem die Sandale in der Mayonnaise landete? Rita war sich nicht sicher. Um der sich gleichmäßig konzentrisch verteilenden, luftgeborenen Mayonnaise zu entgehen, lehnte sich ein Mädchen in einem Death-Metal-T-Shirt auf ihrem Lascivitis-Liegestuhl nur einen Hauch zur Seite und der Stuhl kippte nach links. Das Death-Metal-Mädchen fiel gegen ihren nächsten Habinscher-bestuhlten Nachbarn, der ebenso nach links kippte, wie auch seine nächste Nachbarin und gleich sorgsam aufgestellten Domino-Steinen krachte die ganze vordere Liegestuhlreihe zu Boden.
»So viel zur Avantgarde«, sagte Denis.   
Rita blieb der Mund offen stehen, ein kirschrotes Oval der Verblüffung. Und uraufeinmal hatte sie die Epiphanie, dass die Antwort auf das Sekishu Kōan, die Frage nach dem Geräusch des Klatschens mit einer Hand, ein Slapstick war, das Original, ein einfaches Gerät aus zwei Brettern, die gegeneinander schlugen, um das Geräusch einer Ohrfeige im Film zu simulieren. Es schien eine tiefere Bedeutung in ihrer neuen Erkenntnis zu liegen; etwas Profundes, dachte Rita, etwas, das so vieles erklären würde, aber sie wusste weder, was das sein könnte, noch was das erklären würde.   
Daisy bemerkte Joe und Sebastian an der Terrassentür, winkte, und die beiden kamen herüber, zogen zwei Stühle heran und setzten sich Denis und Rita gegenüber.
»Ich sitze eigentlich lieber in Fahrtrichtung«, sagte Joe.
»Fahrtrichtung?«, fragte Rita und versuchte, Daisy zu ignorieren, die versteckt mit dem Zeigefinger der rechten Hand mal auf Joe, mal auf Sebastian deutete, leichte Verzweiflung im Gesicht, während sie mit der linken Hand einen Träger ihres Tops adjustierte.
»Sieht aus wie im Zug, wie ihr da sitzt«, sagte Joe und drehte kurz den Kopf Richtung Meer. »Der kann nur dorthin fahren.«
»Wir steuern auf das Ende der Schienen zu?«, fragte Denis.
»Sieht so aus. Macht der Gewohnheit, kurzfristige Prioritäten.«
»Der Aperol Spritz schmeckt zu gut«, sagte Denis.
»Ich sitze gerade so gemütlich«, sagte Rita.
»Ich kann hier im Moment nicht weg«, sagte Daisy.
»Ich bin gerade erst angekommen«, sagte Sebastian.
»Ich habe nur analysiert«, sagte Joe und drehte sich mit dem ganzen Oberkörper um, als wollte er sehen, wo der Zug entgleisen würde.
Daisy sagte: »We are all just prisoners here, of our own device.«
»Hotel California«, meinte Denis. »Sehr treffend.«
Der nicht existierende Zug pfiff, mehrfach.
»Buuumm«, sagte Rita.

Am 21. August 2022 wurde das Grand Hotel ›Palais Esplanade‹ aufgrund struktureller Sicherheitsmängel permanent geschlossen.
Beginn Liste.




_________

1 Etwa:
›Katastrophe‹ - Z.
›Sollte es in der Hölle Sitzmöglichkeiten geben, sind es Stühle von Habinscher‹ - Sonja19
›Jetzt wissen wir, wo das Wort Stuhlgang herkommt‹ – arGus
2 ›Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm‹
3 Überregional bekannt durch den Bad Dürkheimer Wurstmarkt
4 Rita hatte irgendwo mal gelesen, dass für Beton Meteorwasser verwendet wurde, und konnte sich nicht vorstellen, dass es davon ausreichend gab für die weltweit benötigten Betonmengen. Wie viele Meteore fielen denn schon auf die Erde.



Auffällig ist, dass mir der Titel eine vollständige Gästeliste anbietet, sich aber nicht daran hält, sondern zu Beginn uninteressant-sprunghaft einausschweift ins Liegestuhl-Modell, dessen Hersteller und dessen Onkel, um mit einigen Hintergrundinfos zum Hotel aufzuwarten, um dann den ersten Satz aufgreifend wieder zu den Gästen zurückzukehren, mir aber einige Gäste namentlich und von den formellen Infos vorenthält:
    sitzenden, älteren Gastes
    ein Mädchen in einem Death-Metal-T-Shirt
    ihren nächsten Habinscher-bestuhlten Nachbarn
    seine nächste Nachbarin

Hierzu fehlen Infos zu diesen Gästen, z.B. Name, Aussehen, was ist auf dem T-Shirt des Mädchens drauf...

Der Text kommt anfangs sehr berichtend daher, erinnert mich fast vom Duktus her an die Nachrichten, Zeitungsausschnitte und empfinde ich als eine schlechte Wahl. Welcher Effekt wurde hiermit erhofft? Damit der Text in den Wettbewerb passt? Ab ca. der Mitte treten Formulierungen im Text auf, wo der formelle Stil hier und da in einen poetischen/umgangssprachlichen Duktus kurz springt (beispielhaft im Text fett markiert):
    in der Ohren gelegen
    gegen die gierigen Fangarme des Ozeans
    wie das Segel eines Schiffes, bereit für die große Fahrt in die Weiten der See, weiß, wie die Farbe des Windes selbst
    einer Möwe, die gerade noch ein Kind des Himmels sich im nächsten Moment mit einem Schrei und einem fallenden Engel

Passt mir vom Erzähler leider überhaupt nicht. Auch hier die Frage: Wozu? Damit der Text eine Wirkung bekommt, die der banale Inhalt um die farblosen Gäste nicht bietet?

Was ich leider auch schade finde: Der Text vergeudet anfangs sehr viel Zeit und Infos z.B. über Liegestühle, Patent-Nr., Rucksackmodell, Tod und Beerdigung des Liegestuhlherstellers, Hintergründe über dessen Onkel und Ermordung, aber beim eigentlich roten Fagen, den Gästen des Hotels, bleibt der Erzähler sehr oberflächlich und verliert sich in kurzen Erwähnungen, Film- und Song-Referenzen und eher Stereotypen, als wisse der Erzähler nichts mit den Charakteren anzufangen.

Insgesamt, leider ein recht dröger, reizloser Beitrag, der nicht in mir widerhallt, wenig Interesse erzeugt und mich aufgrund eines für mich inkonsistenten Aufbaus und Erzählens ratlos zurücklässt, mit der Frage, wohin wollte der Text, wenn ihm nicht einmal die Gäste des Hotels als wichtig erscheinen.

Es tut mir leid. Dieser Beitrag hat mich leider nicht überzeugt: zéro points.

Merci beaucoup
Constantine
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
holg
Geschlecht:männlichExposéadler

Moderator

Beiträge: 2396
Wohnort: knapp rechts von links
Bronzenes Licht Der bronzene Roboter


Beitrag25.08.2022 12:23

von holg
Antworten mit Zitat

Willkommen in einer Geschichte, die als Film nur ein Wes Anderson sein könnte.
So Skurril das Setting in einem imaginären morbiden Strandhotel, die kreiselnd auserzählten Nebengeschichten, die übergangslos in die Hauptstory münden, und die lakonischen Unausweichlichkeit des Geschehens.
Dass wir uns in einer Ostsee-version des Hotel California befinden, wird einmal angedeutet, einmal ausbuchstabiert.
Natürlich ist das Hotel nicht zufällig näher ans Meer gerückt, natürlich ist das alles eine Allegorie auf unsere zerfallende Zivilisation und natürlich ist das großartig gemacht.


_________________
Why so testerical?
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kioto
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 71
Beiträge: 442
Wohnort: Rendsburg


Beitrag25.08.2022 22:18

von kioto
Antworten mit Zitat

Sehr gut geschrieben und sehr literarisch. Die Nichtgeschichte hat keinen Anfang und kein Ende. Vor meinem geistigen Auge erscheint eine Wand mit impressionistischen Strandszenen um 1920. Solche Bilder liebe ich.

Thema sehr gut erfüllt.


_________________
Stanislav Lem: Literatur versucht, gewöhnliche Dinge ungewöhnlich zu beschreiben, man erfährt fast alles über fast nichts.
Phantastik beschreibt ungewöhnliche Dinge (leider m.M.) meist gewöhnlich, man erfährt fast nicht über fast alles.

Gruß, Werner am NO-Kanal
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
d.frank
Geschlecht:weiblichReißwolf
D

Alter: 44
Beiträge: 1125
Wohnort: berlin


D
Beitrag27.08.2022 00:13

von d.frank
Antworten mit Zitat

Interessant, denke ich, dann denke ich irgendwie an Paul Auster und überlege, was es mir sagen will, ob das zu viel ist, was da drin steht und ob es mir nicht zu trocken ist, aber nein, es ist handwerklich nahezu perfekt, mit der richtigen Mischung aus allem und nichts, originell und geschickt verpackt, fein gestreutem Humor ohne abzudriften, bewegt einen erst im Nachgang, wenn man seinen Sinn ergründen will.
In irgendeinem Wettbewerb hatte mal jemand geschrieben, es gäbe für ihn einen Herz und einen Kopftext, das hier ist für mich die Kopfentscheidung und löst den zuvorderst favorisierten 12 Punkte Text ab.


_________________
Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag28.08.2022 20:24

von Heidi
Antworten mit Zitat

Das Thema

Die selbst auferlegte Gefangenschaft unterschiedlicher Personen oder der eher unbewusste Urlaub.

Der Titel

ist mir zwar nicht sofort ins Auge gesprungen, passt aber perfekt zum Text.

Der Anspruch / Die Ungefügigkeit / Die Eigenständigkeit

Das ist schon recht anspruchsvoll geschrieben, ich habe ordentlich zu tun, um hinterherzukommen mit all den Informationen und Namen und dem subtilen Witz/Sarkasmus. Ungefügig ist hier auf alle Fälle erfüllt, eigenständig ist der Text ebenfalls; es gibt eine eigene Stimme.

Die Sprache

Wenn es eine Stimme gibt, dann ist die Sprache auch ausgefeilt, individuell und stilistisch nicht aufgesetzt sondern von einer Person geformt. Insofern ist die Sprache auch gut.

Diese Stelle finde ich sprachlich sehr gelungen:

Zitat:
Das Hotel hatte bessere Tage gesehen, die Treppen waren abgetreten, die Korridore rochen wie alte Wäsche und die Rohre sangen von verlorenen Träumen, wenn man den Wasserhahn aufdrehte. Legte man sich im Erdgeschoss auf den Boden und lauschte, was freilich nicht viele taten, konnte man ein Gurgeln und Glucksen vernehmen, beredtes Zeugnis davon, dass das Meer schon näher war, als viele dachten.


In diesen Zeilen erwacht das Hotel förmlich zum Leben und wird somit selbst zum wesentlichen Akteur – weitaus mehr sogar als die Figuren, die sich nur am Rande des Geschehens befinden. Von den genannten und beschriebenen Figuren bekomme ich eher Oberflächliches an die Hand, was deren Charakter betrifft (und reichlich Beschreibung des Aussehens), das Hotel zeigt sein Inneres.
Was die Beschreibung des Aussehens betrifft, denke ich, dass es ein Verweis auf die Oberflächlichkeit der Figuren sein soll, ein Element, das trockenen Humor mit sich bringt, weil Autoren ja eigentlich wissen, dass übertriebene Beschreibungen von Klamotten und Haarfarben – gerade in der eigenständigen Literatur – eher unüblich sind.

Der Gesamteindruck

Dazu kann ich irgendwie schwer was sagen, was eigentlich ein gutes Zeichen sein sollte.
Der Text ist im Grunde gut, zumindest was den Anspruch, die Ungefügigkeit, die Eigenständigkeit und die Sprache betrifft. Ich mag den Sarkasmus, den ich wahrzunehmen meine. Diese Liegestuhl-Sache, die elendslange Einleitung der Familiengeschichte (bzw. das Familiendrama) der Liegestuhl-Hersteller und am Ende sind es genau diese Liegestühle, die das Hotel zum Schließen zwingen. Es wird nicht mit Details gespart und das mit purer Absicht. Das finde ich schon einen Kunstgriff. Die Fußnoten finde ich erheiternd und es ist in diesen Zeiten doch auch gut, mal lächeln zu dürfen. Es spricht für den Text, das Drama mit einem Augenzwinkern zu betrachten.

Dann aber bleibt am Ende nichts übrig. Ich frage mich, was tu ich nun mit all der Eigenständigkeit, mit all der Ungefügigkeit, mit all dem Anspruch, mit all der gut gewählten Sprache, wenn inhaltlich nichts rüberschwingt zu mir. Natürlich kann ich mir zusammenreimen, dass eventuell die Oberflächlichkeit der Menschen dargestellt wird, die sich selbst in einen Käfig zwingen, wenn sie in einem Ferienclub Urlaub machen und nichts weiter tun als auf ihren Liegestühlen zu liegen und Smalltalk zu halten, und die werden dann lächelnd von außen betrachtet in ihrem Dasein; aber das reicht mir irgendwie nicht, es bringt mich nicht weiter.
Es ist dann doch nichts weiter als eine Hülse, die ich vorfinde. Eine wunderschön gezeichnete zwar, aber eben eine, die mich inhaltlich nicht erfüllt. Ich kann für mich nichts mitnehmen, da ist nichts, was mich bereichert, mir einen Mehrwert gibt und genau das ist es, was ich von Kunst erwarte.
Kurz gesagt: Ich hätte lieber eine Geschichte gelesen, die sich ausschließlich mit dem Hotel beschäftigt, in einer vertieften Betrachtung, mit all seinen Bedürfnissen und Regungen, wie im oben zitierten Abschnitt bereits angedeutet.
Aber natürlich kann und will ich die Eigenständigkeit und die ausgereifte Sprache nicht ignorieren, weshalb der Text fünf Punkte abbekommt.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Globo85
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 38
Beiträge: 743
Wohnort: Saarland
Das silberne Eis in der Waffel DSFo-Sponsor


Beitrag29.08.2022 09:15

von Globo85
Antworten mit Zitat

"die schlechtesten Liegestühle der Welt geschlossen (das Hotel)" oder Woody Allen auf Papier1

Vorgaben:
  • Begegnungen und/oder Abschiede: Rita und Co.
  • Anbahnende Veränderung: Die Schließung des Hotels? Wobei die sich ja eigentlich weniger anbahnt, also im Text.
  • Sommergäste/Nichtbeachteter Schuss: Die Sommergäste sind natürlich (?) Rita und Co., den nichtbeachteten Schuss hab ich wohl selber nicht gehört.
  • Ist das E? Für mich ja, auch wenn es sich schwer an etwas konkretem festmachen lässt. Die langen Sätze, die Nichtgenrezugehörigkeit und die "experimentellen" Fußnoten sprechen für mich aber stark dafür.

Eindrücke:
Das ist verdammt gut geschrieben und ich musste auch an ein paar (ja, ich gebs zu, waren mehr als ein paar) Stellen schmunzeln, an ein paar Stellen sogar mehr als nur schmunzeln. Aber dann kommt auch schon das große Aber, nämlich, dass es mir dann doch irgendwie zu viel des Guten war und dann wirds auch irgendwie anstrengend, weil "nur" Witz auf Witz folgt, bzw. lustig geschriebene Stelle auf lustig geschriebene Stelle und das mehr, das dahinter, das ist entweder nicht da, oder so gut unter dem Wortwitz versteckt, dass ich es eben nicht mehr finden kann.

Lieblingsstelle:
Zitat:
1 Etwa:
›Katastrophe‹ - Z.
›Sollte es in der Hölle Sitzmöglichkeiten geben, sind es Stühle von Habinscher‹ - Sonja19
›Jetzt wissen wir, wo das Wort Stuhlgang herkommt‹ – arGus


Fazit:
Mein sechster Platz und damit 5 Punkte. Bonusfazit: In meiner internen Titelrangfolge eroberst du Platz Zwei!
----
1 Digitales Papier natürlich, kein analoges.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
F.J.G.
Geschlecht:männlichBitte keinen Weichspüler verwenden

Alter: 33
Beiträge: 1958
Wohnort: Wurde erfragt


Beitrag30.08.2022 17:51

von F.J.G.
Antworten mit Zitat

Liebes verfassendes Wesen,

wow, du hast mich echt begeistert! E-Literatur, trotzdem überaus unterhaltsam.

Ich küre dich hiermit mit 12 Punkten zu meinem Siegertext!

Ciao
Kojote


_________________
Ab sofort erhältlich: Achtung Ungarn! Ein humorvolles Benutzerhandbuch
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Schlomo
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 67
Beiträge: 215
Wohnort: Waldperlach


Beitrag01.09.2022 00:27

von Schlomo
Antworten mit Zitat

Die nicht vorhandenen Fußnoten begeistern mich! Genial. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass diese Geschichte - wie einige andere auch - von Dürrenmatts Der Tunnel inspiriert sind. Gefällt mir wirklich!

_________________
#no13
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
nicolailevin
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag01.09.2022 17:40

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Pseudodokumentarische Details zu Beginn, später Klamauk. Das Prinzip: Vom Hundertsten ins Tausendste.

Ich liebe das, wenn es gekonnt ist (Einschub hier: Albert Vigoleis Thelen! Lest sein Meisterwerk „Die Insel des Zweiten Gesichts“! Lest es! Es ist ein großartiges Buch! Einschub Ende), aber das hier ist – sorry, liebe_r Autor_in – für meine Begriffe eher plump und ungelenk.

Ich muss an Bjarne Mädel als ‚Tatortreiniger‘ denken, wenn er bei einem nicht angemessen rezipierten Scherz seinen Finger zückt und „luuuuustig“ ausruft.

Ja, vielleicht finde ich das lustig, wenn ich was geraucht habe oder bedüdelt bin, in meinem jetzigen, leidlich nüchternen Zustand erreicht es mich dagegen nicht.

Völlig humorlose null Punkte von mir.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
silke-k-weiler
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 49
Beiträge: 750

Das goldene Schiff Der goldene Eisbecher mit Sahne


Beitrag02.09.2022 21:38

von silke-k-weiler
Antworten mit Zitat

Lieber Text,

an dieser Stelle sollte ich wortreich und wohlformuliert begründen, warum ich Dir einen Punkt gegeben habe. Immerhin bedeutet das, anderen Texten selbigen vorzuenthalten. Ich sage Dir, dieser eine Punkt, sprich: Stern, geht exklusiv an  den Liegestuhl, Modell: Lascivitis, eine wahre Beleidigung für meinen Luxushintern. Wäre sein Erfinder nicht schon den Weg alles Irdischen gegangen, ich würde nun Dinge andeuten, die ich öffentlich nicht andeuten darf. So sage ich nur, dass ich diese Passage mit einer geradezu hämischen Freude gelesen und mir hochbefriedigt die Hände gerieben habe, bevor die letzten Reste dieses pseudo-mobiliaren Machwerks in der Presse des Sammelwagens eines örtlichen Entsorgungsfachbetriebes zermalmten und zersplitterten.

Vage ahnend, das mit den Punkten irgendwie falsch verstanden zu haben ...

Silke
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Nachtvogel
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 32
Beiträge: 117
Wohnort: Münster


Beitrag03.09.2022 04:08

von Nachtvogel
Antworten mit Zitat

Der Text ist sehr gut geschrieben und ich mag die vielen humorvollen Einschübe. Du schaffst es wirklich gut, lustige Anmerkungen in einen formell anmutenden Sprachstil zu verpacken. Alleine die Auflistung der Online-Rezensionen in Fußnote 1. Laughing Ich mag den Text überraschenderweise, obwohl er keine richtige Handlung hat. Vielleicht erschließt sich mir der dahinterliegende Sinn auch nicht so ganz, und der Text ist trotzdem gut!

8 Punkte
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Minerva
Geschlecht:weiblichNachtfalter


Beiträge: 1150
Wohnort: Sterndal
DSFo-Sponsor


Beitrag03.09.2022 18:46

von Minerva
Antworten mit Zitat

O. Günther hat Folgendes geschrieben:
Das ist wieder mal typisch. Nur weil man es nicht hinbekommt, die Liege sachgemäß aufzubauen, haut man 1-Sterne-Bewertungen raus. Die Liege is super und steht bei mir im Garten seit 3 Jahren ohne umzufallen.


Inhalt:

Im Hotel Palais Esplanade fallen ständig Leute mit dem Liegestuhl um. Dessen Erfinder musste das Scheitern seines Produkts aber nicht mehr erleben, weil er beim Bergunfall starb. Der Onkel wurde vermutlich von der Mafia an den Füßen einbetoniert und versenkt. Rita, Denis und Daisy hängen im Hotel herum. Joe und Sebastian sollten auch kommen. Gäste fallen mit den Liegestühlen um. Nun kommen Joe und Sebastian, alle sitzen auf den Liegen wie in einem Zug, und steuern aufs Meer zu. Alle fallen um, das Hotel wird geschlossen.

Wertung
Der Übersichtlichkeit halber habe ich die Details zu den Kategorien in den Fußnoten ausführlich aufgeführt. Die Wertung dient dazu, die Geschichte für den Wettbewerb ranken zu können, deswegen wird alles im Detail betrachtet, bitte nimm es nicht als zerpflückende Kritik wahr, sondern als eine intensive Auseinandersetzung.

1 Die Geschichte an sich 4/5
Das Lesen raubt mir Geduld und Konzentration. In diesem Fall liegt es am Handwerklichen, dazu siehe weiter unten. Ja, ich finde die Geschichte gut, aber die überflüssigen Details und das weite Abschweifen verderben mir das ein wenig.
Sehr individueller Humor, sehr detaillierte Ausschmückungen und Querverweise.

2 Umsetzung der Themen 6/7
Sommergäste sind vorhanden, die später Auftauchenden und die erwähnten Beerdigungen sind eine Möglichkeit, die sonstigen Vorgaben abzuhaken. Das erklärt womöglich auch die Abschweifungen. In diesem Text möchte ich mal lobend die »anbahnende Veränderung« hervorheben, im Text als mit Liegestuhl umfallende Gäste bis zum »Zug« in Richtung Meer, symbolisch für die Folgen der Erderwärmung. Bei den letzten beiden Punkten gebe ich zusammen 1 von 2, nicht wegen eines bestimmten Details, sondern weil mir das nicht ganz ausreicht, ohne das genau begründen zu können.

3 E-Faktor 4/5
Natürlich ist das E-Lit, aber da ist mir auch zu viel drumherum aufgebauscht worden.
Ein ernstes Thema, nämlich die Folgen der Erderwärmung, lässt sich hier aus eingestreuten Details herauslesen:
Meeresspiegel steigt, Bergunfall durch schmelzende Berggipfel, ausgetrocknetes Rheinbett
Zitat:
»Sieht aus wie im Zug, wie ihr da sitzt«, sagte Joe und drehte kurz den Kopf Richtung Meer. »Der kann nur dorthin fahren.«
»Wir steuern auf das Ende der Schienen zu?«, fragte Denis.
»Sieht so aus. Macht der Gewohnheit, kurzfristige Prioritäten.«
»Der Aperol Spritz schmeckt zu gut«, sagte Denis.
»Ich sitze gerade so gemütlich«, sagte Rita.
»Ich kann hier im Moment nicht weg«, sagte Daisy.
»Ich bin gerade erst angekommen«, sagte Sebastian.


Die drohenden Folgen und die üblichen Gründe, warum man nun doch nichts tun kann, sind hier sehr gut umgesetzt.
Mehrschichtig ja, Ungefügig nein, das ist mir schon viel zu sperrig.

4 Lesbarkeit und Handwerk 1/5
Tut mir leid, dass ich jetzt so wenig Punkte hier gebe. Ich bin der Meinung – du darfst das gerne anders sehen – mit ein paar Änderungen, was Satzlänge, Variation und Satzbau sowie weitere Details betrifft, könntest du viel mehr gewinnen als verlieren. Ich sehe keinen Sinn darin, Sätze zwei- bis dreimal lesen zu müssen, um zu erkennen, wie die aufgebaut und gemeint sind oder ob sie durch Fehler unverständlich geworden sind.

Beispiel:
Zitat:
Hergestellt von der Firma ›Habinscher und Sohn‹, einem Traditionsunternehmen aus dem Berchtesgadener Land, beruhte das Modell Lascivitis auf einer Erfindung des stellvertretenden Geschäftsführers Paul Habinscher, dem Sohn, einer Erfindung, die das Aufklappen und Aufstellen des Stuhls mit einer Hand ermöglichte (Patent № EP 0 424 242 B).


Dann noch: Ein langer Satz folgt dem anderen, das erschwert die Lesbarkeit enorm; ich rate zu Abwechslung in der Satzlänge, das ergibt auch eine schönere Satzmelodie. Ich sehe auch keinen Sinn darin, einem den Text so schwer zugänglich zu machen, indem man endlose Einschübe, Zwischenteile, Fremdwörter und in Fußnoten nachzulesende Ergänzungen einbaut.

Absätze hast du gemacht, aber irgendwie auch komisch. Gefühlt zu wenig, andererseits handelt es sich ja oft nur um einen Satz. Zwei Leerzeilen, vor und nach dem abschweifenden Exkurs, hätten ein wenig mehr Struktur reingebracht, denn ich bin keineswegs nach unten zu den Fußnoten gewandert beim Lesen, da ich Angst hatte, die Textstelle nicht wiederzufinden.
Demzufolge verstand ich dann auch nicht, worauf
Zitat:
Johannes 6:562, das der Pfarrer zitierte,
bezogen ist, und ich will mir einen Text nicht mit Googlen erschließen müssen.

So, genug davon. Ich wollte nur begründen, warum ich hier so viel abziehe. Es lässt sich einfach nicht gut lesen, und das muss nicht sein. Du nimmst ja an einem Wettbewerb teil und schreibst damit nicht nur für dich. Wenn das deine unabänderliche Art ist zu schreiben, ist das völlig in Ordnung. Dem Text hätte mehr Leserliebe allerdings gut getan und das hätte keine Abzüge in der Aussage, E-igkeit etc. zur Folge gehabt.

5 Logik 3/3
Nichts aufgefallen.

6 Sorgfalt 0/2
Hier muss ich leider die Punkte abziehen, obwohl ich durchaus verstehe, wie ein Teil der Fehler zustande kommt (nämlich die, wo Wort oder Komma fehlt): wenn man selbst nicht mehr durch seine wurstschlangenartigen Satzwülste durchblickt. Dazu kamen noch ein paar Fehler in der Groß- und Kleinschreibung. Und der Umgang mit Zitaten oder Anführungszeichen:
Zitat:
die sie ‚Freunde‘ nannte
Zitat:
Al Pacino in ›Der Pate‹.

Die sind einmal uneinheitlich, beim ersten Beispiel sind sie überflüssig. Beim zweiten Beispiel korrekt, da es sich um einen Eigenname handelt. Ansonsten hier und da unnötig, ein weiterer kleiner Baustein, der beim Lesen ermüdet (und nicht ganz korrekt ist).
Ich sage all das nur, um zu begründen und Hinweise zu geben, worauf man noch achten kann. Das ist nicht als kleinliches Auseinandernehmen gemeint.

7 Sommerfrischequotient 3/5

Gesamtpunkte: 21/32

PUNKTESPOILER * trommelwirbel *
1 Punkt

Meine liebsten Textstellen:

Zitat:
Gerüchten zufolge, sicher falsch, war er von einem Liegestuhl-geschädigten Hater an eine Wurstfabrik in Gütersloh geschickt worden.
Zitat:
es habe sich wie ein – Zitat –  ›Feuerwehrkörper‹ (sic!) angehört.
Das Hotel hatte bessere Tage gesehen, die Treppen waren abgetreten, die Korridore rochen wie alte Wäsche und die Rohre sangen von verlorenen Träumen, wenn man den Wasserhahn aufdrehte.
Zitat:
Rita blieb der Mund offen stehen, ein kirschrotes Oval der Verblüffung.


-----------------------
Bewertung – ein Versuch. Ein bisschen Neutralität einbringen, jenseits von: mag ich - nicht mein Ding. Hab ich eigentlich „Ahnung“ von E-Lit? Nee, deswegen brauch ich diese Krücke zum Bewerten. Bei Offenheit der Interpretation einzelner Aspekte, lege ich immer alles zu euren Gunsten aus. Tut mir leid, dass das so ausführlich geworden ist. Jegliche Kritik ist meine persönliche Sichtweise, wenn ihr davon etwas gebrauchen könnt, greift zu, ansonsten lasst euch nicht den Tag vermiesen.

1 Ich will einfach eine gute Geschichte lesen und etwas herauslesen. 5 Punkte

2 a) Sind Sommergäste tatsächlich oder symbolisch vorhanden?
b) Dreht sich die Geschichte um eine oder mehrere Begegnungen und/oder Abschiede?
c) und d) Ist eine Veränderung thematisiert, und ist diese anbahnend, d.h. nicht schon im gesamten Text vollzogen und zudem „spürbar“ über den Textverlauf?
e) Wie relevant ist das zentrale Thema für die Geschichte?
f) Können es nur „Sommergäste“ sein oder könnte die Geschichte auch anderswie spielen?
g) Wie sehr durchdringen diese Themen insgesamt den Text als Ganzes? 7 Punkte


3 a) Künstlerischer Anspruch und Kreativität allgemein, also alles, was sich sinnhaft von einem Genretext abhebt. Hier „reicht“ es nicht, einfach die 2. Person Futur Präsens zu wählen oder möglichst lange und komplizierte Sätze oder Wörter zu verwenden – im Gegenteil, das gibt Abzüge bei Stil und Lesbarkeit, Handwerk muss beherrscht werden. Auch ist eine komplizierte Wortwahl nicht ausschlaggebend, kann auch vollkommen simpel sein. Es kommt immer darauf an … auch auf das, was vielleicht nicht gesagt wird, aber durch den Textaufbau durchwirkt. Die Form, das Gesagte und das Ungesagte müssen Hand-in-Hand gehen, eine Wirkung bewusst erzielt werden (oder zufällig-intuitiv … wer weiß das schon?). [Form und Inhalt oder form follows function] 2 Teilpunkte hier.
b) Ernsthaftigkeit der Themen, wobei Humor dazuzählt, wenn er mir bspw. „die Absurdität“ (des Lebens oder wovon auch immer vermittelt) darstellt; und/oder Sozialkritik und/oder regt mich das zum Nachdenken an? Hat das eine Relevanz? Ein gewisses Maß an Realismus, aber kein absoluter. Bizarr und surreal sind erlaubt. Auch das kann ich nur subjektiv abwägen: ist das Phantastik oder  E-tastik?
c) Mehrschichtigkeit und Ungefügigkeit. Auch hier ist Augenmaß gefordert, ich möchte mir den Inhalt oder die Bedeutung/Interpretation ein wenig erarbeiten müssen (nicht alles erklärt bekommen), aber nicht wie die Sau ins Uhrwerk glotzen. Ob ein Text mich bewusst verwirren will oder ob Thema, Sprache, Aufbau etc. mich nicht richtig erreichen, muss ich subjektiv abwägen.
d) Verwendung einer besonderen Sprache oder Spielerei damit, Verwendung besonderer Bilder oder einer Wirkung durch die gewählte, durchaus auch einfache, Sprache (Intensität).
5 Punkte

4 Kann ich den Text, rein vom Formalen her, gut weglesen, ungeachtet von Pausen zum Nachdenken oder des Anspruchs der Sprache? Wie sieht es mit dem Handwerklichen des Schreibens aus? Wird es beherrscht, wird es gar bewusst gebrochen? 5 Punkte

5 Soweit nachvollziehbar:
a) Logik inhaltlicher Art (in sich logische Geschichte, Reihenfolge),
b) Logik der Details (das namensbestickte Taschentuch von Onkel Günther lag aber vorhin nicht auf dem Liegestuhl sondern auf der Tiefkühltruhe im Keller) – auch: recherchierte Details
c) Logik des menschlichen Handelns (also wie plausibel ist das Verhalten, ungeachtet künstlerischer oder storytechnischer Abweichungen) 3 Punkte

6 Sorgfalt muss sein, bitte nicht mit den Augen rollen, es sind ja nur 2 Punkte. Es gibt immer eine Möglichkeit, die man vorm Absenden wahrnehmen kann: einen Testleser, ausdrucken, sehr langsam lesen, laut vorlesen, mit (kostenloser) Software vorlesen lassen, in ein E-Book umwandeln, um es auf einem anderen Medium zu lesen, Rechtschreibkorrektur der Schreibsoftware, zur Not Gerold (obwohl der nicht der Hellste ist, sorry Gerold). Bei zu vielen Rechtschreib- oder Grammatikfehlern wird etwas abgezogen. Wie gesagt, es sind nur wenige Punkte, aber auch Sorgfalt spielt eine Rolle. Das ist eine Frage der Fairness gegenüber anderen. Ich weiß, du hast viel zu tun und die Muße kam recht spät oder du hast Legasthenie oder ... Nicht bös gemeint. 2 Punkte

7 Onkel Günther würfelt mit seinem 5-seitigen Würfel und dividiert das Ergebnis durch 1… (Nach meinem ersten Bewertungssystem tummelten sich auf einmal mehrere Texte auf den gleichen Rängen, auch mehr Punkte in den Kategorien schafften keine Abhilfe … Leute, das geht nicht, ich muss irgendwie ein Ranking hineinbringen. Onkel Günthers Würfel ist quantenverschränkt mit dem Text und weiß, was richtig ist.) 5 Punkte


_________________
... will alles ganz genau wissen ...
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Reimeschreiberin
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 220



Beitrag04.09.2022 11:54

von Reimeschreiberin
Antworten mit Zitat

Bei dem Wettbewerb wurden sehr vielseitige Texte eingereicht. Es sind so viele gute Geschichten dabei, dass mir die Bewertung nicht leicht fiel. Letztlich hat es Dein Text, liebe/r Inko, leider nicht in meine Top Ten geschafft.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
MoL
Geschlecht:weiblichQuelle


Beiträge: 1838
Wohnort: NRW
Das bronzene Stundenglas


Beitrag04.09.2022 16:13

von MoL
Antworten mit Zitat

Lieber Inko!

Die erste Hälfte des Textes gefällt mir sehr gut. Die zweite weniger. Geschmackssache wohl. Dieses "Beginn Liste" am Ende verstehe ich ehrlich gesagt nicht.

Insgesamt hast Du es damit in meine Punkte geschafft: 2 Punkte. Smile


_________________
NEU - NEU - NEU
gemeinsam mit Leveret Pale:
"Menschen und andere seltsame Wesen"
----------------------------------
Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
nebenfluss
Geschlecht:männlichShow-don't-Tellefant


Beiträge: 5994
Wohnort: mittendrin, ganz weit draußen
Podcast-Sonderpreis


Beitrag04.09.2022 18:22

von nebenfluss
Antworten mit Zitat

Leider noch kein Kommentar.

_________________
"You can't use reason to convince anyone out of an argument that they didn't use reason to get into" (Neil deGrasse Tyson)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
sleepless_lives
Geschlecht:männlichSchall und Wahn

Administrator
Alter: 58
Beiträge: 6477
Wohnort: München
DSFo-Sponsor Pokapro und Lezepo 2014
Pokapro VI Weltrettung in Gold


Beitrag05.09.2022 01:31

von sleepless_lives
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Erst einmal vielen Dank für Punkte und die teilweise super-ausführlichen Kommentare! Wo anders würden sich so viele Leute so viel Mühe machen, den Text zu durchleuchten, abzuklopfen, auch durchaus auseinanderzunehmen und ihre Lese-Eindrücke wiederzugeben?

Normalerweise ziehe ich es vor, eher nach Themen in den Kommentaren zu synthetisieren und zusammenzufassen (wenn mir überhaupt Zeit bleibt für individuelle Antworten). Diesmal wird das nichts, denn da ist einerseits zu viel Material in den Rezensionen, andererseits zu wenig Zeit am Stück bei mir. Also werde ich einzeln und über die kommenden Tage verteilt antworten. Ich werde versuchen, trotzdem ein bisschen Struktur wenigstens in der Reihenfolge hereinzubringen. Die Idee dabei ist, mich vom Allgemeinen zum Besonderen vorzuarbeiten. Mal sehen.

Was ich noch vorher loswerden muss, ist, wie viel Spaß mir die Teilnahme gemacht hat. Endlich mal im Zehntausender in der Situation zu sein, vom Thema und Vorgaben überrascht zu werden und sich dann damit 'herumzuschlagen', während drohend die Deadline immer näher kommt. Bei mir haben Thema und Vorgaben durchaus als Inspirationshilfe funktioniert. Mit anderen Worten, der Text wäre ohne sie nicht entstanden.

Was man dem Text vielleicht nicht anmerkt, dass es streckenweise ein Kampf war, manchmal bis zu einzelnen Wörtern, und - wie schon weiter oben angespielt - ein innerer Streit. Ich habe immer argumentiert, dass alles zu plakativ ist, während diese andere innere Stimme immer dagegenhielt, dass alles zu kryptisch wäre. Das ist der Zehntausender, hab ich gesagt, und mich fast immer durchgesetzt. Und damit fangen wir im nächsten Post an. Aber nicht mehr jetzt.


_________________
Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)

If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 2 Gehe zu Seite 1, 2  Weiter

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> DSFo Wettbewerbe -> Zehntausend
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Feedback
Der Kannibale vom Rosengarten – ein...
von wunderkerze
wunderkerze Feedback 10 11.04.2024 14:43 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Feedback
Liebesgedichte - Eine Anatomie des Sc...
von Cholyrika
Cholyrika Feedback 5 02.04.2024 12:52 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Agenten, Verlage und Verleger
Welches Kapitel vom Liebesroman für ...
von MiaMariaMia
MiaMariaMia Agenten, Verlage und Verleger 23 02.04.2024 09:00 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Werkstatt
tochter des meeres
von Perry
Perry Werkstatt 3 30.03.2024 00:12 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Agenten, Verlage und Verleger
Vorbesteller- und Verkaufszahlen vom ...
von WSK
WSK Agenten, Verlage und Verleger 19 21.03.2024 19:40 Letzten Beitrag anzeigen

EmpfehlungBuchBuchBuchEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlung

von Versuchskaninchen

von MoL

von Pütchen

von spinat.ist.was.anderes

von Piratin

von nebenfluss

von pna

von Mogmeier

von CAMIR

von MShadow

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!