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Neumodische Ideen


 
 
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VeLoe
Geschlecht:weiblichSchneckenpost
V

Alter: 38
Beiträge: 7
Wohnort: Kevelaer


V
Beitrag25.07.2022 17:11
Neumodische Ideen
von VeLoe
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Um Jule herum war alles sepiafarben und vollkommen still. Sie schaute sich um. Langsam sickerte Farbe in diese seltsame Welt. Das Gras wurde grün statt grau, der Himmel färbte sich bläulich. Dann kamen die Geräusche. Einige Vögel zwitscherten, in der Ferne hörte sie Kinderlachen. Jule fragte sich, was los war. War das eine Art virtuelle Realität? Aber ganz ohne VR-Brille? In diesem Moment kam ein leichter Wind auf, der ihr die Haare ins Gesicht wehte. Ihre Haare waren nicht mehr blond und glatt, sondern braun und lockig. Sie sah an sich herunter. Ihre Arme waren dünner, fast mager, die Hände unfassbar schmutzig, genau wie ihre Kleidung. Statt Jeans trug sie ein Kleid und eine Kittelschürze. Jetzt wusste Jule, was passiert war.

Eine Minute zuvor hatte sie auf dem Boden in ihrem Zimmer gesessen, umgeben von Stapeln vergilbter Fotoalben ihrer Familie. Mit einer App digitalisierte sie die Bilder. An einem Foto blieb ihr Blick haften. Das Mädchen darauf stand vor einem Hof und hatte die traurigsten Augen, die sie je gesehen hatte. Und sie schien Jule direkt anzublicken. Irgendwie auffordernd. Einen Augenblick später stand Jule selbst vor dem Bauernhof. Sie war nicht mehr Jule. Sie war Theresia, ihre Uroma und das Mädchen auf dem Foto. Interessante App.

„Sehr schön, junge Frau. Drehen Sie sich jetzt etwas nach rechts und schauen direkt in die Kamera.“ Der Fotograf lächelte ihr aufmunternd zu.
Eine Frau in einem hochgeschlossenen Kleid stellte sich zwischen sie und sah den jungen Mann vorwurfsvoll an. „Schluss damit. Das reicht jetzt. Wir brauchen unsere Magd. Es weiß sowieso kein Mensch, warum sie ausgerechnet diese Göre ablichten wollen.“ Dann wandte sie sich zu Theresia um. „Los, geh zurück in die Küche. Wenn du mit dem Teig für das Brot fertig bist, fang mit der Suppe an. Und vergiss nicht, das Kleid für Elsbeth zu stopfen.“ Eine Anweisung nach der anderen prasselte auf sie ein.

Brot backen? Ein Kleid stopfen? Jule wusste nicht mal, wie sie das im 21. Jahrhundert bewerkstelligen sollte, ganz zu schweigen von den Techniken, die man vor 100 Jahren benutzt hatte. Und war überhaupt die Küche?
Die Frau packte sie am Arm: „Los, wird’s bald? Du hältst dich jetzt wohl für was besseres, nur weil der feine Herr Fotograf unbedingt ein Bild von dir machen wollte? Solche Flausen werden wir dir schnell wieder austreiben.“ Sie verpasste Theresia eine saftige Ohrfeige. Jule wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hielt sich die Wange und stolperte Richtung Haus.
„Hier, falls du das Foto mal sehen willst.“ Der Fotograf steckte ihr eine Karte in die Kitteltasche und im nächsten Moment stand Jule im Haus. Zum Glück konnte sie die Küche vom Eingang aus sehen und ging dorthin. Die Frau folgte ihr nicht.

Ratlos stand Jule vor dem Holzkohleofen. So einen hatte sie bei Downtown Abbey, der Lieblingsserie ihrer Mutter, gesehen. Aber wie funktionierte so ein Ding? Hoffentlich tauchte gleich nicht Mrs Patmore, die vorlaute Köchin aus der Serie, auf.
„Theresia, bist du da? Kannst du deinen Körper wieder übernehmen? Nur kurz zum Brotbacken?“ Jule horchte in sich hinein, aber sie bekam keine Antwort. Wo sie wohl war? Sie sah sich um. Auf einem Regal stand ein Rezepte-Buch. Die Seiten waren vergilbt und die Schrift sah anders aus. Ein paar Worte konnte sie entziffern, in der Schule hatte es mal eine Projektwoche zu alter deutscher Schrift gegeben. Sie fand ein Rezept für Suppe. So schwer konnte das ja nicht sein.

Zwei Stunden später war Jule völlig verschwitzt und müde, aber stolz. Auf dem Ofen kochte eine Suppe und vor ihr lagen drei Laibe Brot. Sie waren etwas schwarz, rochen aber himmlisch. Sie hörte energische Schritte im Flur. Die Frau war zurück.
„Warum dauert das so lange, Theresia? Sollen wir verhungern?“ Ihr Blick fiel auf die Brote. „Was hast du gemacht, du nichtsnutziges Ding? Die sind ja völlig verbrannt. Das Geld für die Zutaten ziehen wir dir vom Lohn ab.“ Die Frau ging zum Ofen und probierte die Suppe. „Was soll das denn sein? Spülwasser? Willst du uns vergiften“ die Frau griff nach dem Schürhaken und kam auf Jule zu.
Jule schrie auf: „Nein, stopp. Sie haben kein Recht dazu. Hören Sie auf!“
„Jetzt wirst du frech? Du bist wohl seit neustem in der Gewerkschaft, oder was? Das lasse ich mir nicht bieten.“ Sie schlug mit dem Schürhaken zu. Einmal. Zweimal.
Jule kroch über den Boden und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Doch die Schläge prasselten weiter auf sie ein, bis sie das Bewusstsein verlor.

Als Jule wieder zu sich kam, lag sie in einer kargen Kammer auf einem schmutzigen Bett. Dämmriges Licht sickerte durch das kleine Fenster. Es musste schon Abend sein. Alles tat ihr weh. Vorsichtig setzte sie sich auf, zog ihr Kleid aus und betrachtete ihren Körper. Sie hatte überall blaue Flecken. Nicht nur von heute. Wie konnte sich das Theresia nur gefallen lassen? Diese verängstige, ausgebeutete Magd passte nicht zu der Frau, von der ihre Oma geschwärmt hatte.
„Eine selbstbewusste Frau, das war meine Mutter. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Und eine erfolgreiche Geschäftsfrau war sie. Sie hatte immer so neumodische Ideen. Keiner wusste, wie sie darauf kam.“ Das hatte Oma Anneliese ihr erzählt.
War sie vielleicht doch nicht ihre Uroma? Aber die Frau hatte sie Theresia genannt, so hieß ihre Uroma. Und wer sollte das sonst auf dem Bild sein? Das passt alles nicht zusammen. Jule lag die ganz Nacht wach und grübelte. Zu einem Ergebnis kam sie nicht.

Der nächste Tag verlief nur unwesentlich besser als der Erste. Jule musste den Fußboden schrubben, dabei konnte man so viel falsch machen. Dachte sie jedenfalls.
„Achte auf die Fugen. Da sitzt der meisten Dreck.“ Die Frau stand über ihr und überwachte jeden Handgriff.
Jule drückte die Bürste so fest auf den Boden, dass die Borsten sich nach außen bogen und pfefferte sie dann in den Eimer. Das schmutzige Wasser spritze in alle Richtungen.
„Pass doch auf, du dumme Göre.“ Zack. Eine Ohrfeige.
Jule musste etwas tun, aber was? Wie sollte sie sich wehren ohne Theresia das Leben noch mehr zur Hölle zu machen?

Irgendwann ging die Frau einkaufen und Jule ließ sich erschöpft auf einen Stuhl in der Küche sinken. Ihre Hände waren rissig und bluteten an einigen Stellen, alles schmerzte von den Schlägen. Von draußen auf dem Flur hörte sie Schritte. Sie klangen schwer und schlurfend. Das konnte nicht die Frau sein. Ein großer Mann schob sich herein und grinste Jule mit schwarzen Zähnen an. Er sagte nichts, kam nur immer näher. Er roch nach Schweiß und Essen. Jule wurde schlecht. Sie ahnte, was er vorhatte. Der Mann drängte sie in eine Ecke und schob eine Hand unter ihren Rock. Das reichte jetzt. Jule erinnerte sich, was sie im Selbstbehauptungskurs gelernt hatte, und trat zu. Damit hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlich hatte Theresia sich gefügt.

Jule rannte. Sie lief aus der Küche über den Hof. Sie musste so schnell wie möglich raus aus dem Dorf. Vielleicht würde der Mann die Nachbarn mobilisieren, um nach ihr zu suchen. Außerhalb des Dorfes versteckte sie sich in einem kleinen Wald und wartete. Doch niemand schien ihr zu folgen. Was sollte sie tun? Wohin konnte sie gehen ohne Geld und ohne Essen? Langsam wurde es kühl. Sie steckte die Hände in ihre Kitteltasche und bekam eine kleine Karte zu fassen. Der Fotograf, der so nett zu ihr gewesen war. Sie schaute auf die Adresse. Die Stadt kannte sie, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie dorthin kommen sollte.

„Theresia los. Ich habe dir geholfen. Jetzt musst du übernehmen. Du schaffst das.“ Jule dachte diese Sätze immer wieder, schließlich flüsterte sie sie. Dann geschah etwas. Das grün der Bäume verschwand, die Welt wurde sepiafarben. Die Vögel wurden still. Einen Augenblick später saß Jule in ihrem Zimmer auf dem Fußboden.

Jule blätterte durch das Album. Die nächsten Bilder zeigten ihre Uroma als Angestellte in dem kleinen Fotoladen und schließlich selbst als stolze Frau und Miteigentümerin. Oma Anneliese hatte gesagt: „Meine Mutter hat immer drauf gepocht, ihr eigenes Geld zu verdienen. Sie wollte unabhängig bleiben. Und sie hat junge Mädchen vom Land eingestellt und gefördert. Wo sie nur diese Ideen herhatte.“ Jule wusste es jetzt.



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giraldo
Geschlecht:männlichSchneckenpost
G

Alter: 40
Beiträge: 9



G
Beitrag25.07.2022 21:28

von giraldo
Antworten mit Zitat

Eine schöne Sprache. Der Text liest sich schön flüssig runter.

Das Einzige, das mich ein klein wenig gestört hat, war das sehr oft auftretende Jule tut dies ... oder Jule tut das .... In einem vollständigen Roman können solche immer wiederkehrenden Sätze irgendwann anstrengend oder gar nervig werden.
Und da die gute Jule eh immer im Mittelpunkt steht, musst du ihren Namen auch nicht über Gebühr benutzen. Wink

Beim Perspektivwechsel würde ich jeweils einen Absatz machen, gerade in der Passage, als der stinkende Mann auftaucht.

Und lass so reales Zeug wie "Downton Abbey" weg. Die Serie könnte schon längst wieder vergessen sein, wenn du dein Werk veröffentlichst. Denk dir 'ne eigene Schnulzserie aus, die Jule im Roman begleitet oder such einen anderen Vergleich.

Ein paar Kommata fehlen hier und da.

Aber alles in allem, ein fantastischer Einstand. Weiter so!
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Araragi
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Beiträge: 210
Wohnort: Diomedes Inseln, manchmal auch Türme des Kölner Doms


Beitrag25.07.2022 23:56

von Araragi
Antworten mit Zitat

Zitat:
Einen Augenblick später stand Jule selbst vor dem Bauernhof. Sie war nicht mehr Jule. Sie war Theresia, ihre Uroma und das Mädchen auf dem Foto. Interessante App.


Den Satz würde ich vorsichtig in zwei Sätze unterteilen. Man bekommt beim Lesen fast das Gefühl, Jule ist nun in den Körpern zweier Menschen.


Zitat:
So einen hatte sie bei Downtown Abbey, der Lieblingsserie ihrer Mutter, gesehen.


Jule bekommt gerade eine sehr fiese Backpfeife und das nächste woran sie denkt ist eine Serie auf Netflix? Laughing Sorry, aber das reißt einen ein wenig aus dem Lesefluss.


Mir ist ein Logikfehler in der Geschichte aufgefallen. Auf der einen Seite versteht Jule nicht wie die App funktioniert, auf der anderen Seite kennt sie plötzlich eine Funktion, die es ihr erlaubt den Körper, den sie steuert wieder von einem Bot übernehmen zu lassen. Allerdings kann sie den Befehl nicht richtig aktivieren. Erst zum Schluss gelingt ihr das auf ganz unerklärliche Weise.


Aber mal so im Allgemeinen, ich sehe in deiner Erzählung keine Geschichte. Man sieht wie Jule ein Erlebnis nach dem anderen durchlebt, aber was ist der Zweck dieser Geschichte? Worauf will sie hinaus? Wenn es eine Beziehungsgeschichte ist zwischen Jule und ihrer Uroma, wie sieht die Beziehung zwischen den beiden überhaupt aus? Als Leser weiß man nicht wie Jule zu ihrer Uroma steht. Bedeutete sie ihr viel?


Grüße

Araragi


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VeLoe
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Wohnort: Kevelaer


V
Beitrag26.07.2022 18:58

von VeLoe
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Vielen Dank für eure Kommentare. Das hilft mir sehr und ich mache bei Gelgeneheit ans Überarbeiten.
Viele Grüße
Vera


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Kurzerede
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Wohnort: Irgendwo am schönen Teutoburger Wald


Beitrag26.07.2022 22:12

von Kurzerede
Antworten mit Zitat

Eine fantasievolle Geschichte, die ich gerne gelesen habe.
An zwei Flüchtigkeitsfehlern - je ein fehlendes Wort im Satz - bin ich beim Lesen hängen geblieben. Ich empfinde den Erzählstil als ein wenig kurzatmig, passt aber wiederum zur Handlung.
Das Ziel der Geschichte mit einer Zeitreise zu verbinden, ist eine sehr interessante Idee. - Theresia war halt ihrer Zeit voraus ... Wink


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Viele Grüße
vom Lehrling auf dem Weg zu mehr Leben und Gelassenheit.
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