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Esohe
Schneckenpost
E Alter: 40 Beiträge: 12 Wohnort: Schweizer Mittelland
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E 30.04.2022 22:36 Livestream - Erster Abschnitt eines Romans von Esohe
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Ich habe genau drei Gelegenheiten mich hübsch zu machen. Mich zu schminken, sorgfältig das richtige Outfit zu wählen, die passenden Schuhe und schicke Accessoires. Abwägen, ob die Farben passen, das Muster zu aufdringlich ist oder zu dezent. Das Vorbereiten macht mir genauso grossen Spass wie der Anlass selbst. Wenn ich mich im Spiegel anschaue und alles ist perfekt, kommt es mir vor, als ob ich einen Marathon gewonnen hätte oder einen hohen Berg bestiegen hätte. Was ich zugegebenermassen noch nie gemacht habe, aber trotzdem.
Erste Gelegenheit: Ab und zu gehe ich mit meiner Freundin und Nachbarin Lissy an eine Party. Wir stylen uns, sexy, aber nicht nuttig. Wir hören, dass irgendein Bekannter Geburtstag hat und eine Party schmeisst. Wir tauchen auf, bringen eine Flasche Wein mit und werden immer hereingewinkt. So macht man das in unserer Community. In einem engen Wohnzimmer, tanzen wir dann zusammen, und trinken gepflegt ein bisschen zu viel. Dann gehen wir leicht schwankend und kichernd wieder nach Hause und küssen uns zum Abschied auf den Mund.
Zweite Gelegenheit: sonntäglicher Kirchenbesuch. Ich gehe in die katholische Kirche, im Gegensatz zu all meinen anderen Verwandten und Bekannten, welche die Pfingstgemeinden bevorzugen. Ich aber mag die Ordnung in der katholischen Kirche. Sie fängt pünktlich an und endet ebenso pünktlich. Alles geht der Reihe nach von statten. Gebete, Singen, Predigt, Gebete. Immer gleiches Gemurmel, das gleiche Vater-Unser und Ave Maria, das gibt Sicherheit, man muss nicht überlegen. Die Kollekte wird nur einmal eingezogen und man muss keinen Zehnten abgeben. Die Choräle sind nicht gerade fetzig, aber ich singe immer laut mit und mache das leise Gebrummel der Alten wett. Ich kann einen Ton halten und so macht es mir nichts aus, wenn man meine Stimme aus den anderen heraushört. Der Pfarrer hält eine erbauliche Predigt ohne in lautstarkes Geschrei zu verfallen, wie dies die Pastoren der Pfingstkirchen zu tun pflegen. Das Gekreische unter der Woche bei der Arbeit reicht mir nämlich, ich arbeite in einer Schule in der Mensa. Die blumigen Redewendungen, die der Pfarrer gerne benutzt, gefallen mir. Nach dem Gottesdienst schwatze ich oft ein wenig mit den alten Frauen vor der Kirche. Sie sind dann total nett zu mir und erzählen mir von ihrer Familie. Ich erzähle ein wenig von der Arbeit.
Dritte Gelegenheit: Freitagabend, das bedeutet Youtube-Stream! Meine weitaus liebster Schickmach-Anlass. Und heute ist Freitag, deshalb eile ich motiviert und voller Vorfreude durch die immer noch mit Touristen gefüllten Strassen. Es ist schon bald Oktober und nicht mehr so warm, bald werden sie Gehwege leeren, und das Gedränge vor den Sehenswürdigkeiten wird nachlassen.
Die Sonne scheint bereits schräg über die Dächer und blendet mich so sehr, dass ich meine Augen abschirmen muss. Aber ich darf mir keine neue Sonnenbrille mehr kaufen, zu Hause liegen schon zwanzig Stück rum. Absolutes Brillenkaufverbot. Geschickt schlängle ich mich an Selfie-Machern vorbei, die mitten auf der Strasse knipsen wollen. Flotten Schrittes erreiche ich den Marktplatz und hier hat die Sonne keinerlei Hindernisse mehr zu überwinden, die Gebäude sind zur Seite gerückt um dem runden Platz mit seinem Brunnen, schmucken Blumenrabatten und drei kecken, relativ nackten Statuen in der Mitte nicht die Schau zu stehlen. Einzig die mittelalterliche Kirche ragt wie ein Schiffsrumpf in die Fülle der roten Terrakottafliesen hinaus. Als wollte sie mutig in See stechen und unbekannte Horizonte erobern.
Einen Moment lang schliesse ich die Augen und lasse die roten Funken hinter meinen Lidern tanzen. Als ich sie wieder öffne, entdecke ich Ahmed am üblichen Platz. Lang und schmal sitzt er wie zusammengefaltet auf einem schmalen Mäuerchen, ein Cap gegen die blendende Sonne tief in die Stirn geschoben. Die gefälschten Handtaschen, Portemonnaies und Sonnenbrillen von Gucci, Prada und Luis Vuitton liegen hübsch in geordneten Reihen vor ihm, so dass er sie notfalls schnell zusammenpacken und zusammen mit seinem Kumpel abhauen kann, sollte die Polizei unverhofft auftauchen. Sie sind immer zu zweit, zusammen schieben sie eine Schicht. Ich nehme an, es ist kurzweiliger, als stundenlang alleine auf dem Marktplatz zu sitzen. Noch hat er mich nicht entdeckt, sonst würde er mir zurückhaltend, aber grinsend wie immer zuwinken. Ich würde verlegen und glücklich zurückwinken.
Gerade überlege ich, ob ich nicht vielleicht doch noch eine Sonnenbrille gebrauchen könnte, eine weisse habe ich schon lange nicht mehr gehabt. Da kommen zwei Amerikanerinnen mittleren Alters auf Ahmed und seinen Freund zu. Eine ist sehr dünn, die andere freundlich gesagt mollig. Sie sind aufgeregt und tuscheln miteinander. Immerhin werden sie jetzt gerade einen Afrikaner ansprechen, wahrscheinlich das erste Mal in ihrem Leben. Sie sind stolz auf ihre Chuzpe, sieht man ihnen an.
Sofort springt Ahmeds Kumpel auf, ich glaube, er heisst Matty. Mit beinahe tänzerischem Anmut umwirbt er die beiden Damen. Scharwenzelt um sie rum, macht kleine Komplimente über ihren guten Geschmack. So ist das meistens, Matty macht einen auf netten Typen und Ahmed auf knallharten Händler, der nicht nachgeben will. Immer wenn es um den Preis geht, schüttelt er stoisch den Kopf. Matty scheint die Kaufwilligen zu unterstützen, labbert in seinem seltsamen Englisch auf seinen Kumpel ein, dass er doch diesen lieben, herzensguten Menschen entgegenkommen muss mit dem Preis. Irgendwann geht Ahmed dann ein paar Euro runter und die Touristen schlagen begeistert zu, als hätten sie den Deal ihres Lebens gemacht.
Ahmed hat entdeckt, wie ich vorbeischleiche und zwinkert mir zu. Schelmisch, mit diesem ganz speziellen Lächeln. Also tue ich so, als ob ich am Stand mit dem chinesischen Plunder nebenan etwas furchtbar Interessantes entdeckt hätte. Einen Apfelteiler etwa, oder ein geblümtes Tischtuch aus Plastik. Ab und zu riskiere ich einen Blick über die Schulter um zu sehen, ob die Bahn frei ist. Als die amerikanischen Touristinnen nach endlosem Gefeilsche stolz und um zwei Fake-Prada-Handtaschen reicher abziehen, schlendere ich betont lässig zu den beiden rüber.
»Hi Leute!«
»Hallo Cynthia. Wie geht’s? Brauchst du etwas von uns? Heute ist ja Freitag…« Das ist Matty, geschäftstüchtig wie immer. Er lässt sein Zahnpastalächeln übers ganze Gesicht strahlen. Eigentlich sieht er besser aus als Ahmed, aber wir wissen alle, dass er mein Favorit ist. Seine zurückhaltende, etwas geheimnisvolle Art zieht mich viel stärker in ihrem Bann als Mattys offene Freundlichkeit.
»Ach, ich weiss nicht so recht, ob ich vielleicht noch eine weisse Sonnenbrille brauchen könnte. Das würde meinem Outfit heute den besonderen Touch verleihen…«
»Cynthia, klar haben wir weisse Sonnenbrillen. Ahmed, zeig sie ihr doch mal…« Feixend überlässt Matty seinem Kollegen das Gespräch.
Ahmed bückt sich und nimmt zwei Sonnenbrillen mit weissem Rahmen in seine grossen, schlanken Hände. Die mit dem dünneren Gestell hält er mir hin. »Die würde dir super stehen!«
Matty steht schon mit einem Spiegel bereit und hält ihn mir vors Gesicht. Ich bin nicht ganz überzeugt, die Brille ist ziemlich eckig und wirkt etwas seltsam über meinen runden Wangen. »Gib mir mal die andere«, fordere ich Ahmed auf. »Die finde ich besser«.
Er lächelt bloss, während Matty ein schmeichelndes »dir steht eben alles!« auf mich loslässt. Der alte Schleimer. Ich kaufe also die Brille mit dem breiten Rahmen und unterhalte mich dabei mit Ahmed. »Wie geht es der Familie? Wie läuft das Geschäft?«
Alles wie immer. Bei Ahmed passiert nie etwas. Was sollte auch schon passieren? Er ist ein illegaler Migrant, das einzige was er tut, ist versuchen etwas Geld zu verdienen und nicht von der Polizei einkassiert werden. Für was Anderes ist kein Platz in seinem Leben.
»Schaltet ihr ein heute Abend?«, frage ich die beiden zum Schluss.
»Na klar, das weisst du doch«, meint Ahmed gutmütig. Am liebsten würde ich mich von ihm mit einem Wangenküsschen verabschieden, aber dazu ist er nicht der Typ.
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Christof Lais Sperl
Klammeraffe
 Alter: 61 Beiträge: 844 Wohnort: Hangover
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 01.05.2022 09:30 spannens von Christof Lais Sperl
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Das ist spannend und schön zu lesen, man will durchaus erfahren, wie es weitergeht. Die Geschichte "zieht" geradezu in sich hinein. In der dritten Zeile hast Du 2x das Wort "hätte" drin. Sonst ist mir noch nicht viel an Ungereimtheiten oder Brüchen aufgefallen. Sagt man bei euch "an" eine Party? Bei mir hier oben im Norden wäre das eher auf eine Party. Ein cooler, charmanter Text. Mach' mal weiter so.
_________________ Lais |
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Esohe
Schneckenpost
E Alter: 40 Beiträge: 12 Wohnort: Schweizer Mittelland
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Grim Eselsohr

Beiträge: 223
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 09.05.2022 22:27
von Grim
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Ich fand den Anfang nicht so gut, ab "Dritte Gelegenheit" zieht es aber an und gefällt mir wesentlich besser.
Zitat: | Ich habe genau drei Gelegenheiten mich hübsch zu machen. Mich zu schminken, sorgfältig das richtige Outfit zu wählen, die passenden Schuhe und schicke Accessoires. |
Erster Gedanke: Das sind vier Gelegenheiten. Sprich mir wurde nicht klar, dass du mit Gelegenheiten Anlässe zum Hübschmachen meinst.
Dann kriegt man einen Einblick in Cynthias Charakter, das geht mMn auch klar bis zum Ede von Gelegenheit 1. Gelegenheit 2 war mir dann schon zu viel, und man fängt an zu schauen, wann die Aufzählungen zu Ende sind, weil man ja auch noch einen Redeschwall zu Gelegenheit 3 erwartet. Du musst dir überlegen, dass erst ab "deshalb eile ich motiviert " überhaupt irgendetwas passiert, alles davor sind Infos. Gerade am Anfang würde ich aber lieber versuchen, den Leser so schnell es geht mitzureißen.
Sobald es dann aber richtig losgeht, hat es mir gut gefallen, gerade die Beziehung zu den beiden Straßenverkäufern. Sie scheint ja öfter da Billigkram zu kaufen, und man fragt sich ob sie das für ihren Livestream tut oder um mit Ahmed ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig fragt man sich (vermutlich zusammen mit ihr), ob Ahmed auch etwas für sie empfindet, ob sie ihm egal ist oder ob er sie vielleicht sogar ein bisschen ausnutzt, um Krempel zu verkaufen. Im Endeffekt ist sie ja genauso Kundin wie die Touristin. Definitiv viel Potential für Konflikt.
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Ralphie
Forenonkel
 Alter: 70 Beiträge: 6632 Wohnort: 50189 Elsdorf
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 10.05.2022 11:16
von Ralphie
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... und küssen die Gastgeber zum Abschied auf den Mund.
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Jonas
Erklärbär
J Alter: 27 Beiträge: 2 Wohnort: Dresden
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J 10.05.2022 15:29 Man will wissen wie es weitergeht von Jonas
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Ich finde deinen Schreibstil auf positive Weise unkonventionell. Mein erster Gedanke war, "okay, das ist echt unvorhersehbar, nicht schlecht." Ich finde, dass durch die knappen Beschreibungen, ohne Einleitung, weitere Erklärungen oder Kontext, einfach durch diese nüchternen Sätze, nach und nach ein interessantes Bild mit vielen offenen Fragen entsteht. Ich habe mich gefragt, was das wohl für eine Person ist, die ihre Freundin nach einer Party mit einem Kuss auf den Mund verabschiedet, die in die katholische Kirche geht und die Freitags Youtube Streams macht. Dann war ich neugierig, wie sich das mit ihr und Ahmed entwickelt und wie generell ihr Umfeld ist, in was für einer Stadt sie wohl lebt, wie ihre Freundin so drauf ist und so weiter.
Ich war nach dem Lesen wirklich neugierig wie es weitergeht und ich mochte diesen eigenen Schreibstil schon nach ein paar Sätzen. Hat mir insgesamt gut gefallen. Wenn du es schaffst, diese Unvorhersehbarkeit und eigene Schreibweise über ein ganzes Buch hinweg durchzuhalten, Respekt
_________________ Das Leben ist ein Abenteuer |
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Esohe
Schneckenpost
E Alter: 40 Beiträge: 12 Wohnort: Schweizer Mittelland
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