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Karina. Die Geschichte einer Terroristin


 
 
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wunderkerze
Eselsohr
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Beitrag29.08.2022 16:52

von wunderkerze
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Was sie nicht wissen konnten, war dies: Die Aktion galt lediglich einem einzigen Mann mit Namen Abdallah ibn Muhammad ibn Awad ibn Azzim bin Azzim. Seine Karriere als Top-Terrorist begann, als er in den 1980er Jahren den Kampf der Mudschaheddin im Sowjetisch-Afghanischen Krieg mit Geld, Waffen, Ausbildungslagern und Bauprojekten unterstützte. Er wurde zur Identifikations- und Symbolfigur verschiedener islamistisch-schiitischer Terrorgruppen, die ihre Gewalttaten gegen die westliche Welt als Djihad zur Selbstverteidigung des Islam rechtfertigten. Diese Welt allerdings legte ihm mehrere schwere Bombenattentate zur Last, und so war er zu einem der meistgesuchten Terroristen weltweit avanciert. Mehrfach war er US-amerikanischen Drohnenanschlägen entkommen. Es gab zwar einen Haufen Verletzte und Tote, aber seltsamerweise war er nie darunter.
  Wahrscheinlich wäre er nie gefasst worden, wenn er sich nicht zum Ziel gesetzt hätte, das vergleichsweise liberale Regime des Landes zu stürzen und die „Christenhure“, wie er den Staatspräsidenten nannte, zu „eliminieren“. Bei einem Feuerüberfall auf eine Kaserne der Regierungstruppen töteten seine Leute mehrere Dutzend Soldaten, darunter den stellvertretenden Oberkommandierenden der Streitkräfte, sowie etliche hochrangige Zivilisten. Nun kannte die Staatsmacht keine Gnade mehr. Auf Befehl des Präsidenten und ohne Rücksicht auf irgendwelche Menschenrechte ließ der Geheimdienst reihenweise gefangene Kämpfer bin Azzims aufs grausamste foltern. So wurde sein Versteck verraten: Die alte Festung Charog-Zhoda in Afghanistan. Während seine Bodyguards mit Feldstechern nach amerikanischen Kampfdrohnen Ausschau hielten, hatten die Kellerratten die Gefahr schon längst gewittert: Sie kam von unten. Spezialkräfte der syrischen Sicherheitspolizei stiegen über dasselbe verzwickte System aus unterirdischen Gängen, Höhlen und Spalten in die Burg ein, das Bin Azzim jahrelang unerkanntes Kommen und Gehen ermöglichte. Als er lächelnd vor ihnen stand, staunten die Greifer: Vor ihnen stand ein schlanker, gepflegter Mann, dessen Erscheinung so gar nicht zu seinen Taten passen wollte.
   Sie brachten den Gefangenen in dieses Gefangenenlager, das als extrem aus- und einbruchsicher gilt, denn sie wussten, was er wert war. Bin Azzim übrigens auch. Nun hatte er den nächsten Karriereschritt getan: Er war vom gesuchten Terroristen zum kostbaren Verhandlungs-Pfand aufgerückt. Die Amerikaner hätten ihn gerne nach Guantanamo gebracht und seine Auslieferung gut bezahlt. Sie sahen in ihm einen der Drahtzieher des elften September 2011. Die Russen machten ihn für zwei Bombenanschläge in der moskauer Metro verantwortlich und hätten ihn gerne nach Sibirien geschickt.
 Der Tod? Jedermann wusste: Den fürchtete er nicht; als Märtyrer wäre er sofort zur Heiligen Zeinab aufgestiegen. Doch zur Befriedigung berechtigter Rachegelüste war er zu schade. Im Iran wurde er wie ein Volksheld gefeiert. Dort hieß er „al eam“, der General; die Mullahs hätten ihn gerne in ihre Arme geschlossen, denn auch sie wussten, was er wert war. Das Volk, wenn es schon nicht satt wird, soll sich wenigstens am Heldentum berauschen.
   Nur, wie bekam man ihn aus dem Bunker wieder heraus?
   Da sickerte durch, dass ihn das Regime an Russland ausliefern wolle, als Dank für geleisteten militärischen Beistand.
   Kurz darauf machte sich eine iranische Spezialeinheit auf den Weg.  
 
                                                                            *
   Während die Verteidiger in Gefechte am Haupteingang und beim Treibstofflager gebunden waren, drang eine Gruppe Kämpfer zu dem Hochsicherheitstrakt vor, wo Bin Nazzim in komfortabler Einzelhaft saß. Das geschah trotz der Dunkelheit derart zügig und zielstrebig, dass hier Insiderwissen geholfen haben musste.
   Die Tür zu dem Gebäude wurde aufgesprengt, die Wachmannschaft nach kurzem Scharmützel überwältigt. Nun verlangten die Rebellen die Herausgabe der Zahlenkombination für die Zellentür, denn es war unmöglich, auf mechanischem oder sprengtechnischem Wege in die Zellen zu gelangen. Doch plötzlich litten alle Wärter unter temporärer Amnesie. Welchen Zahlen-Code? Diese Leute wären eher den Märtyrertod gestorben als ihren kostbaren Gefangenen freizugeben. Was war schon der Tod? Ihre Frauen und Kinder hätten sie als Märtyrer gefeiert und von der Lohnfortzahlung sorgenfrei leben können. Allerdings – mit solch einem Tod, der ihnen jetzt offenbar blühte, hatten sie nicht gerechnet: Die Rebellen banden die sechs Bewacher zu einem Bündel zusammen. Dann öffnete einer einen Benzinkanister, ein anderer zog ein Feuerzeug hervor.

  Bin Nazzim starrt mit hellwachen und kalt-braunen Augen auf die Zellentür. Für ihn kommt die Befreiung nicht unvorbereitet. Auch ohne elektronische Kommunikationsmittel ist er stets gut unterrichtet. Als sich die schwere Tür öffnet, befiehlt er sofort den Rückzug; eine Staffel Kampfhubschrauber der Regierungstruppen sei eben gestartet. Wenige Minuten später, in vereinzeltes Karabiner-Geknatter und Soldaten-Gebrüll hinein, heulen Motoren auf. Dann setzen sich die Lastwagen, mit denen die Rebellen gekommen sind, in Bewegung. Sie halten genau auf das Ruinenfeld zu, in dem Abdelkarim vor wenigen Minuten verschwunden ist.

                                                                                 3
   Abdelkarim wäre beinahe abgestürzt; die untersten Sprossen fehlten, und seine Füße tasteten vergeblich nach einem Halt. Er blickte nach unten – ein schwarzes Loch von unbestimmbarer Tiefe. Mit spitzen Fingern lockerte er einen Stein aus dem Mauerwerk und ließ ihn fallen. Der dumpfe Aufprall erfolgte in weniger als einer Sekunde. Mutig sprang er ab und landete nach wenigen Metern auf einem Schutthaufen. Durch seine linke Wade zog sich ein stechender Schmerz.
   Im Brunnenschacht herrschte jetzt fast völlige Dunkelheit. Nur eine Stelle war noch dunkler als das Drumherum. Abdelkarim griff in den Schatten hinein: Leere, das Ende des Zuleitungsstollens, der vor langer Zeit den Brunnen gespeist hatte. Tastend stellte er fest, dass der Stollen innen ausgemauert und so hoch war, dass er darin in gebückter Haltung gut gehen konnte. Doch wohin führt er? Möglicherweise zig Kilometer geradeaus, um dann, wenn der Teufel es wollte, in irgendeiner schwarzen Karsthöhle zu enden.
    Doch ein Zurück gab es nicht. Das Motorgedröhn des Lastwagens kam immer näher.
    Er streckte die Arme aus und setzte sich langsam in Bewegung, bei jedem Schritt den Boden mit den Füßen abtastend. Die Finsternis lag auf ihm wie ein schwerer schwarzer Mantel. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass der Stollenboden frei von herabgestürztem Mauerwerk und Geröll war, bei einem so alten Bauwerk doch ziemlich erstaunlich. Es schien, als habe hier jemand vor noch nicht allzu langer Zeit gründlich aufgeräumt.
   Nach etwa hundert Schritten veränderte sich die Akustik. Er tastete sie Wände ab und entdeckte einen Abzweig nach rechts. In diesem Moment wurden vom Brunnen her Stimmen laut, und der dünne Strahl einer Taschenlampe glitt durch den Gang.
   Abdelkarim fühlte, wie ihm die Knie weich wurden, doch er besaß die Geistesgegenwart, sich blitzschnell in den Seitengang hineinzuwerfen. Dort landete er schmerzhaft auf einem Haufen scharfkantiger Steine. Er kroch hinter den Haufen und steckte die Nase in den Staub. Schritte kamen näher – und hielten an. Wieder Schritte, und wieder – auch sie verharrten. Sie haben einen ganzen Suchtrupp hinter mir hergeschickt, dachte er verzweifelt, und im nächsten Moment haben sie mich . . . Allah, hilf! Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
  Doch seltsam: Die mutmaßlichen Verfolger kümmerten sich überhaupt nicht um den Gang. Er hörte ihre rauen Stimmen. Jemand sagte: „Sie sind im Anflug!“
   „Sollen sie! Die verdammten Hunde werden sich wundern“, erwiderte ein anderer und lachte kratzig. „Allah möge sie strafen!“
   „Meinst du, dass sie auf den Trick hereinfallen?“
   „Schon möglich oder auch nicht. Ist auch egal. Uns finden sie nicht. In ein paar Sekunden ist von dem Brunnen so gut wie nichts mehr zu sehen.“
      Eine Detonation rollte durch den Stollen, gefolgt von einer dicken Staubwolke, die auch den Steinhaufen einhüllte. Der Nachhall verklang, nun war auch das Geräusch von Schritten wieder zu vernehmen.
   Abdelkarim hob vorsichtig den Kopf und spähte in den Stollen. Durch den Staub hindurch erkannte er, dass es sich bei den Männern nicht um Soldaten aus der Anstalt handelte, sondern um die Rebellen, die eben das Lager angegriffen hatten. Zusätzlich zu ihrer Bewaffnung schleppten sie sich mit Kanistern und prall gefüllten Säcken ab. Einige hatten Taschenlampen in der Hand. Abdelkarim zählte acht Männer.
   Erleichtert atmete er auf. Einen Moment überlegte er, ob er sich ihnen anschließen sollte, schließlich kannten sie den Weg. Und sie hatten Licht. Doch nüchtern betrachtet war das kein guter Gedanke. Würden sie ihm glauben, dass er nicht zum Gefängnispersonal gehörte?
    Schon hörte er ihre zynischen Bemerkungen. Ha, du Hornochse, binde uns keinen Bären auf! Ein Gefangener als Küchenbulle? Wo ist denn deine Sträflingskleidung? Die hing hinter der Küche am Haken. Gekocht wird in Weiß. Das kannst du deiner Oma erzählen! Dann zeig uns mal deine Narben! Hatte er nicht, denn die grausamsten Quälereien waren ihm erspart geblieben. Er war ja nur der allerkleinste Fisch im Meer der Verleumdungen . . . Ein Arschloch bist du und gehörst vor die Wand gestellt! Und sollten sie ihn trotzdem nicht vor die Wand stellen, würden sie ihn sofort rekrutieren. Und nach einer Karriere als Totschläger oder Bombenwerfer stand ihm überhaupt nicht der Sinn.
   Er stand auf, kroch über den Steinhaufen und lugte um die Ecke. Die Karawane entfernte sich, ihr Licht war nur noch ein matter Schimmer. Er rieb seine schmerzende Wade und wartete, bis aus dem Schimmer ein winziger blasser Punkt geworden war. Dann ging er los.

                                                      *               
      „Da sind sie! Halb zwei Uhr, etwas dreitausend Meter!“ Der Musaeid Altayar nahm das Nachtsichtgerät von den Augen. „Die feigen Hunde wollen sich tatsächlich aus dem Staub machen! Der Scheitan wird sie holen!“
   „Bist du sicher? Die sind doch nicht so dumm, und bieten sich uns auf dem Präsentierteller an.“
   „Natürlich bin ich sicher! Die beiden Lastwagen, die Khamir gemeldet hat. Sind deutlich an ihren großen Motoren zu erkennen. Und wer soll das denn sonst sein?“
   Erneut blickte der Musaeid Altayar durch das Fernglas. „Sie fahren mit Höchstgeschwindigkeit. Wahrscheinlich haben sie uns bereits gehört und die Hosen voll!“
   Der Naqib sprach etwas ins Mikrofon, dann schwenkte der Helikopter auf halb zwei Uhr, die anderen Kampfhubschrauber der Staffel flogen in Richtung Gefängnislager weiter.  
   „Anscheinend wollen sie zur libanesischen Grenze. Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, den Schiiten dort freie Hand zu lassen. Jetzt sehen wir das Ergebnis. Qual as-Sad brennt, und Damaskus ist ein Vorort von Teheran!“
   Der Hubschrauber nahm an Fahrt zurück und ging hinunter.
   „Ich gehe bis auf tausend Fuß heran“, sagte der Naqib, „dann feuern wir!“    
   Ein kurzer Befehl, schon schossen zwei Leuchtspurgranaten aus dem Helikopter und verwandelten sich in Sekundenschnelle in aufsprühende Feuerbälle.
   „Das muss der Neid den Russen lassen“, lobte der Musaeid Altayar, „ihre Raketen treffen! Schauen wir uns das Ergebnis mal an.“
   Der Hubschrauber zog eine Schleife und stand dann über dem ersten qualmenden Trümmerhaufen still. „Geh mal weiter herunter“, sagte der Copilot, „und mach mal Licht an. Irgendetwas stimmt da nicht!“    
   Der Strahl des Außenbordscheinwerfers zielte genau auf das brennende Wrack. „Tiefer!“
   Nun stand Helikopter keine fünfzehn Meter über den verlöschenden Flammen, Qualm, Staub und Trümmerteile aufwirbelnd.
   „Verdammt!“, rief der Musaeid Altayar plötzlich, „sie sind uns entwischt! Oder siehst du hier irgendwo verkohlte Leichen? Es war eine gottserbärmliche Finte! Die Lastwagen waren leer! Sie haben die Gashebel festgeklemmt. Und wir Hornochsen sind wie Kleinkinder darauf hereingefallen!“
   Der Naqib grinste. „Hab mich auch schon gewundert! Kann mir nicht vorstellen, dass sie von der Hubschrauberstaffel nichts gewusst haben. Dann sind sie zu Fuß unterwegs, in eine ganz andere Richtung.“
   „Zu Fuß? Bei dem offenen Gelände? Glaub ich nicht! Ich denke, sie haben sich irgendwo verkrochen.“
   „Vielleicht da vorne in dem Ruinenfeld!“, sagte der Naqib.
   Der Helikopter hielt auf das Ruinenfeld zu, der Musaeid Altayar suchte das Gelände sorgfältig ab. „Nichts“, murmelte er nach einiger Zeit, „nicht der Rest von einem Rattenschwanz. Keine Wärmequelle zu erkennen.“
   „Vielleicht haben sie ja kalte Füße bekommen“, witzelte der Schütze.
    „Leuchte mal in dass Loch da,“ befahl der Musaeid Altayar. Der Lichtstrahl stand eine Weile über dem ehemaligen Brunnen.
   „Hm“, brummte der Hauptmann, „Steine, nichts als Steine.“
   Der Hubschrauber gewann wieder an Höhe und flatterte davon.
   „Ich gebe eine Meldung an die Einsatzleitung durch“, sagte der Copilot. „Sie sollen das Gelände großräumig abfliegen.“   
F. f

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Beitrag04.09.2022 17:44

von wunderkerze
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Der schwarze Engel

                                                                              1   
   Er wusste nicht mehr, wie lange er sich schon in diesem stockfinsteren Tunnel vortastete. Nur eines wusste er genau: Er hatte den Abzweig verpasst, den die Rebellen genommen hatten, um wieder zurück an die Erdoberfläche zu gelangen. Verdammt, dachte er, ich hätte ihnen folgen sollen. Die wussten, wo es lang geht! Nun ist es zu spät.
  Seltsamerweise empfand er keine Angst. Allah hat mir geholfen, warum sollte er mir nicht auch weiterhin helfen?
   Mit schmerzenden Füßen und gebeugtem Rücken stolperte er weiter. Um die Müdigkeit zu vertreiben begann er laut zu singen. Es war ein feines Lied, ein erhabenes Lied, ein altes Lied vom Dagh Kurd, das ihm seine Großmutter, die Jida, beigebracht hatte. Seit undenkbaren Zeiten sangen es die Menschen in den Weinbergen:


Die Blumen im Garten verwelken wie Heu,
doch nicht meine Liebe zu dir, Sheila.  
Wenn die Haare auch grau und der Rücken krumm
und der Glanz der Jugend dahin, erlischt doch
nicht meine Liebe zu dir, Sheila.

Seit ich dich das letzte Mal gesehen,
bin ich ein Adler mit gebrochenen Schwingen.
Mein Herz schlägt wie ein Segel im Sturm,
denk ich an dich, Sheila! Ach könnt ich doch
übers schäumende Meer zu dir fliegen.

   Die schwermütige Melodie, beflügelt durch die glatten Wände des Stollen, eilte dem Sänger voran. Auf einmal änderte sich die Akustik. Was eben noch weithallend dahinflog, klang jetzt kurzatmig-gezügelt. Und noch etwas anderes ließ Abdelkarim mitten im Vers einhalten: Da singt doch noch jemand! Er schwieg, auch der andere Sänger schwieg. Und wieder begann er:

  „Die Blumen im Garten verwelken wie Heu –“,

wieder erklang die Stimme des anderen Sängers. Sie kam von rechts und war eindeutig die Stimme eines jaulenden Hundes.
   Abdelkarim ging mit vorgestreckter Hand weiter und verspürte von rechts her er einen leichten Luftzug. Etwas sprang an ihm hoch und versuchte winselnd, ihm das Gesicht zu lecken. –
   Der Islam ist eine Religion, in der Hunde traditionell eher schlecht abschneiden. Sie gelten gemeinhin als unreine Tiere, denen man lieber aus dem Weg geht. In islamischen Ländern haben sie daher auch keine besonders große Tradition als Haustiere. Nach strenger islamischer Auffassung ist das Halten von Hunden als Wach- oder Hütehunde die einzige Ausnahme. Durch diese Aufgaben erfahren sie eine bestimmte Form der Anerkennung. Wichtig ist dabei, dass der Hund nicht ins Haus oder in die Wohnung kommt. Im Koran heißt es, dass Engel keine Häuser betreten, in denen sich Hunde aufhalten. Schwarze Hunde, zum Beispiel, dürfen getötet werden, ebenso beißende.
   Doch nun sah die Sache anders aus.
   Hund, solltest du schwarz sein, rief Abdelkarim beglückt, so bist du doch ein Engel . . . du bist Azra-il, der Dunkle, der, dem Gott hilft. Mit Gottes Hilfe wirst du mich aus der Finsternis führen. Er folgte dem leise winselnden Tier.
   Der Stollen stieg jetzt stetig an, und bald sah Abdelkarim vor sich einen schwachen Lichtschein. Nach hundert Schritten stand er in einer Höhle, durch deren schmale Öffnung die aufgehende Sonne schien. Also war er die ganze Nacht gegangen. Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken und war kurz darauf eingeschlafen.
   Der Hund, in dem das Blut unterschiedlichster Rassen pulste, blickte den Menschen mit aufgestellten Ohren aufmerksam an. Allmählich sank sein Kopf herab; dann rollte er sich zu dessen Füßen ein.
                                                                                  2
   Devrim ibn Makarios liegt mit geschlossenen Augen da. Er hat sich die halbe Nacht nach Schlaf gesehnt, doch der wollte nicht kommen. Schuld ist eine Nachricht, die der regierungsnahe Sender SR-TV um ein Uhr Ortszeit ausstrahlte.
   Sie ist einfach zu beunruhigend. Sollte sie sich bewahrheiten, wäre das der Anfang vom sicheren Ende. Trotzdem gelingt es ihm jetzt, um halb sechs frühmorgens, in eine Art dumpfe Teilnamslosigkeit zu versinken, aus der er aber schon nach kurzer Zeit wieder hochschreckt. Er hat den Eindruck, dass ihn jemand beobachtet, und zwar schon eine ganze Weile. Benommen schlägt er die Augen auf und sieht in das brennende Gesicht seines Sohnes Gabriel.
   Ein ungehaltener Zug erscheint auf dem übermüdeten Gesicht des Vaters, verschwindet aber sofort wieder. Ein Sohn darf seinen Vater während des Schlafs nicht beobachten, so will es ein ungeschriebenes Sittengesetz.
   Mit milder Strenge fragt er: „Was willst du hier? Wo ist Mummy?“
   Während der Vater spricht, ahnt Gabriel, dass er etwas Unstatthaftes getan hat, denn seine Hände wissen nicht, wohin. „Mummy ist ausgegangen, Zatar holen, und ich hab solche Angst!“
   „Wovor mein Sohn?“
   Noch während Makarios die Frage ausspricht, weiß er, wie töricht sie ist. Seit einigen Tagen wird fünfzehn Kilometer nordöstlich gekämpft, und die Detonationen sind besonders nachts bis in dieses abgelegene Dorf zu hören. „Geh auf die Terrasse“, sagt er, „ich komme gleich nach!“
   Während er sich im Badezimmer sorgfältig die Wangen ausrasiert, stellt er das kleine Kofferradio an. Die Uhr zeigt kurz vor sieben, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Die Musik verstummt, und die Nachrichtensprecherin vermeldet:

   Bei einem Angriff auf ein Gefängnis nahe der Bezirkshauptstadt sind gestern Nacht 32 Menschen getötet worden. Nach Angaben des Justizministeriums hatten Mitglieder der Terroristen-Organisation Ad-Daula al-Islāmīya den Angriff am Samstagabend durchgeführt.
   Der Überfall erfolgte am späten Abend gegen 21.30 Uhr Ortszeit. Zuerst durchbrach ein Armeelaster das Haupttor, dann bombte ein Selbstmordattentäter ein Loch in die rückwärtige Seite der Anstaltsmauer, wie der stellvertretende Gefängnischef Abdul Khamir erklärte. Weitere Aufständische versuchten, das Gefängnis zu stürmen, was von den Sicherheitskräften vor Ort vereitelt wurde. Dabei kam es zu heftigen Feuergefechten. Etwa 30 Minuten lang waren Explosionen zu hören, mehrere Abteilungen des Gefängnisses gerieren in Brand. Eine Spezialeinheit des Militärs griff ein, tötete 24 Rebellen und überwältigte weitere 35. Den Behörden zufolge ist die Situation gegenwärtig unter vollständiger Kontrolle.

   Makarios lässt mit keiner Miene erkennen, was er von dieser Nachricht hält. Er hat sich angewöhnt, überhaupt keine Miene zu verziehen, zu welchem Anlass auch immer, auch nicht vor dem eigenen Spiegel. Vielleicht ist das ja der Grund, warum er trotz seines Alters immer noch fast faltenfreie Wangen hat. Und vielleicht ist das der Grund, warum er immer noch in seinem Haus lebt, obwohl sein Personalausweis immer noch auf dem Amt in Kobaniye liegt.
   Devrim ibn Makarios beendet seine Toilette und stellt das Gerät wieder ab. Dann geht er hinaus auf die Terrasse.
   Gabriel sieht seinen Vater gespannt an, als erwarte er noch weitere Verweise. Doch Makarios schweigt. Schwere Gedanken lasten auf seiner Seele. Die beiden Meldungen – jene in der Nacht und diese eben – jede für sich schon eine Katastrophe. Er gibt sich keinerlei Illusionen hin. In diesem Gefängnis saßen hunderte von Terroristen aus dem Iran, grübelt er, nun sind sie frei, und ihre Rache wird fürchterlich sein. Wie die Teufel werden sie sich auf die Kurden am Ras al Ain, in Deir el Zor, Al Hol, Afrin und anderswo stürzen und sie dafür bestrafen, dass sie ihre IS-Brüder gefangen halten. Selbst diesen gottverlassenen Aul werden sie nicht verschonen. Wenn die Amerikaner abgezogen sind, werden die Türken mit uns das Gleiche tun, was sie schon an den Armeniern vorexerziert haben: Sie werden uns vertreiben. Nicht mehr so grausam wie vor hundert Jahren, aber nicht weniger gründlich.    
   Eine seltsame Verlegenheit ergreift ihn. Ihm ist, als sei er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben mit seinem Sohn alleine. Seitdem sie am Dagh Kurd sind, hat er kaum Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern, und wenn, dann häufig nur bei Tisch. Als Mufti des weitläufigen Sprengels ist er viel unterwegs und kehrt häufig erst spät abends, staubig und müde, heim. –
   Es ist so schon ein eigenartiges Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn im Morgenland! Das lässt sich kaum mit der oberflächlichen Beziehung zwischen Vater und Sohn in Europa oder Amerika vergleichen. Wer hier seinen Vater sieht, erblickt Gott. Dann: Dieser Vater ist das letzte Glied in der ununterbrochenen Ahnenkette, die den Menschen mit Adam und dadurch mit dem Ursprung der Schöpfung verbindet. Oder, wie ein altes kurdisches Sprichwort sagt: Der Vater ist das Rückgrat eines Menschen.
   Aber auch der Vater, der seinen Sohn sieht, sieht Gott. Denn dieser Sohn ist das nächste Glied, das den Menschen mit dem Jüngsten Gericht, dem Ende aller Dinge, verbindet. Müssen da nicht in solch heiligmäßigem Verhältnis Scheu und Wortkargheit aufkommen?
   Um ein Gespräch in Gang zu bringen ergreift Makarios ein Mittel, dass wahrscheinlich schon Adam seinen Söhnen Kain und Abel gegenüber angewandt hat: Er fragt Gabriel, was er gestern in der Schule gelernt hat, denn heute ist Sonntag. Und Gabriel antwortet, wie auch Kain und Abel möglicherweise geantwortet haben: „Oooch, nichts Besonderes.“
   „Aber etwas musst du doch gelernt haben! Oder willst du behaupten, Mamoste Sahali verdient sein Geld mit Nichtstun?“
   „Natürlich nicht!“
   „Also, worüber habt ihr gestern gesprochen?“
   „Physik, Geschichte, Erdkunde.“
   Erdkunde! Makarios ahnt, was seinen Sohn verstört, denn so maulfaul ist er normalerweise nicht.
   „Soso, Erdkunde . . . Was hat Herr Saheli gesagt?“
   Gabriel schweigt.
   „Nun komm schon!“
   „Er hat uns den Weg nach Latakia beschrieben.“
    Makarios ist sofort im Bilde. Vor dort  gehen die Schiffe nach Zypern ab.
   „Und weiter?“
   Gabriels kluges Gesicht verzieht sich schmerzlich. „Wir sollen zum Pire beraz gehen und von dort weiter Richtung Süden auf der N5.“
   Gabriel wirft sich an seinen Vater, vergräbt sein Gesicht in dessen Berdilk und stammelt: „Vater, müssen wir wirklich weg?“
   Makarios beschließt, mit seinem Sohn ein Gespräch unter Männern zu führen, denn mit dreizehn Jahren ist Gabriel kein Kind mehr.
   „Ja“, sagt er, „so sieht es leider aus!“ Dann erklärt er ihm die Nachrichtenlage. Jetzt bemerkt er, dass Gabriel seine, des Vaters, Hand fest umklammert hält, und er lässt es zu.
    „Vater, muss das denn sein?“ Gabriel stehen die Tränen in den Augen.
   „Ich fürchte ja, mein Sohn. Uns bleibt keine andere Wahl. Die türkische Regierung hasst uns, und sollten sie uns am Leben lassen, werden sie uns als erstes unsere Sprache verbieten, und statt Gabriel muss ich dich Abdullah nennen.“
   „Sie hasst uns? Aber warum denn? Wir haben ihnen doch nichts getan. Und Herr Ücalan war doch immer nett zu uns und wir zu ihm.“
   „Herr Ücalan ist nicht die türkische Regierung.“
   „Papa, wohin werden wir dann gehen?“
  „Das weiß Gott allein! Komm, laufen wir ein Stück.“
   Sie verlassen die Terrasse, und Makarios steuert ein bestimmtes Ziel an. Nach einiger Zeit erreichen sie eine mit Steinen übersäte Felsplatte, so geräumig, dass sie mehreren Häusern Platz bieten könnte. Die Stürme freilich und die Trockenheit sorgen dafür, dass sich dort gerade mal ein paar Dornsträucher und einige lederharte Agaven halten können. Die wie freischwebend wirkende Fläche, auf einem weit ins Land vorspringendem Bergsporn gelegen, bricht plötzlich und so steil ab, dass ein Selbstmörder, der sich vom äußeren Rand in die Tiefe stürzt, in dem hundert Meter tieferen Wadi aufschlüge, ohne sich an den Rändern zu verletzen.
   Makarios weist auf eine eigenartige Felsformation jenseits des Tales hin. „Siehst du die Spitze dort? Das ist Pire Beraz, der Schweinerüssel. Dahin –“
   Der Knabe fällt dem Vater inbrünstig ins Wort.
   „Lass uns hier bleiben, Papa, lass uns bleiben, bitte bitte! Auch Mama und der Dapir gefällt es doch gut in unserem Haus!“
   Makarios sieht seinen Sohn, dessen Gesicht vor Eifer und Enttäuschung glüht, erstaunt an. Dieses Kind, das sich bisher nie sonderlich für den Dagh Kurd und seine Geschichte interessiert hat, ist auf einmal von Heimatgefühlen entbrannt. Ein Schwall heißer Liebe durchströmt ihn. Er ist von unserem Stamme, denkt er, obwohl seine Mutter eine Jesidin ist.  
   Inzwischen sind sie, ohne dass es ihnen bewusst war, näher an die Steilkante herangetreten. Tief unter ihnen flimmert die endlose und staubige Einöde unter glasiger Sonne, aus der hier und da seltsame Steingebilde aufragen. Noch zehn Schritte, und wir sind frei . . .
   Nach Knabenart will Gabriel bis zum Rand vorlaufen, doch Makarios reißt ihn heftig zurück und umklammert seine Hand.
   „Das ist auch keine Lösung“, murmelt er.
F.f

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Beitrag11.09.2022 12:25

von wunderkerze
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*
   Gabriel liegt in seinem Bett und kann nicht einschlafen. Zwar ist es hinter dem Horizont jetzt ruhig – entweder sind die Kampfhandlungen eingestellt oder der Wind hat gedreht – aber das Gespräch mit dem Vater am Vormittag lässt ihm keine Ruhe. Obwohl er noch keine Ahnung hat, was Flucht und Vertreibung wirklich bedeuten, sieht er immer wieder eine schwarze Wolke auf sich zukommen, die ihm den Schlaf raubt. Fast noch bedrückender ist die Vorstellung, dass ihn jemand hasst. Wo er doch immer und zu allen Menschen freundlich ist!
   Er gleitet aus dem Bett und schleicht auf nackten Sohlen zum Zimmer der Dapir. Sie sitzt beim Schein einer Tischlampe auf ihrem alten Sessel und stopft Strümpfe.
   Gabriel öffnet leise die Tür. „Großmutter, ich kann nicht einschlafen“, flüstert er, „erzählst du mir eine Geschichte?“
   Die Dapir lässt den Stopfpilz sinken. Sie kann den Knaben gut verstehen. Auch sie kann nicht einschlafen. Sie weiß: Eine Vertreibung wird sie nicht überleben. Den Tod fürchtet sie nicht, aber Hunger und Kälte. Wo sie doch jetzt sogar im hohen Sommer friert. Und der Winter steht vor der Tür.
   „Geh in dein Bett“, sagt sie, „sonst erkältest du dich noch. Ich komme gleich.“
 
   Draußen singen die Zikaden, als bekämen sie es bezahlt. Die Dapir schließt das Fenster, denn ein kalter Luftzug weht herein. Dann setzt sich sich zu Daniel auf den Bettrand und beginnt:
   „In einem jesidischen Dorf im Serhed-Gebiet lebte vor langer Zeit ein Bauer. Neben seinem Gemüsebeet gab es einen Felsen, unter dem sich ein Schlangenloch befand. Der Bauer rührte weder die Schlange noch den Felsen an, denn eine Schlange zu töten bedeutet das Unglück zu wecken. Dafür holte die Schlange jeden Tag ein Goldstück aus ihrem Loch und legte es für den Bauern hin. Jeden Morgen stand der Bauer früh auf und begab sich zum Felsen, wo die Schlange lebte –"
   Gabriel unterbricht.  
  „Das hast du mir schon dreimal erzählt! Die Söhne des Bauern schieben den Felsen weg und erschlagen die Schlange. Und dann ist das Gold weg und die Ernte verdorrt! Hast du nicht eine andere Geschichte?“
   Die Dapir überlegt nicht lange. Geschichten erzählt sie für ihr Leben gern – wenn es auch immer dieselben sind. Obwohl, obwohl – auch das muss gesagt werden – sie spricht ziemlich undeutlich. Wie man so spricht, wenn man kaum Zähne im Mund hat und das künstliche Gebiss draußen. Aber auf eine klare Aussprache kommt es Gabriel nicht an. Er will ihre Stimme hören, diesen leicht schwebenden Singsang, der ihm schon oft in den Schlaf geholfen hat. Und dass sie immer dieselben Geschichten erzählt empfindet er eher beruhigend als langweilig.
   „Na gut, dann erzähle ich dir jetzt die Geschichte von den Adlern und den Hühnern.“ Die Dapir räuspert sich.
   „Einst, zur Zeit des ehrwürdigen Scheikh Adis ibn Mustafir, versammelten sich einige Adler auf dem Berg Dschabal Sindschar. Sie sagten: Lasst uns Hühner jagen. Ihr Fleisch ist sauber und schmeckt einfach gut.
   Der König der Adler bekam die Unterhaltung mit. Er berief die Adler zu sich und fragte sie: Ich weiß, ihr seid Adler, seid tapfer und stark, aber ich will euch eine ganz einfache Frage stellen. Kennt ihr die Hühner und Hähne gut, wisst ihr um ihre Stärke? Wenn ihr gegen sie in den Krieg zieht, werdet ihr gegen sie bestehen können?
   Die Adler sagten: Bei Schemga-el! Wir haben kein Ahnung um ihre Stärke –“
   Gabriel richtet sich auf. „Dapir, du flunkerst!“, ruft er, „das letzte Mal sagtest du Derda-el!“
   „So, sagte ich das? Dann habe ich mich eben geirrt. Nun weiter. Der König sprach: Auch ich liebe das Fleisch der Hühner, deshalb habe ich sie schon mehr als einmal beobachtet. Ihre Hähne sind groß und stolz, ihre Statur wird selbst von den Menschen bewundert. Sie haben zwar den Hintern eines Huhns aber den Mut eines Löwen. Sie tragen Soldatenkleider, als würden sie jederzeit für den Krieg bereit sein. Gott bewahre unseren Hals von den Kriegen, die sie untereinander führen. Wenn sie gegeneinander kämpfen, bebt die Erde. Wenn die Hähne sich zusammentun, werden sie große Kriege führen können.
    Die Adler erwiderten: Aber was können wir tun, großer König? Wir wollen das Fleisch der Hühner fressen. Was für einen Vorschlag machst Du uns?
   Der König sprach: Wir werden einige unserer Boten zu ihnen senden, ihnen einen Besuch abstatten, mit ihnen reden, um ihre Stärke und Einheit erfahren, bringt mir diese Informationen. Danach werde ich euch einen Vorschlag machen. Wenn wir einsehen müssen, dass sie stark sind, sogar stärker als wir, dann kommen wir gegen sie nicht an, und ihr vergesst ihr Fleisch. Aber wenn sie schwach und uneins sind, so bin ich mit euch und ihr greift sie an!
   Der König sandte seine besten Boten zum Stamm der Hühner, zum Führer der Hühner. Die Boten machten sich auf den Weg. Sie sahen, wie jeder Hahn einige Hühner um sich versammelt hatte, aus ihrer Mitte tönte Gegacker und die Hähne prahlten. Aus der Ferne begrüßten sie die Boten. Die Hähne krähten laut, hoben die Schnäbel, bedrängten sich gegenseitig, und jeder sandte einzeln seine Grüße.
   Das Oberhaupt der Boten fragte: Wer ist euer Anführer? Wir wollen uns mit ihm gerne zusammensetzen, reden, diskutieren und ihm die Grüße unseres Königs überbringen.
   Wieder drängelten die Hähne und jeder begann zu sprechen: Ich bin es! Ich bin es! Ich bin es . . .“
   Gabriel kuschelt sich tiefer in sein Bett. Wie herrlich doch die Dapir erzählen kann! Da vergisst man alle Sorgen!
   „. . . Boten: Wer ist euer Führer? Wer ist euer König? Wieder sagte jeder Hahn einzeln: Ich bin es! Ich! Ich!
    Die Boten fragten: Wer ist euer General für den Krieg? Die Hähne einzeln: Ich bin es, ich! Ich! Die Boten der Adler konnten nichts verstehen, sie kehrten zurück zu ihrem König und berichteten ihm, was sie gehört und gesehen hatten.
   Da lachte der König der Adler und sagte: Ha! Jetzt weiß ich, was ich euch vorschlage. Greift sie an! Sie können gegen euch nicht bestehen. Dort, wo jeder ein Anführer ist, dort gibt es keinen Anführer, keinen General, keine Einheit. Sie sind ohne Verstand.
   Die Adler griffen die Hühner an und verübten ein Massaker an ihnen. Bis heute leidet der Stamm der Hühner unter den Adlern. Egal was sie tun und lassen, sie können sich von der Tyrannei der Adler nicht befreien. Aus diesem Grund gibt es bis heute keine Einheit unter den Hühnern. Untereinander kämpfen ihre Hähne wie Krieger, ohne Angst und Furcht, als würden sie einander ausrotten, aber wenn die Adler kommen –"
   Gabriel ist eingeschlafen und schnarcht leise. Die Dapir legt die Hände übereinander, blickt in Richtung Sonnenuntergang und murmelt: „O mein Herr, sei uns gnädig und richte deine Augen auch auf deine Anhänger und auf unsere ganze Familie. O mein Herr, sei uns gnädig um des gnädigen Gottesthrones willen und um des Meeres der heiligen Geister willen. O mein Herr, von dir erbitten wir Religion und Glauben. O mein Herr, sei uns gnädig um des glutroten Lichtes der untergehenden Sonne willen und um des Herrn von Hakkari und des Herrn der Höhle willen. O mein
Herr, frage dieses Mal auch nach dem Wohlergehen deiner Anhänger, die dich verehren. O mein Herr, sei uns gnädig um der sieben Engel willen und um den Engel  Engel Taus-i-Melek, der die Schlüssel in Händen hält. Auch sie stehen im Angesicht des erhabenen Gottes.“
   Die Dapir beugt sich vor und drückt Gabriel einen Kuss auf die Stirn. Dann steht sie auf und schlurft zurück in ihr Zimmer. Das Erzählen hat sie beruhigt, das Gebet hat ihr Kraft gegeben. Wenn nichts mehr dazwischen kommt, wird sie ein paar Stunden schlafen können.
F.f

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Beitrag18.09.2022 13:13

von wunderkerze
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3
  Ein leises Klagen breitete sich wie der Nachhall einer alten, traurigen Geschichte aus. Es war ein seltsames An- und Abschwellen, das aus anscheinend großer Entfernung  herüberwehte, und das er nicht mit dem Ohr, sondern mit den straff gespannten Saiten seines Unterbewusstseins wahrnahm. Jetzt  kam das Klagen näher, wurde lauter, deutlicher; es schlängelte sich wie ein tönender Drache durch seine Traumtrunkenheit. Kein Zweifel: Da klagte ein Kind, das den Verlust seiner Eltern beweinte.
   Woher kommt denn das Kind?, dachte er benommen und schlug die Augen auf. Im Übergang vom Traum zur greifbaren Wirklichkeit – nicht der Realität, denn das Traumerlebnis wird oft intensiver empfunden als manches Alltagsgeschehen – benötigte er eine Weile, um seinen Ort zu finden. Dann richtete er sich auf: Vor ihm saß der Hund und heulte ihn mit großen Augen an. Graues Fell, schwarze Schnauze, krumme Beine, nicht besonders groß, nicht besonders klein. Als das Tier sah, dass sich der Gegenstand seiner Liebe bewegte, kroch es auf ihn zu und versuchte, ihm das Gesicht zu lecken. Abdelkarim wehrte den Gunstbeweis mit der Hand ab und rief einen strengen Befehl; sofort zog der Hund den Schwanz ein und verkroch sich in einer Ecke der Höhle, von wo aus er seinen neuen Lebensgefährten nicht aus den Augen ließ.  

     Abdelkarim stand auf, und schon meldete sich der Schmerz in der linken Wade. Jetzt war auch die Erinnerung wieder da, in der ganzen Fülle ihrer Grausamkeit. Doch die Situation ließ kein Nachdenken zu, er bückte sich, krempelte das Hosenbein hoch und besah sich die Wunde. Sie war klein, rundlich, leicht gerötet, aber nicht blau. Er wendete das Bein: Auf der anderen Seite sah es ähnlich aus, nur lag die Wunde weiter oben.Ein glatter Durchschuss im äußeren Wadenbereich, weit am Knochen vorbei. Mit etwas Glück heilt der Schusskanal von selbst ab, dachte er. Er ließ das Hosenbein wieder herunter.
   Inzwischen war der Hund leise winselnd wieder heran gekrochen. Er richtete sich auf und blickte den Menschen hechelnd an. Abdelkarim tat jetzt etwas, was ihm in seinem früheren Leben nie eingefallen wäre: Er kraulte dem Hund das Kinn, worauf der dankbar die Augen schloss und heftig mit seiner kümmerlichen Rute wedelte.
   Nun betrachtete er das Tier genauer. So heruntergekommen wie es die Umstände nahegelegt hätten sah es nicht aus. Gut, er war mager und abgezehrt, und sein grau-braunes Fell wies Kampfspuren auf. Das rechte Hinterbein fehlte. Ausgehungert wohl, aber nicht am Rande des Hungertodes. Ein Hund findet immer etwas, wovon er sich ernähren kann: Einen toten Vogel, einen halb verfaulten Granatapfel, eine lahme, einäugige Katze, einen verirrten Goldhamster – sogar vor einem verendeten Artgenossen schreckt er nicht zurück. Dabei ist er kein Kannibale; er stillt nur seinen Hunger, strebt nicht um Ruhm und Ehre.
   Das Erstaunlichste aber war die Sauberkeit des Tieres. Sein Fell, obwohl lädiert und vor Kummer stumpf, war frei von groben Verschmutzungen. Also bist du doch ein Engel . . . du bist Azra-il, von Allah gesandt, um mich ins gelobte Land zu führen! Es war ein Hirngespinst, doch eines von der Sorte, die dem Menschen Zuversicht und Antrieb verleihen.
    Abdelkarim merkte jetzt, wie durstig er war. Sagten wir schon, dass er auf dem Weg zu den  Ruinen seine Wasserflasche verloren hatte? Jetzt stellte er´s schmerzlich fest. Er sah sich um. Irgendwo in dieser Höhle muss Wasser sein, sonst wäre der Hund nicht hier. Als habe das Tier seine Gedanken erraten, humpelte es in eine dunkle Ecke der langgestreckten Fels-Behausung und ließ von dort ein aufmunterndes Winseln hören. Dort war eine Nische im Gestein, aus dem es sparsam tröpfelte. Darunter hatte sich eine Laache gebildet, ein Rest der Fluten, die vor langer Zeit diesen Bewässerungskanal gespeist hatten. Der Hund senkte den Kopf und schleckte; der Mensch ließ sich nieder und schöpfte das Wasser mit hohlen Händen. Dann aß er ein halbes Fladenbrot, wobei ihn der Hund gierig beobachtete.
   „Ich kann dir leider nichts abgeben, Azra-il“, murmelte Abdelkarim, „es reicht kaum für mich.“
    Er ging zum Höhleneingang und lugte vorsichtig nach draußen. Die Sonne, zum Untergang bereit, stand über farbig zerwühlten Wolkengebilden, die nichts von dem wussten, was sich unter ihnen auf der Erde abspielte. Die Lebensfreude, die sie ausstrahlten, erreichte den staubigen Boden nicht.
   Er hatte fast den ganzen Tag geschlafen, denn als er die Höhle betrat, war die Sonne gerade aufgegangen.
    Abdelkarim blickte über die leicht gewellte weite ebene Ebene, in der großräumig verstreut die Reihen der Dörfer wie weiße Schatten schimmerten. Sein Entschluss stand fest: Er würde dieses Land verlassen, das Land seiner Väter, denn ein Mann wie er, der in die Fänge des Geheimdienstes geraten war, hatte unter diesem Präsidenten keine Zukunft mehr. Er war allein, ungebunden, musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Seine gesamte Familie war bei dem Massaker von Hama ums Leben gekommen. Seines hatte er dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass er sich zu der Zeit gerade in einem Schullandheim an der Mittelmeerküste aufhielt. Die Erinnerung daran bestärkte ihn in der Gewissheit, dass Allahs schützende Hand über ihm schwebte.  
   Trotzdem, aus Sicherheitsgründen entschloss er sich, noch eine Weile zu warten und dann im Schutze der Dunkelheit weiterzugehen.

   Er musste wieder eingeschlafen sein, denn als er aus der Höhle trat, stieg gerade ein unglaublich heller Mond hinter den Gipfeln des Alawitengebirges auf. Schon nach den ersten Schritten fühlte er sich leicht und schwerelos, wie eines dieser Wolkengebilde vorhin; die Wade schmerzte kaum noch. Der Hund trottete ergeben hinter ihm her.

  Das Land seiner Väter . . . *
  In weiten Teilen gegenwärtig eine Hölle, doch bis vor noch nicht allzu langer Zeit die Hoffnung fortschrittlich gesinnter Menschen in der arabischen Welt. Doch es gab Kräfte, wie die sunnitisch-islamistischen Muslimbrüder, die versuchten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, weil ihnen die regierende Baath-Partei unter Hafiz al-Assad, dem Vater des jetzigen Präsidenten Baschar, zu liberal erschien.
  Obwohl es in der Geschichte des Landes ein paar Mal zu interkonfessionellen Auseinandersetzungen gekommen war, war das Zusammenleben der Religionen bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges vorwiegend friedlich. Bedeutende syrische Imame, wie Mohammed Said Ramadan Al-Bouti, der 2O13 bei einem Selbstmordattentat ums Leben kam, predigten, dass Muslime, Christen und Juden Brüder seien und man als guter Muslim Christen und Juden demnach auch als seine Brüder behandeln solle. Staatspräsident Baschar al-Assad stattete dem griechisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien im Jahr 2006 einen Weihnachtsbesuch ab. Es war der erste Weihnachtsbesuch eines syrischen Präsidenten bei einem hohen christlichen Würdenträger seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1946. Mit dem Verfassungsreferendum von 2012 wurde die Freiheit des Glaubens weiterhin garantiert, weshalb die Christen ihren Glauben unter der Baath-Partei offen praktizieren können. Als Symbol der religiösen Toleranz werden christliche Feiertage in Syrien anerkannt. Auch wird der Bau von Kirchen unterstützt, wobei alle Kirchen – wie auch Moscheen – bei ihren kircheninternen Anschaffungen von der Steuer ausgenommen sind. Da das syrische Christentum weder staatliche noch gesellschaftliche Diskriminierung unter dem Baath-Regime erlitt, übte Syrien nicht nur eine große Anziehungskraft aus, sondern hatte lange Zeit den Ruf, das sicherste Land für Christen im Nahen Osten zu sein.
   In der mittelsyrischen Stadt Hama kam es im Februar 1982 zu einem folgenschweren Aufstand, von Muslimbrüdern initiiert,  Das Militär griff mit Panzern und Kampfflugzeugen ein; es kam zu heftigen Kämpfen, in deren Verlauf große Teile der Altstadt zerstört wurden. Etwa 1000 Soldaten und zwischen 10.000 und 30.000 Zivilisten verloren ihr Leben. Der Niederschlagung des Aufstands, der als das Massaker von Hama bekannt wurde, folgte eine umfangreiche Verhaftungswelle, die der fundamentalistischen Opposition das Rückgrat brach. In der Folge war die Machtposition des Präsidenten sehr stark und kaum gefährdet. Unter ihm begann der Damaszener Frühling, der demokratische Reformen zum Ziel hatte. Baschār galt anfangs als liberaler als sein Vater, da er anderem in London studierte und auch heiratete. Erstes Anzeichen eines neuen politischen Kurses war die Freilassung von 600 politischen Gefangenen im November 2000. Unter Baschar wurde die Benutzung des Internets erlaubt. Allerdings wurden im September 2001 erneut bekannte Oppositionelle inhaftiert. Im Frühjahr 2004 wurden nach Demonstrationen und Zusammenstößen mit den Sicherheitsdiensten hunderte syrische Kurden, darunter auch Kinder, verhaftet und getötet. Diese Demonstrationen fanden in Qamischli, Amuda und Afrin statt, wo die meisten Kurden leben.
   In Syrien leben mehr als 15 religiöse und ethnische Gruppen. Neben der arabischen Mehrheit Armenier (weniger als 1 Prozent) - die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Flüchtlinge aus der Türkei kamen – Turkmenen und Tscherkessen (etwa 9 Prozent), Aramäer und Assyrer (etwa 4,5 Prozent) sowie Kurden. Die Kurden bilden mit einem Anteil von zehn bis zwölf Prozent die größte ethnische Minderheit. Bekannte kurdische Städte und Dörfer sind al-Hasaka, al-Qamishli, Amuda, Afrin und Kurd Dagh. Die Zusammensetzung der Bevölkerung in Ethnien und Religionsgemeinschaft hat sich durch den Krieg stark verändert. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor.
   Die derzeit stärkste Partei ist die Baath-Partei. Der Generalsekretär der Baath-Partei ist zugleich der Präsident. Daneben gibt es kleinere Parteien wie die Kommunistischen Parteien und die Arabische Sozialistische Union, welche als Blockparteien mit der Baath-Partei zur Koalition Nationale Front zusammengeschlossen sind, sowie die Syrische Soziale Nationalistische Partei (SSNP). Parteien, welche eine ethnische Minderheit oder eine religiöse Richtung vertreten sind verboten.
   1973 erhielten die Frauen das volle aktive und passive Wahlrecht.
   Naturräumlich lässt sich folgendes festhalten: Sowohl klimatisch als auch landschaftlich ist das Land ein abwechslungsreiches und forderndes für jeden Menschen. Durch den hohen Niederschlag im Westen entstanden dort fruchtbare Böden. Durch eben diesen abfallenden Niederschlagswert Richtung Osten sinkt die Fruchtbarkeit. Daran orientiert sich auch die Bevölkerung. Weiterhin befinden sich, parallel zur Küste des Mittelmeeres verlaufend, Gebirgsketten. Im Osten befindet sich eine große Wüstenregion, die Syrische Wüste. Die Anzahl an Flüssen in Syrien sorgt in deren Umfeld  immer wieder zur Bildung fruchtbarer Oasen. Die zahlreichen, verschiedenen klimatischen Gegebenheiten lassen andererseits eine abwechselungsreiche Pflanzen- und Tierwelt entstehen, die allerdings durch Raubbau stark bedrängt ist. Die Vegetation wechselt von Wüstenpflanzen im Osten und trockenem Grasland im Norden zu mediterranem Maquis im Westen und Wäldern im Gebirge. In den entlegenen Wüstengegenden leben Schakale, Gazellen, und Eidechsen. In den Gebirgswäldern sind u.a. Wildschweine, Wölfe, Dachse und Stachelschwein sowie einige Singvogelarten vertreten.
   Wer ist Schuld an dem nicht endenden Bürgerkrieg? Werfen die Amerikaner die guten, Putin und seine Vasallen die schlechten Bomben?
   Viele meinen: Ohne die westliche Einmischung hätte sich das Land schon längst stabilisiert und seine nahöstliche, aber vergleichsweise liberale Despotie fortgesetzt. Stattdessen schwächte die CIA das Regime und bereitete so den Islamisten den Weg – und dann den Russen. Es ist ein weiteres Beispiel für die krassen Fehleinschätzungen westlicher Geopolitik.
__________________________-
* Diesen Absatz schrieb ich, als der Krieg Syrien in aller Munde war. Heute ist das Land, so scheint´s, ziemlich vergessen, obwohl sich noch nicht viel geändert hat. Ein Grund für mich, den Absatz stehen zu lassen..

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Beitrag01.10.2022 12:54

von wunderkerze
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Freiheitsengel
                                                                                  1                                                                      
   Auf den Stufen einer zerstörten römischen Tempelanlage sitzt ein Mann. Zu seinen Füßen die Trümmer uralter Kultur. Im Licht der Abendsonne, die wie das unbewegt-feurige Pendel einer  kosmischen Uhr über den Hügeln hängt, scheint er zu glühen. Er hält die Augen bedeckt als scheue er das Licht. Sein Blick geht in die Ferne, doch nichts bleibt haften, nicht die weit verstreuten glühenden Häuser, nicht die rot überhauchten Stoppelfelder, nicht die dunklen Pinienhaine. Jetzt erhebt er sich, noch jung und doch gealtert in seinem Bartgesicht, und steigt mit unsicheren Bewegungen die Stufen hinunter auf den Weg, der an der antiken Stätte vorbeiführt. Es ist ein uralter Karrenweg, mit tief ausgefahrenen Rillen, von einer Unzahl Rädern und Tausenden von Füßen in endlosen Jahren gegraben und gestampft, und mit rötlichem Staub bedeckt. Der Mann trägt eine weiße Hose und eine weiße Jacke – nun ja, es ist eher die Erinnerung an Weiß, die seinen dürren Körper umgibt, denn jetzt ist seine Kleidung schmutzig-grau und fleckig. Sein struppiger Kopf ist unbedeckt, an den Füßen hat er Turnschuhe. Trotz seiner unsicheren Bewegungen, die jeden Moment einen Sturz befürchten lassen, weiß er anscheinend sehr genau, wohin er will; ohne nach rechts oder links zu schauen trottet er stur geradeaus.
   Die Landschaft drumherum könnte abweisender nicht sein. Die Dörfer geduckt unter gnadenloser Sonne, die Aleppo-Kiefern teilweise braun gebrannt wie Maronen, die Weinberge verödet, das Gras vertrocknet, die Erde rissig-trocken. Die sonst grünen Felder ausgedörrt in vieljähriger Dürre, sogar harte Dornsträucher kämpfen verbissen um ihr hartes Leben. Ab und zu der blaugrüne Blitz einer Eidechse, die unter einen Stein huscht. Ermüdende, aussaugende Hitze. Wasser? Nicht das kleinste Pfützchen. Regen? Schon seit Wochen kein einziger Tropfen.

   Und doch ist die Gegend erstaunlich belebt.
   Über Karrenwege stolpern sie dahin, über rundgeschliffene Felsen klettern sie hinweg, in Landstraßen biegen sie ein, um endlich, oft nach Tagen mühseliger Stolperei, die große Nationalstraße zu erreichen, die nach Norden führt: Der huntert-, tausend-, hunderttausendfüßige Strom der Kriegsflüchtlinge. Ein schleppender, wogender, stöhnender Rhythmus, den das Land bis dahin noch nicht gesehen hat. Mit geradezu strategischer Umsicht versucht die Polizei, den Strom nicht ausufern zu lassen und in geordneten Bahnen zu halten, denn schließlich bilden diese Menschen ein politisches Druckmittel, das seine Wirkung in homöopathischer Verdünnung verlieren würde. Nichts fürchtet Europa mehr als einen erneuten, ungehemmten Flüchtlingsstrom, und so muss der menschliche Lindwurm möglichst ungehindert weiterkriechen können.
   Wer die Straße verlässt, um seine Notduft zu verrichten, wird scharf beobachtet. Über der Gegend liegt der zu Staub geronnene tausendfache Schrei ihrer gequälten Seelen und der lastende Gestank menschlicher Ausscheidungen. Dabei gibt es streng genommen für die Meisten nicht viel auszuscheiden; die verborgenen Feldherren haben an alles Mögliche gedacht, nur nicht an die Verpflegung so vieler Menschen. Für einige Tage reichen die mitgebrachten Lebensmittel dem schlecht gefüllten Bauch; ein gebratenes Hähnchen, ein paar harte Eier, ein, zwei trockene Brote, ein Sack voll gekochter Kartoffe . . . Sie verleihen trügerische Sicherheit. So schlimm wird es schon nicht werden . . . Wir haben schon ganz andere Nöte durchgestanden . . .
   Doch manche sind schon seit Wochen unterwegs, und mit jeder Stunde werden die Wangen hohler, die Gesichter verzweifelter, die Schritte schleppender. Zu kaufen gibt es kaum etwas, wenn überhaupt, sind es jämmerliche Reste; jene, die zuerst da waren, haben die Tische der Straßenhändler leergeräumt. Immer öfter hört man Husten, Stöhnen, Wimmern, und manchmal einen verzweifelten Aufschrei. Besonders die Kinder leiden unter den Verhältnissen; der Hunger, der Durst, die wunden Füße. Zwar gibt es auch hier hilfsbereite Menschen; verschiedene Hilfsorganisationen, so auch Helfer aus den Kinderdörfern des Landes, versuchen, die größte Not zu lindern. Doch was ist das für so viele?
   Schon sind die ersten Sterbefälle zu beklagen, darunter auch Kinder. Ein Alter sinkt röchelnd zu Boden, ein Kind lässt plötzlich den Kopf hängen und hört auf zu atmen: Ein unschuldiger Engel kehrt in seine Heimat zurück. Und wer noch nicht ganz tot ist, lässt sich einfach fallen, bleibt stöhnend liegen.
   So zieht die Karawane am Rande der staubigen Straße dahin, dieser vielköpfige Menschenstrom, aus grausamen Schicksalsschlägen gewachsen. Doch das Erstaunlichste: Dieser unheimliche, vielköpfige Drache ist schon wenige Kilometer abseits der Straße so gut wie unsichtbar! Kaum jemand bekommt ihn in seiner ganzen schrecklichen Größe zu sehen. Die Berichterstatter geben nur Bruchstücke frei, denn die Welt liebt solche Bilder nicht.   
                                                                                        *
   Der Mensch weiß erst wer er ist, wenn ihn das Schicksal dreimal geprüft hat.
   Die Nachricht, dass die griechische Regierung die Grenze geschlossen hält und jedes Flüchtlingsboot, das sich in ihren Hoheitsgewässern blicken lässt, gnadenlos zurücktreibt, war durchaus unmissverständlich. Und doch schien es Abdelkarim, als habe er sie nicht richtig verstanden. Das enttäuschte Wutgeheul, das die schwarze Masse der Vertriebenen ausstieß, erreichte zwar sein Ohr, aber nicht seinen Verstand. In seiner lähmenden Schlaftrunkenheit bildete er sich immer noch ein, das große Martyrium des Landwegs werde ihm erspart bleiben. Die unsäglichen Berichte von langen kräftezehrenden Tagesmärschen unter sengender Sonne oder wüsten Unwettern, das quälende Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung, das von Etappe zu Etappe immer unerträglicher wird, dieses Sich-Weiter-Schleppen auf wundgelaufenen Füßen – all das hatte er den Erzählungen von Leuten abgelauscht, die sich aus den nordöstlichen Teilen des langgestreckten Landes auf den Weg gemacht hatten. Doch der süße Wahn derer, die da glauben, es träfe immer nur die Anderen, hatte ihn mit Blindheit gegenüber der Wirklichkeit geschlagen.
   Doch sonderbar – er empfand keinen Groll. Der verschlammte Boden, das überfüllte, unbeheizte Zelt, durch das der kalte Wind, die Bora, pfiff, der geschwollene Hals, die Langeweile, die Tatsache, dass sich seit Wochen nichts bewegte – all das war immer noch besser als das, was er erlebt hatte. Und, wie alle anderen, auch er war auf lange Wartefristen gefasst, obwohl es Berichte gab, dass es manchmal sehr schnell gehen konnte.
   Ein Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ein breites, etwas schwammiges, aber gutes Gesicht. Es ist das Gesicht der deutschen Bundeskanzlerin, der „Mutter Arabiens“, wie sie schon genannt wird. Sie spricht in einer Sprache, die er nicht versteht – noch nicht, aber er hat sich fest vorgenommen, sie so schnell wie möglich zu lernen, wenn er erst im Gelobten Land ist. Er hatte sie auf dem Handy eines Leidensgenossen gesehen: Wie sie einen Flüchtling umarmt, und seitdem wurde er ihr Bild nicht mehr los. Irgendwann wird es weitergehen, denn es ist unausdenkbar, dass Tamtim 'ahsha Merkel', die gute Mutter, uns hier verrecken lässt.
   Und wenn doch? Wenn Allah seine schützende Hand zurückgezogen hat?
   Abdelkarim streicht sich den verfilzten Bart. Ein heißer Verdacht fährt ihm durch den Kopf.  Warum hat mich Azra-il am dritten Tag verlassen? War mein Schwur nicht gottgefällig? Sagt der Prophet nicht ausdrücklich: „Ich schwöre bei Allah: Entweder gebietet ihr das Gute, verbietet das Schlechte, haltet die Hand des Unterdrückers zurück und verhindert die Unterdrückung, führt ihn zum Recht und haltet das Recht über ihm; oder Allah der Erhabene macht eure Herzen denen der Unterdrücker gleich.“
   Schwer seufzend steht er auf und geht auf eine Gruppen von Leuten zu, die einen Halbkreis gebildet haben und auf eine am Boden liegende Gestalt starren – die Frauen ängstlich aneinander gedrängt und auf eine unheimliche Art betroffen, die Männer in stiller, sprachloser Zurückgezogenheit.
    „Was ihm bloß fehlt?“, fragt eine Frau, und eine andere: „Hat schon jemand nach einer Ambulanz gerufen“? – „Ambulanz!“, ruft ein Mann, „Ambulanz! Da könnt ihr lange warten! Wo ist denn hier eine Ambulanz?“ Ein hagerer Mann mit gepflegtem Graubart und Brille eilt herbei und hockt sich neben das Bündel hin. Nach seinen sachkundigen Handgriffen zu urteilen offenbar ein Arzt oder Sanitäter. Jetzt schaut er müde auf und schüttelt den Kopf.     
   Die Leute haben bisher wortlos, verlegen und mit unausgesprochenen Fragen in den Blicken dagestanden. Jetzt beginnen leise zu reden, mehrmals ist das Wort „Tod“ zu hören. Die Gruppe weicht ehrfürchtig zurück, denn sie wissen: In diesem Lande ist der Tod nicht des Schlafes stolzer Bruder, auch nicht der sanfte Gefährte auf einer Reise in eine bessere Welt; der Tod in diesem Land ist der Gefährte des Herrn der Finsternis, der in einem marmornen Palast wohnt, umgeben von einer Armee von Unterteufeln, und er hat, soll man den Berichten unabhängiger Stellen glauben, schon mehr als achtzehn Tausend unschuldige Opfer geholt.
   Abdelkarim tritt vor und betrachtet das jämmerliche Bündel Mensch, das da im aufgeweichten Dreck liegt, ein Knabe, dessen wächsernes, hohlwangiges Gesicht kein genaues Alter verrät. Er kann zwölf, acht oder auch vierzehn Jahre alt sein. Die Strapazen haben seinen Körper eingedampft. Seine Bekleidung ist verschlissen und für die Jahreszeit zu leicht, die letzte Kleiderlieferung ist irgendwo stecken geblieben.
   „Weiß jemand, zu wem er gehört?“, fragt der Arzt oder Sanitäter und richtet sich wieder auf. Doch die Frage erübrigt sich; schon wankt schwer atmend eine korpulente Frau heran, bleibt vor dem toten Knaben stehen, und jedes Wort der Umstehenden verstummt.
   Die Frau blickt auf das Kind; nach schleppenden Sekunden grausamer Erkenntnis schlägt sie die Hände vor das wettergegerbte Gesicht, und ein unbeschreiblicher Wehlaut dringt aus ihrer Brust. Es ist ein langes, melodisches Stöhnen, ein schwellendes Klagen, so dünn und schwerelos, als klage hier nicht eine Menschen-Mutter, sondern Mutter Erde selbst. Es ist ein tränenloses Weinen, denn die Zahl ihrer Tränen ist schon seit langer Zeit aufgebraucht. Nun beginnt sie zu schwanken; sofort wachsen ihr helfende Hände entgegen. Doch noch bevor sie jemand halten kann, wirft sie sich auf die Leiche und vergräbt ihr Gesicht in die Beuge des verkrümmten Körpers, und aus ihrem Mund dringt ein stöhnendes „Gabriel, mein Gabriel!“ Dann richtet sie sich aus der Tiefe ihrer Verzweiflung auf und schreit mit kehliger Stimme in die Stille hinein: „Mörder, Mörder, Mörder!“
   Plötzlich erklingt ein Gesang. Es ist die Stimme eines Mannes, die jetzt wie der Gesang eines fernen Engels über dem Lager liegt. Die Stimme ist rau und zugleich klar. Er singt von der schönen Sklavin Imitad, der es gelang, durch eine geistreiche Antwort die Liebe eines Königssohns und damit die Freiheit zu gewinnen. Er singt von dem Dichter al-Motamid, der sich durch ein Gedicht aus der Verbannung befreite. Er singt von Odysseus, der nach langer Irrfahrt wieder an den heimatlichen Herd zurückkehrte.
   Aber auch der Sänger weint nicht, obwohl ihm stark danach ist. Er hat gelernt, sich zu beherrschen. Würde er jedesmal weinen, wenn die Wucht der Schmerzen ihn trifft, wäre er schon längst ausgetrocknet.
   Es ist die Stimme des Devrim ibn Makarios, des Vaters des gestorbenen Kindes.
F.f

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Beitrag09.10.2022 20:54

von wunderkerze
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Was bisher geschah: Adamyan und Abdelkarim, zwei syrische Kurden, die vom syrischen Geheimdienst aus anscheinend fadenscheinigen Gründen inhaftiert und gefoltert wurden, konnten nach Berlin fliehen. Beide haben geschworen, sich an ihren Folterern zu rächen, von denen sich etliche ebenfalls in der Stadt aufhalten. Karina Weizenkorn, die Tochter des Oberst Weizenkorn (vergl. „Taifan oder Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes“ hier in diesem U-Forum), ist in Afghanistan, wo sie als Bundeswehrsoldatin den Spuren ihres Vaters folgen wollte, nur knapp einem Mordanschlag entgangen. Auch sie ist im Untergrund der Stadt gestrandet.

                                                        Die Stadt der Schatten

                                                                                                      Der Humor ist ein Kamel,
                                                                                                               das dich durch die schlimmste Wüste trägt.
                                                                                                               Arabisches Sprichwort                                                                                   


                                                                                Berghain

                                                                            1                                                                        
   Berlin, Nähe Ostbahnhof, zwei Jahre später.
   Die Luft ist so dick, so dick, dass es ihm den Atem verschlägt, und der Lärm so laut, so laut, dass er sich reflexhaft die Ohren zuhält. Der Saal wetterleuchtet in Las-Vegas-Blau, Grellgelb und Magentarot. Erhitzte Gesichter schweben über nackten Schultern, Arme fliegen, Beine biegen sich, Leiber zucken wild. Es riecht nach Achselschweiß, parfümierter Haut und warmen Buletten.
  Mit angewinkelten Armen bahnt er sich einen Weg zur dicht umlagerten Bar.
    „He, Atze! Bestellste mir´n Heeßen mit nem Schuss?“ Mittlerweile berlinert er überzeugender als mancher Ur-Berliner.
  „Atze“ nickt und raunt einer Kollegin mit Drahthaarfrisur etwas zu.
   Der Saal tobt. Gerade grölt eine rauchige Stimme Uh Bala Bala Bu Uh Bala Bala Bu in die zeratmete Luft, übermalt vom Gedröhn aus dem Stockwerk darüber, der „Ausweichfläche“, wegen der 50%-Regel.
   Adamyan blickt sich um. Das Publikum ist wie immer international – und schräg. Gleich neben ihm hält ein baumlanger Schwarzafrikaner mit beuliger Glatze eine zierliche Asiatin im Arm; sie reicht ihm nicht einmal bis zum Brustbein; ihre Augen scheinen das Größte an ihr zu sein. Auf der anderen Seite der Theke: Zwei stämmige Kerle in Unterhemden, nach ihren Rundschädeln und der gutturalen Lautgebung Osteuropäer. Vor ihnen steht eine Flasche Wodka, aus der sie sich reichlich bedienen. Noch etwas weiter weg unterhalten sich zwei breitmäulige Männer mit einer korpulenten Frau, die an einer kalten Zigarette herumkaut. Adamyan kennt die Frau. Sie ist die Inhaberin des Vintage und Retro Shops in der Warschauer Straße.
   Die Mucke bricht mit einem schrillen Ton ab; die lautsprecherverstärkte Stimme kündigt den nächsten Song an: Love Can´t Be Turned Around von Chicago House.
   Adamyan blickt sehnsüchtig auf die schwarze Schwingtür im Hintergrund, die zur Teeküche führt. Seine Füße sind kalt und fühlen sich feucht an. Anscheinend sind seine Schuhe undicht.
   Der Kerl neben ihm hängt wie ein nasser Sack über dem Tresen und stiert mit glasigen Augen auf den Busen der Bedienerin mit der Drahthaarfrisur. Plötzlich hebt er den Kopf und stammelt: „Monika, ick liebe dir!“
   „Dann steig doch uffs Dach und brüll´s in alle Himmelsrichtungen!“, koddert die Angebetete.
   Die Schwingtür fliegt auf: Ein silbernes Tablett mit einem dampfenden Glas erscheint, gefolgt von einem glänzenden Kahlkopf: Der Engel mit dem heißen Aufguss.
   „Macht zweefuffzig!“, brüllt „Atze“.
   
   Während Adamyan das Heißgetränk schlürft, fühlt er einen kräftigen Rippenstoß. Er dreht sich ärgerlich um und blickt in das Gesicht eines schnauzbärtigen Mannes.
    „Heye, ez li wir ki dibinim? Tarek Abdelkarim?“
   „Ere ki –  Wahel Adamyan! Tistek wusa tune! Was in aller Welt suchst du denn hier?“
   „Ne ewas zor! Ich denke das gleiche wie du!“
   Adamyan steht auf, und beide Männer reiben ihre Nasen nach althergebrachte Heimatart gegeneinander. „Tarek, woran hast du mich erkannt?“, fragt Adamyan und setzt sich wieder.
   „Ich habe dich nicht erkannt, Wahel, ich habe dich gespürt.“
   „Hier sagt man: Willste jemand finden, den de lange nich jesehen hast, jeh ins Berghain. Möchtest du etwas trinken?
   „Nein danke, ich bin eigentlich gerade auf dem Rückzug. Mir reicht´s! Der Lärm hier . . . Die reinste Party-Hölle!“   
   „Komm komm, ein kleines Bier geht noch rein! – Atze, ein kleines Alkoholfreies für meinen Freund!“ Adamyan sieht seinen ehemaligen Zellengenossen von unten bis oben an. „Du siehst gut aus! Neuer Anzug, neue Frau, neuer Job!“
   „Nur neuer Job.“
   „Und?“
   „Ich hab einen Bremserposten an der Humboldt-Universität.“
   „Bremserposten?“
   „Wissenschaftlicher Assistent. Und wie hältst du dich so über Wasser?“
   „Mal so mal so. Man lebt. Sag mal, was macht deine Zungenspitze? Ist sie wieder nachgewachsen?“
   „Daran erinnerst du dich noch?“ Abdelkarim lacht. „Nein, sie ist nicht nachgewachsen, sie war nie ab. Fühlte sich damals nur so an.“
   „Soso. Bist du schon lange in Berlin?“
   „Seit anderthalb Jahren.“
  „Und warum habe ich dich noch nie gesehen?“
   „Ich lebe im Untergrund.“
   „Da leben wir doch mehr oder weniger alle.“
   „Nein, den Untergrund meine ich nicht. Ich meine den wirklichen Untergrund. Den unter den Straßen dieser Stadt.“  Abdelkarim sieht zu den beiden mit der Wodka-Flasche hinüber, die auf einmal ziemlich still vor sich hin starren. „Hör zu“, sagt er, „hier kann ich nicht reden. Vielleicht finden wir irgendwo ein freies Plätzchen, wo nicht jeder mithören kann.“
   Hinter einer Barriere mit künstlichen Palmen und verstaubten Kletterpflanzen erhebt sich gerade ein Pärchen und zwitschert ab.
    Die beiden Männer lassen sich in die Sessel fallen.
   Der DJ kündigt den nächsten Hit an, und dann wird es ziemlich laut. Trotzdem beugt sich Abdelkarim vor.
  „Ich tue jetzt etwas, das ich eigentlich nicht darf. Aber du bist vom gleichen Stamm, warst mit mir im selben Knast, ich vertraue dir und gehe mal davon aus, dass du den Mund halten kannst. Du weißt – “ ein gewaltiges Bassdrum-Solo unterbricht ihn –  – „du weißt, dass dieses Gebäude ein ehemaliges Heizkraftwerk ist?“
    Adamyan nickt.
   „Die unterirdischen Leitungsrohre wurden entfernt, aber die Tunnel, in denen sie verlegt waren, existieren noch.“
   „Ja und? Ich verstehe nicht.“
   „Wirst du gleich. Hast du dich schon mal gefragt, wo die vielen illegalen Flüchtlinge und abgelehnten Asylbewerber bleiben, die jedes Jahr dieses schöne Land bevölkern?“
   „Sie tauchen unter . . . verkriechen sich bei Verwandten und Bekannten, denke ich.“
   „Das ist die offizielle Version. Aber die Presse verschweigt, dass viele in die Unterwelt der großen Städte abtauchen, wie zum Beispiel hier in Berlin. Im berliner Untergrund wimmelt es von Tunneln, Gewölben, nicht fertig gestellten U-Bahnhöfen, Luftschutzbunkern, vergessenen Kellern aller Art – manche so groß wie Turnhallen. Es ist sozusagen eine Stadt unter der Stadt . . .“
   Abdelkarim schweigt, denn in der Nische nebenan nehmen zwei leicht bis kaum bekleidete junge Frauen Platz, die sofort zu knutschen anfangen.
   „Willst du damit sagen, dass du auch dort unten lebst?“, fragte Adamyan.
   „Nur tagsüber.“ Abdelkarim grinst. „Schließlich bin ich ordnungsgemäß gemeldet, und niemand darf Verdacht schöpfen.“
   „Und warum bist du jetzt hier?“
   „Dieses Berghain ist für unsereinen der sicherste Ort von Berlin. Meine Leute gehen herum und halten nach verdächtigen Gesichtern Ausschau, du weißt, welche ich meine. Im Ernstfall könnte ich sofort untertauchen. Es gibt einen geheimen Tunnel, der von diesem Gebäude direkt in die Unterwelt führt. Sollte mich jemand verfolgen, hätte ich ihn in Nullkommanichts abgehängt. Ich kenne hier im Umkreis von fünf Kilometern jeden unterirdischen Gang, jeden vergessenen Bunker.“
   „Außer, der Verfolger wäre ein Insider. Der Idarat hat seine Augen überall.“
    „Der käme hier nicht mehr lebend heraus.“ Abdelkarim griff in seine Jackentasche.
„Wenn du willst, nehme ich dich mal mit nach unten. Meine offizielle Adresse ist Richard-Sorge-Straße 36. Ich geb dir mal meine Karte. Und wo kann ich dich finden?“
    Adamyan sagte es ihm.
   „Also, wenn du Hilfe brauchst, wirf mir einfach meine Karte in den Briefkasten, mit einem Datum drauf. Wir treffen uns dann hier drinnen um dreiundzwanzig Uhr.“
   „Und wie komme ich um dreiundzwanzig Uhr hier herein? Ich will nicht schon wieder drei Stunden anstehen und mir nasse Füße holen.“
   „Um diese Zeit wohl kaum. Sollte doch . . .hmm . . . Pass auf! Sollte der Andrang wider Erwarten doch noch groß sein, gehst du zu dem Türwächter mit der Hakennase und den schwarzen Augenrändern und flüsterst ihm 'ich bin ein Freund von Tarek' zu. Er wird dich dann hineinlassen. So, jetzt muss ich aber wirklich gehen. Wie klein ist doch die Welt! Mala te ava!“


                                                                              2
  Nachdem Abdelkarim gegangen war, blieb Adamyan noch eine Weile sitzen. Das Gespräch hatte ihn aufgewühlt; plötzlich war die Vergangenheit in ihrer ganzen Schärfe wieder da. Er sah den blutenden Abdelkarim auf den Steinfliesen der Zelle liegen; er sah sich auf dem Stuhl, festgebunden; vor ihm der Verhörspezialist und seine Schergen, die Arme zum Schlag erhoben . . . Es war so schlimm gewesen, dass er in den Wochen danach jedesmal zu zittern anfing, wenn er irgendwo einen Stuhl sah. Und Stühle standen überall herum. Im Teehaus, beim Frisör, in der Küche bei Bekannten, in Schaufenstern von Möbelgeschäften. Auch jetzt noch bereitete ihm das Sitzen auf Stühlen Unbehagen. Und er durfte keiner Seele erklären, warum. Sie hatten ihm streng verboten, auch nur ein Wort über seinen Gefängnisaufenthalt zu sagen. Wie gut, dass es im Berghain kaum Stühle, dafür reihenweise Barhocker und verschlissene Kunstledersessel gab.
   Vergessen, nur vergessen . . .  
    Er nahm sich vor, keinen weiteren Tee mehr zu bestellen. Nur schnell nach Hause, an die frische, kühle Luft . . .

   Jetzt erst bemerkte er die dunkle Gestalt hinter der künstlichen Palme, den Umrissen nach eine Frau. Sie kam mit einer Bierflasche in der Hand hinter dem Plastikgewächs hervor. „Hey, Mann!“, rief sie kratzig, „hast du was dagegen, wenn ich mich auf den Platz neben dir setzte? Mein Arsch sehnt sich nach einer festen Unterlage!“
   Ohne seine Antwort abzuwarten, setzte sich neben ihn – allerdings nicht allzu nah –  und wartete.
   „Hey, du bist anscheinend keiner von den Gesprächigen, Sportsfreund“, rief sie nach einer Weile, „starrst bloß wie´n Ölgötze vor dich hin. Was ist los mit dir, he? Ist jemand gestorben oder hast du dich im Lokal verirrt? Scheiße! Dann mach mal schnell hopp hopp! und den Platz frei! Siehste den langen Lulatsch mit dem Stock da? Der spitzt schon drauf, dass er bei mir ankern kann!“
   Adamyan blickte die Frau an. Viel war nicht zu erkennen. Schwarze Haare, rundes Gesicht, getuschte Wimpern. Alter? Offensichtlich weggeschminkt. Aber ihre Augen! Er dachte: Die passen überhaupt nicht zu ihrem durchgeknallten Auftreten. Trotz der bunt-flackernden Beleuchtung erkannte er in ihnen einen schweren Kummer, und auf einmal kam ihm die Frau bekannt vor. Wir sind seelenverwandt, dachte er, es ist kein Zufall, dass sie neben mir sitzt. Allah hat es so gewollt.
   Aus den Lautsprechern heulte und dröhnte es. Klangfetzen flogen wie Stahlsplitter durch den aufgeheizten Saal. Eine verkaterte Stimme stöhnte ununterbrochen: „Oh Rainbow Baby, Oh Rainbow Baby . . .“ Auf der riesigen Projektionsfläche an der Wand weiter hinten stürzte sich ein bizarres Raumschiff zwischen zwei Fantasy-Planeten in ein flammendes Inferno.
   „Ich war gerade mental nicht vor Ort“, brüllte er in dem Bemühen, geistreich zu wirken, „aber jetzt bin ich wieder anwesend. Sag mal, irgendwie kommst du mir bekannt vor. Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?“
   Sie lachte spitz. „Na klar, beim Metzger! Hey, Mann! Die bescheuertste Anmache, die ich kenne! Haste nich mehr auf´m Kasten? Außerdem völlig überflüssig. Wenn du was von mir willst, sag es, und ich werd sehen, was sich machen lässt.“
   Sie setzte die Flasche an die Lippen und nuckelte andächtig. „Bäh, schmeckt wie Säuglingspisse, das lauwarme Zeug!“ Den Rest kippte sie zu den Kunstblumen. „Holste mir nen neues? Ich halt auch deinen Sessel frei!“
   Total durchgeknallt, dachte er und stand auf.
   Als er mit den beiden Bierflaschen – mit und ohne – zurückkam, saß der lange Lulatsch auf seinen Platz, den Stock zwischen den Knien.
   „So, nun mach mal nen Abgang!“, sagt die Frau und gab dem Kerl einen derben Rippenstoß, „heute ist nicht dein Tag!“ Der Mann klappte wie ein Taschenmesser auf und stakste unsicher davon. „Der Orje ist manchmal wie getrockneter Rotz am Ärmel, kaum wegzukriegen, det Aas.“
   Adamyan überreichte ihr das Bier, einen Tisch zum abstellen gab es nicht.
   „Man dankt“, sagte sie, „wirklich nett von dir. Na dann Prösterchen!“ Sie tranken. „Ich heiße übrigens Erika.“
   Adamyan knickte leicht mit dem Oberkörper ein. „Wahel.“
   „Soso. Wahel. Syrischer Kriegsflüchtling, der in Berlin das gelobte Land sucht, wie Tausende seinesgleichen. Stimmt´s oder habe ich Recht?“
   „Willst du meine Meinung hören oder mich nur zum Reden zwingen?“
   „Beides.“
     Adamyan überlegte, ob er sich diese Frau noch weiter zumuten will. Schließlich sagte er: „Das ist kein Krieg. Im Krieg gibt’s eine Kriegserklärung, erkennbare Fronten, eine Kapitulation, vielleicht sogar einen Friedensvertrag. So war es bisher. Wir befinden uns in einem Bürgerkrieg, ohne klare Fronten, jeder kämpft gegen jeden. Wenn einer Seite die Mittel ausgehen, schlägt sie einen Waffenstillstand vor, bis die Arsenale wieder gefüllt sind. Und so geht es endlos weiter. Die Waffenschmieden stehen nie still. Die Welt ist voll davon. Und gerade die Länder, die am lautesten noch Frieden schreien, haben die größten. Es ist über die Maßen zynisch.“
   Sie blickte ihn erstaunt an. „Wie du det sagst . . . Wie´n Gelehrter . . . Bist du einer von diesen . . . wie heißen die noch . . . von diesen I-Männern?“
   „Du meinst Imame.“
   „Genau, die mein ich.“
    Gerade dröhnte der Titel Hey, We´re Gonna Rock This Place von Hermes House Band auf und ließ sogar hier oben die Wände zittern.
   „Nein.“
   „Aha. Und du suchst den Einstieg in die berliner Unterwelt.“
    „Wie kommst du denn darauf?“
   „Mann! Ich bin doch nicht blind! Hab euch vorhin beobachtet, dich und den König, wie ihr die Köpfe zusammengesteckt habt wie zwee Katzen im Sack und getuschelt – nee, nee, Mann, rein zufällig natürlich, blickte gerade in eure Richtung . . . Irgendwohin muss der Mensch ja kieken – es sei denn, er ist tot.“
   „Von welchem König redest du?“
   „Vom König der Unterwelt.“
   „Was hat denn der Tarek mit der Unterwelt zu tun?“
   „Komm, komm, spiel hier nicht den dummen August! Na klar, du hast dich mit ihm über den Fettgehalt der Marmelade unterhalten! Ich brülle vor Lachen!“
   „Ich seh den Mann hier in Berlin zum ersten mal!“
   „Glaub ich dir fast aufs Wort!“ Die Frau, die sich Erika nannte, stand auf. „Hier ist es mir zu laut. Hab keine Lust, ständig gegen diese blöde Mucke anzubrüllen. Lass uns nach oben in meine Schmusekammer gehen, da ist es ruhiger. Okay?“
F.f

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Beitrag19.10.2022 16:50

von wunderkerze
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*
   „Er ist da“, sagte Abdelkarim. „Erika hat ihn bereits in ihren Fängen.“
   „Wurde auch langsam Zeit.“ Der andere Mann, ein breiter dunkler Typ mit einer riesigen Nase, schnippte den glimmenden Zigarettenstummel weg, der ein paarmal wie ein verliebter Leuchtkäfer über die Dachpappe hüpfte. „Ich dachte schon, er hätte es sich anders überlegt!“
   Sie standen auf dem Dach des Berghain. Vor ihnen erstrahlte die Innenstadt, über der wie ein überdimensionaler Tennisball die Kugel des Fernseeturms hing. Davor war es bis auf wenige Leuchtpunkte dunkel: Die Stadtbrache vor dem Ostbahnhof.
   „Du kennst ihn nicht, Tayip! Aber ich. Er hält sich hundertpro an die Regeln! Ich kenne ihn noch vom Studium her. Wenn er etwas verspricht, hält er es auch. Und nach dem, was ihm in Qual as-Sad mit auf den Weg gegeben haben, wird er nicht wagen –“
   „Ja ja, die Familie. Irgend wer meinte einmal, die Familie sei eines der größten Geschenke der Natur.“ Der Mann fluchte erbärmlich.
   „Hoffentlich übertreibt Erika nicht. Manchmal denke ich, sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihr Gequatsche geht mir ganz schön auf die Jacke. Weißt du was Näheres über sie?“
   Abdelkarim schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Nur das, was sie uns erzählt hat. Ich vermute, davon stimmt nur die Hälfte. Wenn überhaupt. Aber den Rest krieg ich schon noch raus.“
   „Was bringt eine junge Frau dazu, sich in der berliner Unterwelt zu vergraben? Normal ist das nicht!“
   „Ich weiß es nicht, und was ist heutzutage schon normal.“   
   „Denkst du, dass sie etwas ahnt?“
   „Wie sollte sie?“
   „Na schön. Wenn du es sagst . . .“

                                                                                *
   Im Dark-Bereich herrscht fast totale Finsternis, lediglich das Geflimmer mehrerer Fernsehgeräte, in denen unbeschwert ein- bis dreigeschlechtlich gebumst wird, verhindert Stürze über nacktes Gebein. Die „Schmusekammer“ ist einer der hinteren Räume, in dem ein winziges Liebes-Lämpchen rotes Schummerlicht verbreitet. Der Geräuschpegel ist jetzt moderat, abgesehen von dem wollüstigen Gestöhn im Raum nebenan.
   Erika: „Wie lange bist du schon in Berlin?“
   „Wird das ein Verhör?“
   „Okay, okay! Hab dich nicht so! Also deiner Aussprache zufolge schon länger. Geht mich ja im Grunde auch ´nen Scheißdreck an. Auch ob du Weib und Kind hast interessiert hier niemanden, mich schon gar nicht. Aber Tareks Bekanntschaften gehen mich was an. So bettpisserisch verschwiegen, wie du daherkommst, vermute ich mal, du bist irgend ein beschissener Geheimdienstmensch.“
   Adamyan fährt auf. „Natürlich! Ich bin ein Spitzel, Tarek ist ein Verhörspezialist, und wir beide sind im Auftrag des syrischen Geheimdienstes im Berghain! Hör mal zu, du Schnecke, wenn du weiter solch einen Schwachsinn von dir gibst, steh ich auf und geh. Will ich sowieso schon seit einer Stunde.“
   Adamyan hält erstaunt inne. So hat er noch nie geredet.
   Ein unsichtbarer Augenaufschlag. „`tschuldige, Mann! War nicht so gemeint. Aber anders krieg ich ja dein Maul nicht auf!“
   Er sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Tarek ist ein ehemaliger Arbeitskollege von mir. Wir saßen beide im selben Gefängnis. Seitdem haben wir uns aus dem Blick verloren. Dass wir uns hier getroffen haben, ist reiner Zufall – oder Fügung. Jetzt mal zu dir. Wer bist du? Auf jeden Fall nicht die durchgeknallte Type, die du hier präsentierst.“
   „Okay? Und woher nimmst du denn das schon wieder?“
   „Ich hab vorhin in deine Augen gesehen.“
    Wieder lacht sie schrill. „Du hast mir in die Augen gesehen! Soso! Du bist mir ja einer! In der Augenbläue liegt bei der Frau die Treue. Drum schlag der Frau die Augen –“
   „Weich jetzt bitte nicht aus.“   
   „Du lässt ganz schön den Macho heraushängen, Sportsfreund! Ich schmier doch nicht jedem Fremdling meine Vita aufs Butterbrot?“
   „Vita? Ist das ein neuer Brotaufstrich?“
    Plötzlich ein lautes Klatschen und übertriebenes Wehklagen.
   Adamyan springt auf. „Was ist denn da los?“, fragt er alarmiert.
   „Nichts Schlimmes. Der Orje kriegt seinen geilen Arsch versohlt, auf eigenen Wunsch natürlich! Hier geschieht alles auf eigenen Wunsch. Und aus Liebe!“  
   Das Wehklagen geht allmählich in wollüstiges Stöhnen über, dann ist Ruhe.
   „Na siehste! Stimmt´s oder habe ich recht?“
  Adamyan schüttelt verständnislos den Kopf. „Nee, entschuldige, das hier ist nichts für mich. Erinnert mich zu sehr an gewisse Vorkommnisse . . . War ne interessante Unterhaltung. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder!“
                                                                               *
   Während Adamyan durch den Berliner Nieselregen nach Hause stapfte, war er sich nicht mehr sicher, ob ihm wirklich der Zufall die Frau geschickt hatte oder doch eher der Teufel. Die passte nun überhaupt nicht zu seinem Frauenbild. Gut, gegen selbstbewusste Frauen hatte er nichts. Am Kurd Dagh heißt es: Der Mann und die Frau haben dieselbe Asche. Aber diese Erika oder wie sie auch immer heißt. . . Die war dann doch etwas zu bizarr. Von Seelenverwandtschaft keine Spur. Er grinste. Großes Mundwerk, kleine Titten . . . Das Einzige, was ihn an ihr reizte, war ihre Unterwelt-Affinität. Da könnte man sich möglicherweise näherkommen.
   Auf dem Bahngelände links ratterte mit kurzem scharfen Pfiff die Lichtschlange einer S-Bahn vorbei, dann war es wieder dunkel. Diese Gegend hier mit ihren halbherzigen Straßenleuchten war ein finsterer Winkel, eine Art Stadtbrache, für spätere Bebauung sich selbst überlassen und dementsprechend heruntergekommen: Zerborstene Plattenwege, beschmierte Garagenwände, vermüllte Ecken. Hoch oben am grau-schwarzen Himmel ein einsames Licht – die Lampe eines Baukrans. Hinter den Geleisen wurden Bürotürme hochgezogen; ihre bleichen Stahlbeton-Gerippe, von Nieselschwaden eingehüllt, ließen im Gegensatz zu den Hochglanzbroschüren, in denen ihr Zukunftspotential besungen wurde, keinerlei Zuversicht aufkommen.
   Adamyan stutzte, blieb stehen und überlegte. Stand dieser Bauzaun heute Nachmittag auch schon hier?  
   Suchend ging er weiter. Der Zaun war endlos und anscheinend ohne die kleinste Lücke.
   Unter der nächsten Straßenlaterne stand ein knutschendes Pärchen, ein baumlanger magerer Kerl und eine ziemlich dralle Frau. Mund auf Mund, als wollten sie sich gegenseitig aussaugen. Adamyan räusperte sich vernehmlich. Keine Reaktion. „Entschuldigung!“, rief er, „komme ich hier irgendwie zur Grünberger Straße durch?“
   Der Mann ließ von dem Gesicht der Frau ab und sah ihn ärgerlich an. „Hinter dem Großmarkt da vorne jeht ne Straße rechts ab.“ Wieder senkte sich sein Mund auf den Mund der Frau.
    Adamyan ging weiter, und die Gedankenmühle in seinem Kopf begann zu rotieren.
    Tarek.
   Wie hatte ihn die Frau genannt? Den König der Unterwelt?
   Vielleicht hatte der Himmel ja auch gar nicht diese Frau, sondern Tarek gemeint.

     Wieder steht Tarek vor ihm, mit seinem gewinnenden Lächeln aus ernsthaften Augen. Dann wieder, wie vorhin im Berghain, wie er ständig um sich blickt und sich vergewissert, dass ihn niemand belauscht . . . Tarek wird verfolgt, schießt es ihm durch den Kopf, sogar hier, mitten in Berlin . . . Er ist kein normaler Asylsuchender . . . Warum sonst verkriecht er sich in der Kanalisation?      
   Er hört Tareks Worte: „Die Zungenspitze war nie ab. Es fühlte sich nur so an“ . . . Dann, damals, auf dem Boden der Gefängniszelle: „Alles was ich jetzt brauche, ist Ruhe . . .“ Ruhe! Im Gefängnis! Das ganze war eine Finte . . . Das Gejammer um den Sohn eine perverse Komödie! So weit ich weiß hat er doch gar keine Familie . . . Ich sollte ihm helfen und damit zeigen, dass ich ihn kannte, und so hatten sie mich in der Hand . . . Nein, ich soll glauben, dass sie mich in der Hand haben!
   Sein Herz schlägt jetzt bis zum Hals. Das würde ja bedeuten . . .
  Tarek, ein Spion des syrischen Geheimdienstes?
   Aber was sucht er hier in Berlin?
   Der nächste Gedanke durchzuckt ihn wie ein elektrischer Schlag.
  Er soll mich bewachen! Deshalb die schnelle Einladung in sein finsteres Königreich!
   Er denkt den Gedanken nicht zuende. Es wäre zu grausam. „Nein, nicht! Tarek, Tarek, sag, dass es nicht wahr ist!“, schreit er in die grau-schwarze Nacht hinein, „sag, dass du kein Teufelsspiel mit mir treibst!“
   Doch Tarek antwortet nicht, Tarek ist weit weg.
   Wahel Adamyan stolpert über einen Geröllhaufen und tappt in eine Pfütze. Schon wieder nasse Füße . . . Die Nässe steigt ihm die Beine hoch,  seine Schultern schmerzen.

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Beitrag25.10.2022 20:08

von wunderkerze
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4
  Erika saß wie verabredet hinter dem Raumteiler mit der Kunstpalme, allerdings in Begleitung zweier ihm unbekannter Männer. Diesmal war sie nicht in Schwarz; sie trug dunkelblaue Jeans, einen karamellfarbenen Sweater und einen roten Schal, der ihr etwas Farbe verlieh. Die Ärmel hatte sie halb hochgekrempelt; sie wirkte jetzt wie eine Frau, die allein einen Leierkasten vier Treppen hochasten kann.
   Adamyan trat zögerlich näher. Der eine ihrer „Beisitzer“ war ein schmaler Mann mit bleichem Gesicht und weißen Haaren. Der andere, ein breiter dunklerer Typ, erweckte sofort unangenehme Erinnerungen.
   Unschlüssig blieb er stehen.
   „Hey, Mann! Was ist? Willste da Wurzeln schlagen?“ rief Erika unangenehm munter. „Komm schon, setzt dich! Die Leute hier beißen nicht! Die sind in Ordnung!“
   Adamyan tritt aus der Deckung der Palme heraus und geht auf die Sitzgruppe zu. „Ich . . . Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben“, sagt er unsicher, „dass wir uns jemals wiedersehen würden. Und jetzt geht es plötzlich Hals über Kopf!“ Ihm fällt auf, dass der Satz etwas zu euphorisch klingt, und so er fügt schnell hinzu: „Ich meine natürlich hier im Berghain.“
   „Hey, quatsch nicht und mach dir mal keinen Stress! Ist schon okay. Der hier, zu meiner Linken, det ist Emil, und der hier heißt Tayip.“
   Emil und Tayip knicken zum Zeichen einer Begrüßung kurz mit dem Oberkörper ein.
   „Setz dich endlich!“, befiehlt Erika. „Möchtest du etwas trinken?“
   „Nein danke.“
   „Gut, dann kommen wir gleich zur Sache.“
    Es ist Emil der Bleiche, der jetzt spricht.  „Wahel Adamyan, du hast Erika um ein Wiedersehen gebeten. Schön, nur zu verständlich.“ Seine Stimme ist überraschend tief und kräftig. „Aber Erika ist nicht irgendwer. Bevor wir dich näher an sie heranlassen, müssen wir genau wissen, was du wirklich von ihr willst. Komm uns jetzt nicht mit irgendwelchen Ausflüchten erotischer Natur. Da bist du bei ihr an der falschen Adresse.“
   „Außerdem würden wir dir das auch nicht glauben, Alter“, ergänzt Erika. „Du bist alles andere als ein Casanova, stimmt´s?“ Sie lacht anzüglich.
    Adamyan blickt sie an, zum ersten Mal in Ruhe und hellem Licht. Bei dem Geflacker gestern hatte er kaum etwas erkennen können. Eigenartiges Gesicht. Nicht schön, nicht hässlich. Und irgendwie schräg . . . Sieht aus wie auseinandergenommen und nicht ganz richtig wieder zusammengesetzt. Das linke Auge kleiner als das rechte . . . Dann diese Narbe auf der Stirn . . .
   „Hey, Arschloch“, faucht sie ihn an, „was glotzt du so? Noch nie ne Frau gesehen?“
   Der Mann, der angeblich Tayip heißt, sagt: „Wahel, wir wollen doch nur Missverständnisse vermeiden, deren möglicherweise hässliche Konsequenzen niemand absehen kann und auch niemand will.“
    Adamyan starrt ihn verblüfft an. „Missverständnisse? Welche Missverständnisse? Ich verstehe nicht!“
   „Also, warum willst du Erika sprechen?“
   „Das ist doch meine Sache und geht dich nichts an an!“      
   „Woher kennst du Tarek Abdelkarim?“, fährt der Mann ungerührt fort.
   Schon wieder ein Verhör! Herrgottnochmal, hört das denn nie auf?
   „Er war ein Arbeitskollege von mir und hat mit mir in Syrien im Gefängnis gesessen. Deshalb kann ich keine Verhöre mehr ertragen. Schon gar nicht von solchen Affen wie euch.“ Adamyan will aufstehen.      
    „Wenn du gehen willst, dann geh. Hier hält dich niemand zurück. Aber an deiner Stelle würde ich sitzen bleiben“, sagt das Bleichgesicht.
   Adamyans Unbehagen wächst. Es ist diese herablassende Art, die ihn ärgert.
   „Hat dir Tarek von der Unterwelt erzählt?“, fragt Emil.
   „Ja.“
   „Was genau?“
   „Nichts Genaues. Er hat nur erwähnt, dass sie es gibt, und dass sich da viele Leute von uns aufhalten. Und er hat mir seine Hilfe angeboten.“
   „Also noch mal von vorn“, sagt Tayip. „Was willst du von Erika?“
   Adamyan schweigt. Kann er diesem Mann trauen? Der ist genau einer dieser Typen, die ihn im Gefängnis in die Mangel genommen haben. Untersetzt, breit, schnauzbärtig. Wieder einmal wird ihm bewusst, worin die große Schwierigkeit seines Vorhabens besteht . . . Dass er im Grunde niemandem trauen kann, noch nicht einmal seinen eigenen Leuten. Was hat ihm der Gefängnisdirektor zum Abschied außer der Tracht Prügel noch mitgegeben? Ein Wort zu viel, und du bist ein toter Mann. Und dann fügte er noch hinzu: Denk an deine Familie . . . Der Gedanke daran ist so grauenhaft, dass Adamyan zu zittern anfängt.
   „Hey, Mann, was ist los, du zitterst ja! Bist du krank?“, fragt Erika.
   Adamyan macht eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, nicht krank . . . Es ist nur –“
   „Dann sag doch mal was und rutsch nicht wie´n stummer Hering auf deinem Hosenboden herum! Wenn du so weitermachst, qualmt dir noch der Hintern!“
   Adamyan Faust kracht auf den Tisch: „Du fiese Kanalratte!“, schreit er auf´Äußerste gereizt, „kannst du nicht endlich mal dein dreckiges Maul halten? Das ist ja zum wahnsinnig werden! Du bist doch nicht ganz richtig im Kopf!“  
   Unerklärlich ist Emils Reaktion: Er klatscht in die Hände. „Hervorragend!“, röhrt er, „ganz hervorragend! Besser konnte es nicht kommen! Erika, du solltest echt zur Schaubühne gehen –“
   Adamyan springt so jählings auf, dass sein Sessel gegen die Blumenbank kracht und die Kunstpalme zum Schwanken bringt.
   „Verdammt nochmal! Was wird hier gespielt?“, brüllt er grün vor Wut, „bin ich hier im Irrenhaus?“ Er stößt er einen Schwall arabisch klingender Wörter aus. Dann zieht er die Nase hoch, um auszuspucken.
   Emil bleibt die Ruhe selbst. „Wahel, lass das und behalt die Füße auf dem Teppich“, sagt er ruhig und auf deutsch, „und setzt dich wieder hin! Auch wenn du verständlicherweise einen anderen Eindruck hast, du bist unter Freunden! Also beruhige dich, dann erkläre ich dir, was diese Komödie sollte, und Erika sagt dir, wer sie in Wirklichkeit ist.“
   Adamyan starrt eine Weile entgeistert auf ihn herab, dann setzt er sich schwer atmend.
   „Möchtest du vielleicht jetzt einen Tee mit Schuss?“, fragt Erika.
   Adamyan schweigt, denn er versteht nun überhaupt nichts mehr. Er zieht ein Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn. Auf einen Wink Erikas hin steht Emil auf und watschelt in Richtung Teeküche davon.
   „Also noch einmal, was willst du von Erika?“
   Die Wahrheit ist ein Schwert, das mich töten kann, denkt er und entschließt sich für die Halbwahrheit. „Tarek – äh, Abdelkarim meinte, wenn ich in Schwierigkeiten stecke, soll ich mich an ihn wenden. Erika wisse, wo ich ihn finden kann.“
   Tayips buschige Augenbrauen bilden jetzt ein stumpfes Dreieck. „Steckst du denn in Schwierigkeiten?“
   „Noch nicht, aber es kann ja noch kommen.“
   „Mit anderen Worten: Du willst also nach unten. Sicherlich wirst du einsehen, das wir keine Zaungäste gebrauchen können. Spione des Idarat oder der syrischen Armee oder sonst irgendwelche Under-Cover-Agenten können wir nicht dulden. Das ist der Grund, warum immer wieder Leute mit durchgeschnittener Kehle oder mit einem Messer im Rücken aus dem Landwehrkanal gefischt werden. Es geistern schon genug Schauergeschichten herum. Deshalb sehen wir uns jeden genau an, der mit den beiden in Berührung kommt. Mein –“
   „Wer ist wir?“
   „Das will ich ja gerade erklären. Ich bin Chef der Unterirdischen Polizei, und mein Amt ist es, dort unten für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Emil und Erika sind dafür verantwortlich, dass nicht die falschen Leute durch die Tür zum Tunnel treten.“
   Aus der Küche kommt das Geräusch zersplitternden Glases, gefolgt von einem saftigen Fluch.
   „Alles schön und gut, was du da erzählst“, sagt Adamyan gereizt, „nur wer sagt mir, dass du mich nicht in eine Falle locken willst? Ich trete durch die Tür zum Tunnel, und morgen liege ich erstochen in einem Hinterhof in Neukölln oder schwimme in diesem komischen Kanal. Weißt du, im Gefängnis da war einer, der sah dir verteufelt ähnlich. Und nicht nur das, er war einer dieser verfluchten Teufel in Menschengestalt!“  
   Erika: „Hey, Mann! Wenn wir jemanden liquidieren müssen, dann nicht unbedingt dort unten. Bei dir zum Beispiel hätte sich die Gegend am Ostbahnhof angeboten, wo du vorgestern Nacht unterwegs warst.“ Sie schüttelt verständnislos den Kopf. „Hey, Mann, Wahel, hast du wirklich geglaubt, zwei junge Leute stellen sich nachts um halb zwei bei Nieselregen unter eine Straßenlaterne und küssen sich wie zwei verliebte Teenager ab? Nee mein lieber, Berlin gilt zwar als sexy, aber so sexy, dass sich die Leute freiwillig eine Lungenentzündung holen, ist es nun auch wieder nicht. Wenn du also noch lebst, ist das ein Zeichen, dass wir dir bis jetzt noch trauen. Also vertrau du uns auch.“
   Emil kommt mit dem Tee, stellt ihn ab, setzt sich.
   Adamyan ist unschlüssig. Soll ich, soll ich nicht? So leicht will er nicht klein beigeben. Was er vorhat ist eine Sache auf Leben und Tod. Er hört die Worte seines Großvaters: Wenn auch der Wind schläft, der Feind schläft nie.
   „Worte! Nichts als Worte!“, stößt er unfreundlich hervor, „klar, ihr wollt sicher gehen, aber auch ich muss sicher sein. Also, wer sagt mir, dass der da nicht einer dieser regierungstreuen Halunken bist? Ein schwarzes Schaf wird nie weiß, auch nicht im Schneegestöber.“
   Tayip zieht sich das Hemd aus der Hose und krempelt es bis zu den Schultern hoch. Dann steht er auf und dreht sich um.
   Adamyan springt schockiert auf. „Mein Gott, das sieht ja furchtbar aus! Wo –“
   „In Qual as-Sad. Meine Fußsohlen sehen ähnlich aus, und meinen Nase . . . Drei von uns haben sie tot geprügelt. Ich hörte stundenlang ihre Schreie und sah das Blut unter der Zellentür auf den Gang sickern. Glaubst du mir nun?“
  Auf einmal sieht Tayips Gesicht nicht mehr verbrecherisch aus. Sogar ein bisschen sympathisch . . .
   Adamyan steht auf. „Verzeih, Bruder!“
   Der Breite erhebt sich ebenfalls. „Ich bin nicht dein Bruder!“, sagt er freundlich, „ich bin dein Freund! Denn ein echter Freund ist mehr wert als zehn halbherzige Brüder!“
   Sie gehen aufeinander zu, sehen sich ernsthaft an. Dann reiben sie sich die Nasen.
    „Wir müssen zu einer Entscheidung kommen“, drängt Tayip. „Soll ihm Erika die Tür zur Unterwelt aufschließen oder nicht?“  
   Emil: „Nach dem, was er mittlerweile von uns weiß, bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“
  Erika beugt sich vor und sieht Adamyan eindringlich an. „Und sollte er doch nicht sauber sein, der gute Wahel“, sagt sie und grinst unverschämt, „dann weiß er jetzt, dass die olle Kanalratte Karatemeisterin ist, und wenn die jemanden ein Messer zwischen die Rippen rammt, dann trifft det jenau ins Herz!“  
                                                                     
   „Eh du dir unnötig weiter den Kopf zerbrichst und nachts schlecht schläfst“, sagt Erika wenig später, als Emil und Tayip gegangen sind, „die beiden unter der Laterne waren meine Wenigkeit und Emil. Wir sollten herausfinden, ob die Adresse, die du Tarek angegeben hast, auch wirklich stimmt.“ Sie spricht jetzt in einem völlig anderen Tonfall als noch vor fünf Minuten. Nichts mehr von okay okay, Alter, scheiß Leben, Säuglingspisse, qualmender Hintern und ähnlichen rhetorischen Stinkbomben.
   „Dann war also mein Gefühl, dass mich jemand verfolgt, doch kein Hirngespinst!“
   „Wir haben dich nicht verfolgt, wir sind dir gefolgt. Das ist ein kleiner Unterschied.“
   „Nun werde nicht spitzfindig! Wie war das überhaupt möglich? Als ich ging, warst du doch noch im Darkraum! Und ich bin ziemlich schnell gegangen.“
   Sie lächelt wissend. „Es war ein Leichtes, dich trotzdem zu überholen. Emil wartete schon im Tunnel, und ich bin gleich runter, nachdem du gegangen warst. Der Tunnel verläuft schnurgerade, aber du musstest den Bauzaun umrunden. Der Ausstieg bleibt allerdings unser Geheimnis.“


                                                                                     5
   „Wo sind wir hier?“
   „Im Tunnelrohbau unter dem Potsdamer Platz.“
    Wahel Adamyan bleibt fasziniert stehen und schließt die Augen. Für einen Moment glaubt er zu träumen. Das brodelnde Gewimmel erinnert ihn an einen Bazar in Aleppo oder Damaskus . . .
   Emils Stimme reißt ihn aus seinen Träumen. „Mann, willst du hier Wurzeln schlagen?“
   Adamyan öffnet die Augen . . . Aus dem orientalischen Bazar ein schnöder Türken-Markt geworden, aus dem Menschenstrom ein schmales Rinnsal. Statt des Himmels hohe betongraue Bunkerwände . . . statt der müden berliner Sonne trüb-flimmerndes Neonlicht.
    Doch nicht alle Romantik ist verflogen. Der verlockende Duft ist immer noch da; er kommt von einem Stand mit orientalischen Süßigkeiten. Adamyan zieht  sein Portemonnaie –  
   „Das hat Zeit! Einen König lässt man nicht warten! Komm jetzt!“
   Ein fernes Grollen kündigt das herannahen einer U-Bahn an; wenig später donnert sie über ihren Köpfen hinweg.

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Beitrag21.11.2022 22:06

von wunderkerze
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Der Blockflötenspieler   

                                                                                1
  Über geborstene Treppenstufen, durch Drängelsperren, vorbei an Nischen mit Vierstockbetten, in denen Gestalten aus unzähligen Nationen die Zeit verdösen, erreichen die beiden Männer eine Stahltür. Davor lümmeln zwei bewaffnete Wächter mit Brustkästen wie prallvolle Blasebälge.
   Emil spricht etwas in sein Sprechfunkgerät, die Tür öffnet sich.
    Abdelkarim sitzt hinter einem Schreibtisch; bei ihrem Eintreten erhebt er sich und kommt mit ausgebreiteten Armen auf seinen Bekannten zu. „Ein verlässlicher Freund ist mehr wert als hundert schlaue Lehrer“, ruft er freudestrahlend, „bitte nimm doch Platz!“
   Emil bleibt neben der Tür stehen.
   Adamyan sieht sich erstaunt um. Das soll ein Bunker sein?
   Der kleine Raum wirkt keineswegs abweisend. Der Fußboden aus Terrazzo glänzt wie frisch gebohnert, die Wände sind in einem angenehmen Beigeton gestrichen und mit kindhaften Bildern à la Wilhelm Busch bemalt, sogar die Leuchtkugel an der Decke verstrahlt verhaltene Gemütlichkeit. An der Wand ein sauberer Schrank mit verglasten Türen, daneben eine altertümliche Telefonanlage, fast wie neu . . . Als wäre die Zeit stehen geblieben.
   Adamyan nimmt den Hörer ab und horcht hinein. „Funktioniert die noch?“
   „Nein.“ Abdelkarim sieht seinen Freund belustigt an. „Da staunst du, was? Mir ging es genauso, als ich mich hier unten zum ersten Mal umsah.“
    „Am Kurd Dagh wäre dieser Raum ein Wohnzimmer“, sagt Adamyan. „Nicht zu vergleichen mit dem Bunkerraum, den ich jetzt im Geiste sehe.“
   Der Freund stößt eine Holztür auf: Eine Toilette mit Spiegelschrank und Waschbecken. Hinter der nächsten Tür: Das Schlafzimmer. Ein eisernes Doppelbett, ein Kleiderschrank, ein Tisch, zwei Stühle.
   Ein Rattern lässt Adamyan aufhorchen. „Was ist das?“
   „Das Notstromaggregat! Komm!“
   Abdelkarim führt ihn einen Gang entlang, in einen großen kubischer Raum mit einem stampfenden und blau gestrichenen Maschinenungetüm. „Baujahr 1941“, sagt er, „Lichtgeber für fünfhundert Schattenexistenzen. Verbrauch 50 Liter Diesel pro Stunde. Läuft noch einwandfrei, nichts leckt, nichts klemmt, die Dichtungen sind noch geschmeidig, alles noch wunderbar beweglich, allerdings etwas laut. Deutsche Wertarbeit eben.“
   Adamyan starrt die Maschine fasziniert an. „Unglaublich“, murmelt er.
   Sie gehen zurück ins „Büro“.
  „Dieser Luftschutzbunker“, erklärt Abdelkarim, „ist der vergessene Rest einer ehemals ausgedehnten Bunkerwelt unter dem Potsdamer Platz. Das meiste davon wurde bei der Neubebauung des Areals zerstört. Diesen hier entdeckten meine Leute, als sie sich im Umfeld des U3-Tunnelrohbaus umsahen. Er liegt unter der Holocaust-Gedenkstätte. Da wurde wohl nicht so tief gebaggert. Diese Klause hier war wohl für einen dieser Nazi-Bonzen vorgesehen, was weiß ich.“
   Adamyan zeigt auf einen Schriftzug an der Wand. Es sind eigenartig eckig-hakige Buchstaben, fremdartig wie die Schrift auf einem anderen Stern.
   „Soll das deutsch sein?“
   „Ja. Jemand, der sich damit auskennt, nennt es Sütterlin.“
   „Und was steht da?“
                                                                            Juden raus!
   „Hmm . . .“
   Abdelkarim schnalzte mit der Zunge. „Ja. Die Deutschen sind ohne Zweifel das erstaunlichste Volk der Welt. Erst rotten sie halb Europa aus, und jetzt wollen sie die halbe Welt bei sich aufnehmen. Was stand vor vierzehn Tagen in der Zeitung? Frau Merkel, die Mutter Arabiens! Te,te, te … Die Franzosen gehen für ihre Renten auf die Straße, und die Deutschen? Für die Umwelt in Bangladesh! Da kenne sich einer aus. Aber von Bunkern und Vernichtungslagern, davon verstehen sie was. Saidnaya wurde nach deutschen Plänen gebaut. Aber nun genug davon. Es gibt wichtigere Dinge zu tun als das Wesen der Deutschheit zu ergründen.“
   Er sieht seinen Freund prüfend an. „Wahel, was willst du hier unten?“
   „Dasselbe, was du hier unten willst. Ich suche Schutz vor Verfolgung.“
   „Hier in Berlin? Hunderttausende sind hier, weil sie sich sicher fühlen! Und du –“ Abdelkarim tritt ganz nah an Adamyan heran. „Wahel, wovor hast du Angst?“
   Adamyan druckst herum. „Ich . . . äh . . . weißt du . . .“
   „Wenn ich wüsste, würde ich nicht fragen. Heraus mit der Sprache.“
   „Na gut . . . Vielleicht ist dir bekannt, dass seit April letzten Jahres sich zwei ehemalige syrische Geheimdienstfunktionäre wegen Folter und Mord vor dem Oberlandesgericht Koblenz verantworten müssen. Dreizehn syrische Folteropfer haben Anzeige erstattet. Ich bin einer von ihnen. Du weißt, diese Hunde kennen keine Grenzen, wenn es darum geht, Zeugen mundtot zu machen.“
   „Du? Als Zeuge? Hätte ich dir nicht zugetraut.“
   „Niemand kennt seinen Bruder wirklich.“
    Abdelkarim denkt eine Weile nach. „Als Zeuge . . . Da habe ich eine bessere Idee.“
   „Ja?“
    Abdelkarim zögert. Dann sagt er: „Ich nehme dich in unsere Brüderschaft auf. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, ehemalige Folterer, die sich hier in Deutschland aufhalten aufzuspüren und zu eliminieren, bevor sie die deutsche Justiz für ein paar Jahre komfortabel wegsperrt und dann wieder, gut genährt und parfümiert, auf die Menschheit los lässt. Es ist ein anderer Weg als deiner, aber vermutlich der wirksamere.“  
   Adamyanss Züge entspannten sich. „Da hast du vermutlich Recht.“
    „Allerdings –“
     Adamyan fährt hoch. „Was, allerdings?“
   „Beruhige dich! So einfach ist das nicht mit dem Eliminieren! Hast du schon einmal einen Menschen getötet?“
   „Nein, natürlich nicht!“
  „Sicher. Natürlich nicht. Habe auch nichts anderes erwartet. Wir sind ein friedfertiges Volk, solange man uns in Ruhe lässt, genauso wie unsere Brüder vom Dschebel Ansariye und vom Dschebel ad-Duruz. Allerdings, man lässt uns nicht in Ruhe. Die Folterknechte des Regimes verfolgen uns Tag und Nacht. Darum –“ Abdelkarims Gesicht verfinstert sich. „Also: Wenn du bei uns mitmachen willst, musst du töten können. Gut, Allah liebt den Totschläger nicht, so wie er das Schwören nicht liebt, aber noch weniger liebt er die Verräter. Wie heißt es in der zweiten Sure: Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Töten! Und diese Hunde haben sich durch ihre Taten aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen!“
   Etwas ruhiger: „Das Aufsagen einer Sure ist eine Sache, das Befolgen eine andere. Mancher großartige Maulheld hat da, wenn es ernst wurde, schon den Schwanz eingezogen und sich aus dem Staub gemacht.“
   Adamyan springt auf. „Hältst du mich für einen feigen Hund? Mein Ur-Ur-Großvater wurde für seine Tapferkeit in der Schlacht von Gallipoli von Enver Pascha höchstpersönlich ausgezeichnet! Ich bin stolz darauf, einen solchen Kämpfer als Ahnen zu haben und werde mich seiner würdig erweisen!“ Er steht mit verhaltenem Atem, dann sagte er: „Ich werde töten lernen!  Die Qualen und die  Schmach, die mir die Schergen des Idarat angetan haben, kann ich nur durch Rache löschen!“
   „Deine Worte vernehme ich gerne! Du brüllst nicht nur wie ein Löwe, du hast anscheinend auch das Herz eines Löwen! Solche Leute sind uns immer willkommen. Nur: Ich bräuchte einen Beweis deiner Entschlossenheit.“    
   Adamyans Figur strafft sich. „Sag, was ich machen soll“, ruft er mit fester Stimme, „und ich mache es ohne mit der Wimper zu zucken!“
   Abdelkarim schüttelt den Kopf. „Nicht so schnell, mein Bruder! Keine unbedachten Entschlüsse! Schlaf ein, zwei Nächte darüber, und wenn du dann immer noch willst, werden wir weitersehen. Am besten, du schaust dich erst einmal gründlich um, vielleicht sagt dir der Betrieb hier unten ja gar nicht zu. Emil kann dich begleiten, damit du dich nicht verläufst.“
   Es konnte nicht besser laufen, denkt Adamyan, als er hinter Emil den Raum verlässt.

                                                                             *
   „Du willst ihn tatsächlich aufnehmen?“
   Sie saßen vor der Shisha-Bar im „Asylantenheim“. Erika nuckelte an einem Strohalm herum, der in einem Milchshake steckte; vor Abdelkarim stand ein alkoholfreies Bier der Marke Schultheiß light.
   Ein Fernzug rumpelte über die Halle hinweg; das Licht flackerte ein paarmal und ging kurz aus. Als es wieder brannte, sagte Abdelkarim: „Noch ist es nicht so weit! Zunächst muss er zeigen, wie ernst es ihm ist. Und ob er überhaupt in der Lage ist, erstens, jemanden umzubringen, und zweitens, ohne dabei Spuren zu hinterlassen.“
   „Was schwebt dir vor?“
   „Zunächst fängt er mit einfachen Übungen an. Ohne Verletzte oder gar Tote. Ich denke da an Überfälle auf zwei Geschäftsleute, die nicht liefern wollen. Damit er keinen Fehler macht, wirst du ihn begleiten. Löst er die Aufgaben zu meiner Zufriedenheit, gehen wir eine Stufe höher.“
   Abdelkarim trank einen Schluck. „Und nun zu dir, mein Täubchen.“
   „Nenne mich noch einmal Täubchen, und ich piss dir ins Bier.“
   Er stellte das Glas wieder ab und wischte sich den Mund. „Das glaub ich dir sofort! Was ich dir aber nicht glaube ist der Grund, warum du hier unten die durchgeknallte Kanalratte spielst. Wenn alle Leute mit gesteigerter Lichtempfindlichkeit der Augen in den Untergrund gingen, wäre vermutlich sogar die berliner Unterwelt zu klein. Schon mal was von Sonnenbrille gehört? Also, was suchst du hier?“
   Erika verzog das Gesicht, als dächte sie nach. „Vielleicht einen Mann? Oder eine Frau? Oder einen Zwitter?“ Sie lachte herzhaft. „Heutzutage ist alles möglich! In Sibirien soll ein Mann zwei Jahre lang mit drei toten Frauen im Schlafzimmer gelebt haben.“
  Schweigen. Anscheinend war das Stelldichein schon zuende, bevor es richtig begonnen hatte. Abdelkarim blickte in die Halle. Trotz der vorgerückten Stunde herrschte noch reges Treiben. Am Gemüsestand wurde heftig gefeilscht. An der Gestik der beiden Streithähne konnte auch ein Sprachunkundiger erkennen, dass der Händler kurz vor dem Ruin und der Kunde kurz vor dem Hungertod stand.
   Abdelkarim sagte einlenkend: „Wenn du nicht darüber reden willst –“
   „Okay, okay, Mann! Eh du mich weiter nervst! Erstens: Hab ich was von Augen erzählt? Nee, hab ich nicht. Zweitens. Die Kanalratte leidet an einer fürchterlichen Lichtallergie der Haut. Allein wenn ich den Namen höre, könnte ich kotzen. Schon geringe Mengen Sonnenlicht verwandeln meine kostbare Oberfläche in ein juckendes und nässendes Inferno.“ Sie blinzelt ihr Gegenüber geheimnisvoll an und beugt sich vor. „Der Doktor empfahl mir eine Hautklinik, und da schmierten sie mich mit Cortison ein. Ich Idiot! Hab das auch eine Weile brav mit mir machen lassen. Bis ich mich im Internet schlau machte. Da hätte ich das ganze Zeug am liebsten wieder ausgeschwitzt. Die Langzeitschäden, der reinste Horror! Ich konnte wählen zwischen Glaukom, Glasknochen, Vollmondgesicht und Birnenfigur! Hmm . . . Na ja, der Vollmond wäre nicht das Schlimmste, aber wahrscheinlich würde der Rest auch aufgehen wie ein Windbeutel! Nee, meine Herren, dachte ich, wenn meine Haut auch der letzte Dreck ist – meine Figur will ich behalten! Dann doch lieber ein Leben als feucht-fröhliche Kellerassel, wenn´s auch hart ist, so ewig ohne Sonnenlicht! Glaub mir: Ich war reif für den Seelenklempner! Ein Scheißleben ist das, ehrlich gesagt.“
    Sie blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin.
   „Im Winter geht´s ja noch“, fuhr sie fort, „aber im Sommer! Ich war drauf und dran, mir eine Burka zu besorgen und damit einkaufen zu gehen, kein Scherz, Mann! Würde in dieser Stadt, in der bald mehr Orientalen leben als im Orient, doch gar nicht auffallen! Hmm . . . Eines Tages, bei einem Arztbesuch, wer sitzt da hinter der Empfangstheke? Ein Ex von mir. Er sah –“
    „Der, den du in die Eier getreten hast?“
   „Wie? Ach so!“ Sie wird rot wie ein Kind, das bei einer Lüge ertappt wird. „Nein, ein anderer, den ich später aus dem Fenster warf! Der Kerl sah sofort, was mit mir los war. War ja auch nicht schwer zu erkennen. Mein Gesicht zugekleistert wie das Gesicht einer Bäuerin, die der Stier angefurzt hat, dazu die schwarze Sonnenbrille, Schal und Handschuhe. Im Hochsommer! Abends klingelt mein Handy. Der Ex. Ich mach´s kurz. Er empfahl mir die Berliner Unterwelt, da bekäme ich alles unter Tage, was  ich über Tage auch bekäme, nur bei Kunstlicht, und dann auch noch für´n Spottpreis. Er wolle mich gerne mit den entsprechenden Leuten bekannt machen. Die Ärzte könnten mir auf die Dauer doch nicht helfen. Das, was ich da hätte, sei unheilbar. Er lud mich ins Berghain ein. Okay. Wir tranken ein paar Bierchen, tanzten ein paar Tänzchen . . . So, nun weißt du Bescheid. Seitdem lebe ich im Untergrund. Ab und zu, bei Mitternacht und Vollmond, komme ich nach oben wie eine alte Wetterhexe, um zu zeigen, dass ich noch lebe. Und damit sich meine Vermieterin noch an mich erinnert.“
   Hoffnungslos, dachte Abdelkarim , absolut hoffnungslos. Die Frau lügt wie gedruckt. Die Geschichte von der fürchterlichen Lichtallergie hat sie irgendwo aufgeschnappt oder gelesen. Anscheinend macht ihr das Fabulieren Spaß. Und diese so genannten Liebhaber . . . Ich wette, sie hat noch keinen einzigen zwischen den Beinen gehabt . . . Sie heißt auch nicht Erika. Aber wenn ich sie jetzt nach ihrem Alias frage, erzählt sie mir was vom Storch. Na soll sie. Ich krieg auch so raus, wer sie ist und wen oder was sie hier unten sucht.
   Trotzdem, es reizte ihn, sie ein wenig aufs Glatteis zu führen.
   „Schöne Geschichte, die du da gerade erzählt hast. Sie hat nur einen Fehler: Ich glaube sie nicht.“
   „Dann lässt du es eben. Außerdem hat nicht die Geschichte den Fehler, sonder du.“
   „Irgendjemand hat sie dir erzählt.“
   „Pah!“
   „Oder du hast sie irgendwo gelesen.“
   „Ich lese nicht.“
   „Ebenso wenig glaub ich an deine diversen Liebhaber. Schon gar nicht, dass du sie in die Eier trittst und aus dem Fenster wirfst.“
   „Das war doch nur zwei von vielen! Die anderen –“
   „Wer zwingt dich eigentlich zum Lügen?“
   Sie sprang wütend auf. „Woher weißt du denn, dass ich lüge, du Schlaumeier? Woher weiß ich denn, dass du die Wahrheit erzählst? Woher weiß ich denn, ob du wirklich Tarek Abdelkarim heißt und nicht Rumpelstielzchen? Woher weiß ich denn, ob hier unten irgendeiner nicht lügt und ausnahmsweise mal die Wahrheit sagt, he? Der Boden dieser beschissenen Halle ist mit Lügen gepflastert wie eine Eidechse mit Schuppen!“
    Plötzlich sank sie auf ihren Stuhl zurück, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
   Das Feilschen nebenan hatte aufgehört. Die Leute blickten interessiert in Richtung Shisha-Bar.
   Abdelkarim saß ratlos da. Sind die Tränen nun echt oder wieder nur eine Finte? Zeigt sie etwa Reue?
   Erika nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn mit verschmierten Augen treuherzig an.
   „Tarek“, murmelte sie, „vor zweieinhalb Jahren operierten mir die Ärzte einen Knochensplitter aus dem Hirn, der mir bei einer Explosion dort hineingeraten war. Seitdem bin ich manchmal nicht mehr ganz richtig im Kopf.“
   Abdelkarim zuckte leicht mit den Schultern. Hoffnungslos, dachte er, absolut hoffnungslos.
  F. f.

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Beitrag30.11.2022 21:17

von wunderkerze
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*
  Polizeimeldung vom 11. 11. 20..
    Treptow-Köpenick
 
  Unbekannte überfielen gestern Nachmittag einen Geschäft am Baumschulenweg. Nach bisherigen Erkenntnissen betraten kurz vor 18 Uhr ein Mann und eine Frau, beide maskiert, den Laden. Der Mann bedrohte die Angestellte mit einem Messer und forderte die Herausgabe von Geld. Anschließend flüchteten die Täter mit der Beute in unbekannte Richtung. Das zuständige Kommissariat des Landeskriminalamtes führt die Ermittlungen . . .  

   Polizeimeldung vom 15. 11. 20..
    Marzahn-Hellersdorf

   Ein maskierter Mann überfiel in der vergangenen Nacht eine Tankstelle in Hellersdorf.
Nach derzeitigem Ermittlungsstand öffnete der Unbekannte gegen 1.35 Uhr die geschlossene Schiebetür der Tankstelle in der Stendaler Straße mit Gewalt und bedrohte anschließend den 32-jährigen Mitarbeiter an der Kasse mit einem Messer. Der Bedrohte händigte die geforderten Einnahmen aus, woraufhin der Täter in Richtung Hönower Weiherkette unerkannt entkommen konnte. Der 32-jährige Kassierer wurde nicht verletzt. Das Raubkommissariat der Polizeidirektion 6 hat die weiteren Ermittlungen übernommen.

                                                                            *
   Tarek Abdelkarim faltete die Zeitungsausschnitte zusammen und warf die in den Papierkorb. „Gut“, sagte er, „sehr gut. Die Fingerübungen beherrschst du. Kommen wir jetzt zur nächsten Aufgabe.“
   „Was soll ich tun?“, fragte Adamyan.
   „Erst einmal setzt du dich, ich mag es nicht, wenn ich zu jemandem aufblicken muss, der kleiner ist als ich!“
   Adamyan setzte sich.
   „Als nächstes sollst du einen Mann, der es verdient hat, in die Hölle befördern.“
   „Mein Gott, Tarek! Muss das sein? Gegen einen Raubüberfall hätte ich nichts, aber gleich Mord?“
   „Das sagst du? Haben sie dich im Gefängnis nicht gefoltert? Dieser Mann ist einer von denen, die unschuldige Menschen, die ihnen nichts getan haben und nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, einfach aus Spaß totgeprügelt haben! Und mich haben sie –“
   Abdelkarims Stimme versagte. Als er wieder reden konnte, rief er: „Bei Gott, diese Leute sind doch Teufel in Menschengestalt! Ich habe blutige Rache geschworen, Rache, Rache, Rache!“
   Adamyan murmelte: „Aber warum denn gleich umbringen?“
    Abdelkarim machte eine scharfe, abschneidende Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete. „Noch so eine Bemerkung, und du bist raus!“
     
                                                                            2
   Altes Stadthaus, Senatsverwaltung für Inneres und Sport, kleiner Sitzungssaal
   Der Innensenator,  Herr Stanislaus „Stani“ Stinkan, groß, breit, schwarze Haare, stark gewölbte Stirn, bittet Platz zu nehmen.
   Nach ein paar Begrüßungsworten kommt er sofort auf den Punkt.
   „ – wir sind hier unter uns und können frei sprechen. Der Großteil der Immigranten stellt gar keinen Asylantrag mehr sondern verschwindet gleich im Untergrund. Wir haben es mit einem zunehmenden Unsichtbarkeitsphänomen zu tun. Niemand weiß, wie groß die Zahl der Unsichtbaren bundesweit überhaupt ist und wo sich diese Leute aufhalten. Die letzte belastbare Schätzung stammt aus dem Jahr 2009 und belief sich auf bundesweit 300.000 bis 500.000 Personen. Das Innenministerium geht inzwischen von weit  über einer Million aus. Bei der Größe Berlins halten Experten zwanzig bis fünfundzwanzig Tausend für durchaus realistisch.“
   Während er spricht, nimmt sein Gesicht manchmal einen kindlich-verlegenen Ausdruck an, der in Momenten der Unsicherheit in einen geradezu mädchenhaften Augenaufschlag gipfelt.
   „Allein der Luftschutzbunker unter dem Alex fasst 3500 Personen. Und das Berliner Kanalnetz ist über zehntausend Kilometer lang und bis zu vier Meter hoch. Ich schätze, dass sich dort unten mittlerweile an die fünftausend illegale Migranten aufhalten, allein zweitausend Syrer. Dann haben wir noch diverse Tunnelstutzen, zum Beispiel am U-Bahnhof Klosterstraße, die Bauvorleistung Potsdamer Platz, den Geisterbahnhof Schöneberg und und und – “
    Frau Schwarz-Schilling, die Polizeipräsidentin, eine schlanke Brünette mit dunklem Teint und schmalen Lippen, sagt: „Die Problematik ist mir bekannt.“
   „Und warum räuchern Sie die Nester nicht aus?“
   Dem Innensenator stockt für einen Moment das Herz. Diese Bemerkung, an die Öffentlichkeit gebracht, würde sein vorzeitiges aber völlig unsinniges politisches Aus bedeuten. Schon öffnet er den Mund, um den Satz zu relativieren, doch es ist bereits zu spät. Frau Schwarz-Schilling blickt ihn durchdringend an und sagt: „Weil es keine Maulwürfe, sondern Menschen sind!“
   Dem Innensenator wird klar, dass heute nicht sein Tag ist. Er fürchtet sogar, die Polizeipräsidentin könnte ihn zur Strafe für diesen Fauxpas wie dieser freche Redner von der rechtsextremen Oppositionspartei nächstens mit 'Herr Stink-Hahn' anreden, mit deutlicher Pause zwischen Stink und Hahn – ein Albtraum aus Schülertagen, der immer noch nachwirkt. Und das, wo ihn diese Leute hinter der Hand auch noch „Stasi“ statt „Stani“ nennen.
  Doch Frau Schwarz-Schilling sind solche Flegeleien wesensfremd. „Herr Stinkan“, sagt sie schlicht,
   „Sie verkennen die Lage! Geben Sie mir fünftausend Polizeibeamte, und ich lasse die zehntausend Kilometer Unterwelt systematisch absuchen. Nur, bei der gegenwärtigen Personaldecke –“
   „Sie brauchen doch nur die Einstiegsschächte überwachen! Was kann denn daran –“
   Die Polizeipräsidentin lacht so schrill, als wollte sie eine der Buntglasscheiben zersplittern. „Herr Stinkan“, keucht sie, „Sie haben ja keine Ahnung! Die Leute steigen doch nicht über die Tiefgarage am Alex ein oder über die Bude am Bahnhof Gesundbrunnen, sondern an geheimen Orten.“
   „Ach was! Geheime Orte! Dann klären Sie die geheimen Orte mal schleunigst auf!“
   „Einen geheimen Ort haben wir schon.“
   „Na Sehen Sie! Es geht doch! Und wo?“
   Die Augen der Polizeipräsidentin blitzen raubtierhaft. „Die Adresse wird Sie kaum begeistern, Herr Senator. Im zweiten Hinterhaus Rigaer Straße 194.“
   Der Innensenator verliert sichtlich an Farbe. Rigaer Straße 194! Auch das noch!
   Seine Riesenpranke kracht auf den Tisch; in seinem Wasserglas entsteht eine kleine Dünung. „Wie? Bei den Chaoten?“, donnert er. Rigaer Hundertvierundneunzig! Ein Albtraum! Eine Hausnummer mit Gruselfaktor. . .
   Wie Sodbrennen stößt es ihm auf . . . Diese jahrelangen linksradikalen Krawalle, Hausbesetzungen, Brandanschläge, Angriffe auf Polizisten . . . Diese gerichtlich angeordneten und wieder abgewiesenen Räumungsklagen, dieser Nebel aus unklaren Eigentumsverhältnissen, überlasteten Richtern, politischer Intrige . . . Das Versagen der Berliner Justiz und sein eigenes . . . Sein unausgesprochenes Eingeständnis, vor der linksautonomen Szene dieser Stadt kapituliert zu haben.  
   Doch sofort hat er sich wieder in der Gewalt.
   „Sehen Sie eine Möglichkeit, da hinein zu kommen?“, fragt er und denkt: Soll sich doch mein Nachfolger mit der Nummer abquälen. Noch acht Wochen, dann liegt diese unsägliche Polit-Komödie hinter mir!
   Herr Sauer, der bisher geduldig, aber unauffällig seine marzipan-zarten Finger besichtigt hat, sagt: „Frau Präsidentin, erlauben Sie? Schließlich greift der Sachverhalt jetzt in mein Ressort.“
   Auf das Nicken hin fährt er fort: „Vielleicht wäre es hilfreich, Herr Senator, zunächst auf Polizeieinsätze zu verzichten. Noch sind die Glutnester der Vergangenheit nicht ausgetreten.“ Wenn Sauers Gesichtshaut rosig ist, dann ist seine Ausdrucksweise blumig. „Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass die letzte Hausdurchsuchung in 194 zu einer Straßenschlacht führte, was sich jederzeit wiederholen kann. Wir haben es hier in Berlin mittlerweile mit annähernd fünftausend gewaltbereiten Linksautonomen zu tun, die nur auf eine Gelegenheit warten, die Fackel des Aufruhrs in diese Stadt zu schleudern.“
   „Ich denke auch“, pflichtet ihm die Polizeipräsidentin mit ausladender Handbewegung bei, als lasse sich die Fülle der Probleme gar nicht erfassen, „gerade jetzt, wo die öffentliche  Stimmung wegen tatsächlichen oder vermuteten Mietwuchers extrem aufgeheizt ist. Da reicht ein Funken . . . Solange sich die Leute da unten ruhig verhalten, sehe ich keinen Grund zum Eingreifen. Da sind sie, salopp ausgedrückt, wenigstens von der Straße!“
  Der Senator nippt einen Schluck Wasser, wobei er denkt: Ja verdammt noch mal, wofür kriegen die eigentlich Ihr Gehalt! Dann wieder ein Augenaufschlag. „Wollen Sie damit sagen, Frau Präsidentin, dass dort unten fernab des Gesetztes etwa Recht und Ordnung herrscht? Kann ich mir, ehrlich gesagt, beim besten Willen nicht vorstellen. Wie soll das denn gehen, wo wir schon über Tage –“  
   „Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche“, sagt Herr Sauer mit artiger Verbeugung, „wir haben Hinweise, dass dort unten so genannte Qadis für Recht und Ordnung sorgen, und dass es dort unten sogar so etwas Ähnliches wie eine Polizei gibt. Gut . . .  Ich gebe zu, das wäre eine Art illegale Paralleljustiz, aber allem Anschein nach funktioniert sie. Bisher liegen uns jedenfalls keine Hinweise vor, dass es –“  
   „Lieber Herr Sauer!“
   Auf dem etwas schwammigen Gesicht des Senators spiegelt sich unverhohlener Unmut. „Hinweise, Hinweise, Hinweise! Die Sie haben oder nicht haben! Dafür kann ich mir nichts kaufen! Ich möchte unter keinen Umständen, dass es die Regierung aus der BLIND-Zeitung erfährt!“ Vor seinem inneren Auge taucht eine frech-fette Schlagzeile auf: Innensenator verschweigt Parallelstadt im Berliner Untergrund! „Wenn ich die Senatsversammlung zu spät unterrichte, lachen mich meine so genannten Freunde aus, und die Opposition klopft mit den Schuhen auf die Tische! Also, gibt es diese Schattenstadt nun oder gibt es sie nicht?“
   Herr Sauer, im hohen weißen Sessel fast versunken, sagt mit unerschütterlicher Artigkeit: „Lieber Senator, wie immer im Leben gibt es mindestens zwei Wege. Entweder Sie sagen nichts und schweigen, oder Sie machen aus Hinweisen Fakten! Sie bestätigen die Existenz einer unterirdischen Parallelstadt! Der Regierende wird diese Information mit Kusshand aufnehmen! Endlich haben die Medien ein Schlachtfeld, dass sie von der sozialen Misere in dieser Stadt ablenkt! Er wird Ihnen dankbar dafür sein!“    
   „Ähem!“
   Die Polizeipräsidentin räuspert sich vernehmlich und nimmt ihren Blick von dem Gestrüpp, das dem Innensenator aus der Nase wächst.
   „Meine Herren!“
   Sie fährt die Attacke mit geläufiger Kehle. „Kehren Sie doch bitte wieder auf den Boden der Tatsachen zurück! Parteipolitisches Geplänkel ist jetzt nicht angebracht. Sollte sich die Existenz dieser Schattenstadt bestätigen – woran ich nicht zweifele –  haben wir ein Riesenproblem! Dann müssen wir nämlich davon ausgehen, dass unter anderen deutschen Großstädten Ähnliches geschieht. Deutschland wäre dann ein Haus mit Kellergeschoss, und die Politik müsste eingestehen, dass sie weder die erste Etage noch den Keller in puncto Zuwanderung im Griff hat.“
   Bedrücktes Schweigen.  
  Als erster fasst sich der Vertreter des Verfassungsschutzes. „Nun malen Sie mal nicht so schwarz, Gnädigste“, sagt er. „Sie können doch Berlin nicht mit anderen deutschen Großstädten vergleichen. Berlin genießt seit Jahren einen immer legendäreren Ruf. Die Flüchtlinge suchen hier etwas, was es anscheinend nur hier gibt. Diese Stadt ist für Millionen Vertriebene ein Sehnsuchtsort von Geborgenheit und Freiheit.“
   „Wie die Titanic kurz vor dem Untergang“, murmelt der Senator griesgrämig. Sein leichtsinnig-jugendliches Gehabe ist völlig verschwunden. Er blickt Sauer an. „Weiß der Innenminister von diesen . . . äh . . . Vermutungen?“
  „Woher soll ich das wissen? Von meiner Behörde jedenfalls nicht. Unter uns: Der Mann ist doch jetzt schon total überlastet, warum ihn noch mit faulen Eiern bewerfen?“
   Frau Schwarz-Schilling lacht herzhaft. „Das haben Sie nett gesagt“, schmunzelt sie, „an Ihnen ist ein Poet verloren gegangen!“
   Sauer verbeugt sich gemessen und belegt die Präsidentin mit einer Charmeoffensive, indem er ihr aus seinen mädchenhaft bewimperten Augen einen betörenden Blick zuwirft. „Sie werden es nicht glauben, Gnädigste, als Schüler war mein Traumberuf Dichter! Mein Vater bekam fast einen Herzinfarkt, als er davon erfuhr.“
   „Warum eigentlich? In Ihrem realen Beruf“, versetzt die 'Gnädigste' gnadenlos, „liegen doch Dichtung und Wahrheit eng beieinander!“
   Der Senator grunzt ungehalten. Dieses Geschwafel frisst unnötig Zeit, und Sauers wurmiges Gehabe geht ihm schon seit Langem auf den Geist. Wieder merkt er, dass er diesen Mann trotz aller parteipolitischer Übereinstimmungen nicht mag.
   „Frau Polizeipräsidentin“, raunzt er, ohne den Verfassungsschützer eines Blickes zu würdigen, „da muss doch etwas unternommen werden! Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie immer mehr Illegale in diese Stadt einsickern und in den Untergrund abtauchen!“
  Sauer wirkt auf einmal hellwach. Die Augen in seinem wohlgeformten Präzisionsgesicht leuchten. „Bevor Sie etwas unternehmen, Frau Polizeipräsidentin“, sagt er mit kreideweicher Stimme, „noch ein Hinweis. Wir haben einen Tipp bekommen, dass sich dort unten mehrere mit internationalem Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher unter falschen Namen aufhalten. Wenn Sie zu forsch an die Sache herangehen, sind die Vögel möglicherweise schon ausgeflogen, bevor wir die Meldung verifiziert haben.“  
  Anscheinend hat der Senator diese Bemerkung nicht gehört, oder er will sie nicht hören. In Gedanken versunken murmelt er: „Eine Stadt unter der Stadt . . . An sich ein fantastischer Gedanke . . . Wie im Märchen . . .“
    Er blickt die Polizeipräsidentin mit gewinnendem Lächeln an.
    „Wie soll das funktionieren? So viele Menschen müssen doch versorgt werden und so weiter! Sie brauchen Medikamente! Und dann, wo bleiben die ganzen Abfälle und dergleichen!“
   „Wir wissen von mehreren Lebensmittelhändlern und Apothekern mit Migrationshintergrund, dass sie ihre abgelaufene Ware in ein Sammeldepot bringen, und zwar erhebliche Mengen, angeblich für mehrere Berliner Tafeln.“
   „Wieso angeblich?“
   „Bei mehreren Stichproben haben verdeckte Ermittler des Ordnungsamtes festgestellt, dass der größte Teil der Lebensmittel kurz nach der Anlieferung an diese Depots nicht mehr da war.“  
   „Gestohlen?“
   „Abgelaufene Lebensmittel? Unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist: Sie waren bereits im Untergrund verschwunden.“
   „Und wo genau liegt dieses mutmaßliche Depot?“
   „Auf dem RAW-Gelände an der Revaler Straße.“
   Stinkan zieht die Luft scharf durch die Nase ein. „Auch das noch!“, stöhnt er.
  Das Tischtelefon surrt dreimal. Der Innensenator erhebt sich. „Meine Dame, mein Herr“, dröhnt er jovial, „Sie haben es es gerade gehört: Der Nächste Termin ruft.“ Er gibt allen dreien die Hand. „Es war mir leider kein Vergnügen!“, sagt er und lacht überlaut. „Holen wir aber nach! Holen wir alles nach! In acht Wochen bin ich Privatmann, und dann lade Sie zu Currywurst und Mettbrötchen ein, hahaha!“
   Als er wieder allein ist, geht er ans Fenster und blickt nach draußen, in den dunklen Innenhof. Er steht unbeweglich, wie erstarrt. Sollte auch mal das Parfüm wechseln, die Schattenmorelle, denkt er. Dann öffnet er die Vorzimmertür und ruft: „Frau Kanopke, können Sie bitte mal herkommen?“

   Der Verfassungsschützer und die Polizeipräsidentin steigen die teppichbelegten Stufen zur Eingangshalle hinunter, deren bunte Neogotik in krassem Gegensatz zur schlichten Ausstattung des Sitzungsraumes steht. Frau Schwarz-Schilling hat gerade leise eine Frage gestellt, die Sauer ebenso leise beantwortet: „Aber ja doch! Bisher hat sich die Kellerassel als zuverlässig erwiesen. Wieso könnte ich sonst von Maßnahmen abraten. Sollte ich neue Nachrichten erhalten, schicke ich sie Ihnen per Rohrpost hinüber.“      
  F. f

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HansGlogger
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Beitrag30.11.2022 21:38

von HansGlogger
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Ich habe den letzten, heutigen Teil gelesen. Stückweise schon spannend. Ich würde nicht soviel Info in Dialoge packen.
Eher in Form eines Berichtes. Jemand legt eine Lagebeschreibung vor. Ein anderer liest sie laut vor.
Oder so
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wunderkerze
Eselsohr
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Beitrag01.12.2022 21:30

von wunderkerze
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Vielen Dank für den Hinweis!

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wunderkerze
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Beitrag14.12.2022 20:10

von wunderkerze
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   Abdelkarim schlägt eine Mappe auf, zieht ein Blatt Papier heraus und legt es vor Adamyan hin.    „Auf dieser Liste“, sagt er, „stehen die Namen einiger Leute, die es nicht wert sind, dass sie weiterhin die Sonne Allahs bescheint. Vor allem dieser Mann hier“ – er tippt mehrmals auf eine Stelle des Papiers – „sollte möglichst bald zur Hölle fahren. Leider konnten wir ihn noch nicht eliminieren, weil wir bisher noch nicht sicher waren, ob er auch derjenige ist, dessen Name hier auf dieser Liste steht.“
   Er verzieht angewidert das Gesicht. „Der Mann nennt sich Abdul Azim Mahmoud-Ghazi und hat unter Verwendung falscher Papiere letzte Woche beim BAMF in der Badischen Straße einen Asylantrag gestellt. Er behauptet, irgendwelche Kämpfer des IS wollen ihn ermorden. Manchmal tun mir diese blauäugigen Deutschen Leid. Niemandem ist aufgefallen, das dieser Name einem 1932 verstorbenen Afghanischen Prinzen gehörte. Sein wirklicher Name ist Nasir ad-Din, einer der Mörder vom Dagh Kurd. 2012 hat er sich in Qual as-Sad als Wachmann betätigt.“
   „Hmm . . . Nasir ad-Din . . . nie gehört.“
  „Es hat eine Weile gebraucht, bis wir ihm auf die Schliche kamen. Jetzt sind wir sicher.“
    „Wieso? Läuft er auch auf Stelzen?“
    Abdelkarim lacht rau. „Schlimmer noch. Er läuft in Frauenkleidern herum, schminkt sich, riecht wie ein Stinkdachs nach Parfüm und trägt eine Goldkette mit einem Kreuz um den Hals. Und er drückt sich in Nachtbars herum. Dieser Ziegenficker meinte wohl, seine Rächer würden ihn deshalb für einen Ungläubigen halten und nicht wiedererkennen. Schon deshalb hat er den Tod verdient. Mir kam der Typ sofort verdächtig vor. Besonders die verspiegelte Sonnenbrille, die anscheinend auf seiner Nase Wurzeln geschlagen hat, brachte mich auf die Spur. Ein schwarzes Schaf wird nie weiß. Allah sagt durch den Propheten –“
  „Ich weiß, was Allah sagt. Weißt du wie viele schwarze Sonnenbrillen hier in Berlin herumlaufen?“
   „Nein, interessiert mich auch nicht. Mich interessiert nur eine: Seine.“
   „Und jetzt habt ihr ihn erkannt.“
   „Ja – das heißt, Erika brachte den letzten Beweis.“
   „Ach! Die gute Kanalratte! Wie denn?“
   „Schau dir mal dieses Video hier an.“
    Adamyan beugte sich vor. „Eine Steinigung!“, ruft er verblüfft und abgestoßen zugleich.
    „Ja. Im Februar 2014 wurden in meinem Dorf acht Männer zu Tode gesteinigt, darunter zwei Verwandte von mir. Unter den Steinigern war auch Nasir ad-Din, wie dieses Video beweist.“
   Adamyan kneift die Augen zusammen. „Mir beweist es gar nichts. Die sind doch alle mehr oder weniger vermummt!“
   „Warte. Ich zoome das mal näher heran. So. Nun schau dir mal genau die Stirn des linken Steinewerfers an.“
   „Oha! Sieht wie zerhackt aus.“
   „Eben! Nasir ad-Din überlebte als einziger und nur knapp ein Bombenattentat, das eine verfeindete sunnitische Miliz auf seine Gruppe verübte. Das Video stammt aus 2014, seitdem sind die Narben weitgehend verheilt, zurückgeblieben ist eine Art Mosaikhaut an seiner Stirn und etliche Narben im Brustbereich. Und sein Gang.“
    Abdelkarim spult das Video vor. „Da!“
   „Bei Gott, wie geht der denn!“
   „Ja, als hätte er keine Eier sondern Tennisbälle zwischen den Beinen. Du siehst, wir geben uns alle Mühe, nicht den Falschen zu treffen.“
   Abdelkarim macht das Video aus. „Damals dachte der ISIL noch, er könnte demnächst die Herrschaft in Syrien antreten, und Nasir ad-Din benahm sich dementsprechend. Er ist intelligent, gut vernetzt und äußerst grausam. Auf sein Konto gehen hunderte von Morden, darunter Dutzende von Kreuzigungen, Erschießungen, Vergewaltigungen. Er liebt das Blut und die grausame Rache, aber in Wirklichkeit ist er ein Feigling. Rechtzeitig vor der Niederlage des Kalifats setzte er sich nach Deutschland ab, denn er weiß: Seine Verbrechen wiegen so schwer, dass ein Verzicht auf Vergeltung, wie es das islamische Gesetzt wegen der Güte Gottes zulässt – Allah sei gepriesen –, für ihn nicht infrage kommt. Deshalb hat er unter falschen Namen und gefälschten Papieren Asyl beantragt. Er bildet sich ein, hier, in diesem Land, wo Blutrache als Mord gilt und schwer bestraft wird, kann ihm nichts passieren, höchstens eine bequeme Gefängniszelle. Aber da irrt er gewaltig.“
   „Und wieso bist gerade du hinter ihm her?“
   „Ich bin nicht nur hinter ihm her und auch nicht allein. Die geschädigten Familien aus meinem Dorf, darunter auch meine, haben unter Aufsicht eines Qadis über ihn beraten und seinen Tod beschlossen. Ich und meine Leute sollen das Urteil vollstrecken. Vor vierzehn Tagen tauchte er im Berghain auf. Mir kam die Person sofort verdächtig vor; so albern benimmt sich noch nicht einmal ein Ungläubiger im Alkoholrausch. Ich bat Erika, sich um ihn zu kümmern. Als er die Brille ablegte und das Hemd auszog, sah sie die Narben. “
   „Bist du sicher, dass es auch wirklich Nasir ad-Din ist?“
   „Ja. Ich habe jemanden beim LFA in Tegel, der sich die Leute genau ansieht, die da ankommen. Allah wollte es, dass der Dolmetscher bei Nasirs Anhörung unser Mann war. Ihm fielen gewisse Spracheigentümlichkeiten auf, die von Nasir bekannt sind. Somit besitzen wir drei Hinweise auf seine Identität: Seinen Gang, seine Stirn, seine Sprache. Sein Schicksal ist besiegelt. Hinzukommt, dass er höchstwahrscheinlich gar nicht verfolgt wird, sondern unter falschem Namen selber jemanden verfolgt, den er oder seine Auftraggeber hier unten vermuten. Oder hast du schon mal etwas von Kämpfern mit einem silbernen Schwert gehört?“
   „Nein. Klingt wie aus Tausend und einer Nacht. Hast du eine Ahnung, wer dieser Jemand sein könnte?“
   „Bis jetzt noch nicht.“
   Adamyan knetete sich nervös die Finger. „Wäre es dann nicht besser abzuwarten, bis wir Näheres über diese . . . äh . . . Person wissen?“
   „Warum? Der Feind meines Feindes ist mein Freund, also warum? Das bekommen wir schon noch heraus. Unsere Spitzel sitzen überall! Sag mal, Wahel, ist dir nicht gut?“
   „Doch, doch! Kleiner Durchhänger. Bin wohl zu lange mit nassen Füßen herumgelaufen. Geht schon wieder. “
    Abdelkarims Finger rutscht eine Zeile tiefer. „Nasir ad-Din ist nicht der einzige, hinter dem wir her sind. Wenn wir ihn erledigt haben, kommt der hier dran. Er war einer der brutalsten Totschläger in Qula as-Sad. Auch er hat sich nach Deutschland abgesetzt. Wo er sich gegenwärtig aufhält, wissen wir nicht. Aber das herauszufinden ist nur eine Frage der Zeit. Sein Name ist Mustafa al-Suleiman. Auch ihn werden ich und meine Leute seiner gerechten Strafe zuführen, und die kann nur heißen: Auge gegen Auge, Qual gegen Qual, Leben gegen Leben.“
   „Und woran wollt ihr den erkennen? Vielleicht hat er sich ja den Bart abrasiert und läuft mit Perücke herum.“
   „Das wird ihm nichts nützen! Er ist ziemlich schmächtig, hat eine hohe Stimme, eine fliehende Stirn und ein knallrotes Feuermal am Hals. Im Straflager nannten wir ihn den Feuerteufel. Alles weitere wird sich finden, wenn wir ihn haben.“
   Adamyan tippte mit dem Finger auf einen anderen Namen. „Was ist mit dem hier?“
   „Der? Wir nannten ihn den Hundertfünfundachtziger, ein besonders sadistisches Schwein. Wenn du ihm etwas nicht richtig machtest, musstest du die Hände durch ein Loch in der Tür stecken, und er schlug genau 185 Mal mit seiner Peitsche darauf, keinen Schlag weniger oder mehr, und dann musstest du die Hände blitzschnell wieder zurückziehen, sonst drohte er damit, sie zu brechen. Da sie mittlerweile stark angeschwollen waren, ging das in dem engen Loch nicht ohne erhebliche Hautverluste. Sein Name ist Hakan Abdullah Khan. Sollte er sich in Deutschland blicken lassen und wir finden ihn, ist er fällig. Und, bei Gott, meine Leute werden ihn finden!“
   „Du und deine Leute! Klingt ziemlich geheimnisvoll. Wer sind denn die?“
  „Warum willst du das wissen? Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freund erst recht nicht! Übrigens, wo wir gerade bei diesem Thema sind.“
    Abdelkarim senkt aus nicht erkennbarem Grund die Stimme, denn im Raum ist außer ihnen beiden niemand. „Du wirst dich von jetzt ab Saad Manou nennen. Dann: Sollten wir uns zufällig mal auf der Straße begegnen: Du kennst mich nicht, ich kenne dich nicht, verstanden? Noch nicht einmal ein kurzes Naserümpfen oder Augenbrauen hochziehen ist erlaubt! Das gilt auch für alle anderen hier unten. Die Augen des Chamäleons sind scharf und blicken in verschiedene Richtungen! Zunächst nimmst du dir diesen Nasir ad-Din vor. Ich will einen sauberen Stich, kein Gemetzel. Der Koran – ähem. Der Mann ist  ein Schwein –“
   „Stich? Ich soll ihn erstechen?“
   „Ja, du benutzt ein Stilett. Allerdings erfordert es Kraft und Geschicklichkeit, damit einen tödlichen Stich auszuführen. Ich schlage vor, du machst erst einmal ein paar Probestiche, damit du ein Gefühl für die Sache entwickelst.“
   Adamyan erbleicht. „Sagtest du gerade Probestiche? Ich soll –“
   „Natürlich! Wie heißt es doch bei den Deutschen so treffend? Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“
    „Wäre es nicht einfacher, ihn zu erschießen?“
   „Nein, wahrscheinlich würde es eine Schießerei mit vielen Toten und Verwundeten geben, und die wäre das Letzte, war wir gebrauchen können. Das Attentat geschieht völlig lautlos und so schnell, dass seine Entourage erst merkt, was los ist, wenn er bereits tot ist. So hat es der Rat der Zwölf Weisen beschlossen.“
   Abdelkarim steht auf. Plötzlich brüllt er: „Kerl, wie heißt du?“
   Der Angebrüllte verdattert: „Tarek, was soll das?“
   „WIE DU HEISST WILL ICH WISSEN!“
    „Das weißt du doch! Wahel Ad –“
   „WIE DU HEISST WILL ICH WISSEN!“
   „Saad Manou“, kommt es kleinlaut.
   „LAUTER!“
   „SAAD MANOU!“
   „Na also! Reg dich nicht auf und komm mal mit!“

                                                                           *
   Als das Licht angeht, prallt Adamyan zurück. Von der geborstenen Decke hängt mit ausgerenkten Vorderbeinen und blöde glotzenden Augen der bleiche Körper eines toten Schweins. Die Hinterbeine, mit Seilen an eiserne Ringen am Boden befestigt, wirken im Vergleich zu dem langen Körper lächerlich kurz.
   „Was soll das denn?“, fragt er verdutzt.
   „Unser Versuchslabor, ein ehemaliger Folterkeller der Nazis“, erklärt Abdelkarim.
  Adamyan blickt ihn irritiert an. „Du verlangst doch wohl nicht, dass ich mich mit einem Schwein in ein und demselben Raum aufhalte, noch dazu in einem Folterkeller!“
   „Dann versuchst du es eben an einer menschlichen Leiche.“
   „TAREK!“
   „Nun hab dich nicht so! Du sollst das Schwein ja weder anfassen noch aufessen, und du wirst auch nicht gefoltert! Außerdem bekommst du Handschuhe, und wenn du willst auch noch einen Mundschutz.“
   „Na schön. Aber warum gerade ein Schwein? Ginge es nicht auch mit einem Hund?“
   „Nein. Der Körperbau des Hausschweins kommt nun mal dem des Menschen ziemlich nahe. Es hat ein paar Rippen mehr, seine Schwarte ist etwas fester, aber das ist für unsere Zwecke eher günstig.“  
   Erika erscheint. „Wollt ihr nicht hineingehen?“, fragt sie.
  „Saad hat Bedenken wegen des Schweins.“
   Sie blickt Adamyan listig an. „So? Na dann blasen wir die Übung eben ab und ich übernehme den Job!“  
   „Du?“  
   „Ja, ich! Oder traust du mir das nicht zu?“
   „Mittlerweile trau ich dir alles zu!“
   „Dann hab dich nicht so und geh rein!“
   Auf einem Tisch liegen zwei Stichwaffen, ein Paar Gummihandschuhe sowie ein hellblaues Kleidungsstück. Erika fordert Adamyan auf, die Handschuhe überzuziehen und eine dieser Waffen, ein Kampfmesser mit schmaler Klinge, fest in die rechte Hand zu nehmen. „So, Saad, wohin würdest du stechen, um das Tier, wenn es noch lebte, mit einem Stich zu töten?“, fragt sie.
   „Ich denke mitten ins Herz.“
   „Na dann stich zu!“
   Nach kurzem Zögern tritt Adamyan einen Schritt vor und sticht zu. Es gibt ein dumpfes Geräusch; die Klinge ist etwa sieben Zentimeter in den Körper eingedrungen und dann stecken geblieben.  
   „Na prima! Jetzt hast du wahrscheinlich die Spitze abgebrochen!“, höhnt Abdelkarim.
   „Zieh das Messer wieder heraus“, befiehlt Erika. Die Spitze ist noch dran. „Was lernen wir daraus?“ Sie sieht Adamyan herausfordernd an.
   „Sag es mir.“
   „Okay. Wir lernen daraus, dass wahlloses und unüberlegtes Zustechen nicht zielführend ist. Die Klinge ist im Brustbein stecken geblieben. Sollte dir das bei Nasir auch passieren, bist du der Tote, nicht er. Und er ist nicht blind. Du trittst mit gezücktem Dolch auf ihn zu und erwartest, dass er still hält.“
   „Nein, natürlich nicht! Ich . . . ähhh . . .“
   „Schon gut! Dazu kommen wir gleich. Nasir trägt eine leichte Stichschutzweste, zumindest trug er sie, als er bei mir war, und zwar von der Sorte hier.“
   Erika nimmt eine Weste vom Tisch und hält sie Adamyan hin. „Er rechnet also mit einer Messerattacke. Diese himmelblaue Lebensversicherung wird unter dem Hemd getragen. Sie ist hieb- und stichfest, allerdings nicht kugelsicher. Stell dir vor, das Schwein wäre mit solch einer Weste bekleidet. Wo würdest du hineinstechen, um es mit einem Hieb zu töten?“
   „Dazu müsste ich die Weste mal am Mann sehen. Tarek, könntest du mal – ?“
   Abdelkarim zieht sich die Jacke aus und legt die Weste an.
   Adamyan beäugt sie von allen Seiten. Auf seinem Gesicht liegt nicht der geringste Hauch von Begeisterung. „Absolut dicht“, murmelt er, „nicht die kleinste Naht oder Fuge. Und da kommt man wirklich nicht durch?“
   „Versuch´s doch mal! Ramm ihm das Messer in den Bauch!“
   „Lieber nicht!“
   „Na los, mach schon! Das gehört mit zur Übung! Du musst die Tötungshemmung überwinden, sonst liegst du auf der Straße und nicht Nasir! Der hat null Hemmungen, jemanden vor allen Leuten abzustechen. Sieh nur die Weste, nicht den Mann! Warte!“, ruft sie, als Adamyan zustechen will, „bevor du zustichst, atmest du tief ein und atmest erst nach dem Stich, während du wegläufst, wieder aus.“
   Adamyan sticht zu.
   „Fester!“
   Adamyan sticht fester zu und bleibt neugierig stehen. Auch der Attackierte steht wie ein Baum; lediglich auf der Weste zeigte sich zwei mittelgroße Dellen.
   Erika ringt in gespielter Verzweiflung die Hände. „Herrgottnochmal!“, frotzelt sie, „jetzt gib ihm zum Abschied noch den Bruderkuss! Steh da nicht wie ein Ölgötze! Weglaufen, Mann, weglaufen! Du bist bereits mausetot!“ Sie schüttelt den Kopf. „Das macht ein zwölfjähriger Kampfsportschüler um Längen besser. Gib mal  her!“
   Sie nimmt das Messer und tritt vor Abdelkarim hin. „Wahel . . . äh . . . Saad, pass jetzt gut auf! Ich zeig dir mal, wie du es machen musst!“
    Abdelkarim hat inzwischen das Standbein gewechselt, tief eingeatmet und seine Bauchmuskeln angespannt. Plötzlich wird er gegen die Wand katapultiert, und Erika ist verschwunden. Es ging alles so blitzschnell, dass Adamyan mit offenem Mund dasteht und staunt.
   „Der Stich war nicht von schlechten Eltern“, lobt Abdelkarim und reibt sich den Bauch.
   Erika kommt mit dem Messer in der Hand hinter dem Schwein hervor. „Schnelligkeit und Kraft“, sagt sie sieghaft grinsend, „sind die andere Art von Lebensversicherung! Du siehst, die Weste hält allerhand aus. Also, wie hätte ich den Stich führen müssen, wenn ich wirklich vorgehabt hätte, Tarek über die Klinge springen zu lassen?“
   Abdelkarim, verblüfft: „Du hättest mich über die Klinge springen lassen? Warum das denn?“
   „Das ist doch nur eine ihrer Redensarten“, belehrt Adamyan, „bedeutet jemanden um die Ecke bringen, hops gehen lassen –“
   „Kalt machen, das Licht ausblasen“, ergänzt Erika.
   „Abmurksen, den Hals umdrehen, erdolchen – “
   „Erdrosseln, massakrieren, meucheln –“
   „Erschlagen, erschießen, erwürgen, erhängen, erspeeren– “
   „Erstechen, abstechen, bestechen, zustechen, durchstechen –“
   „Pfählen, metzeln, schnätzeln, krätzeln –“
   „Herrgottnochmal! Seid ihr übergeschnappt?“, schreit Abdelkarim, „hätte ich geahnt, dass ein totes Schwein solche –“
    „Es ist nicht das Schwein, Tarek“, meint Adamyan, „es ist der Einfallsreichtum der deutschen Sprache, der uns so beflügelt. Die Eskimos haben hundert verschieden Wörter für Schnee, die Deutschen anscheinend ähnlich viele für töten.“
   Tarek reibt sich die Stirn. „Können wir nun weitermachen?“

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Beitrag21.12.2022 20:50

von wunderkerze
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„Also, Saad“, führt Erika die unterbrochene Anleitung zum Abstechen weiter, „wie hätte ich den Stich führen müssen, wenn ich wirklich vorgehabt hätte, Tarek zu töten?“
   Adamyan denkt eine Weile nach. Anscheinend ist ihm die ganze „Übung“ höchst unangenehm. Schließlich sagt er: „Von oben in den Halsausschnitt.“
   „Da kommst du mit einem Messer nicht durch. Du zerfetzt ihm höchstens die Halsschlagader, das ist kein sauberer Stich. Wenn du überhaupt so weit kommst, Mann. Sowie du die Faust mit dem Messer hebst, hat er oder einer seiner Gorillas dich schon umgelegt. Denn er rechnet anscheinend mit Angriffen, sonst würde er bei diesem Wetter nicht mit solch einem blauen Schweißtreiber herumlaufen. Und denk daran: Der Fuchs tappt nicht zweimal in die gleiche Falle!“
   „Du schneidest ihm die Kehle durch.“
   „Auch das ist kein Stich. Und du wärst vorher schon tot.“
   „Ja Herrgott nochmal, warum muss es denn unbedingt eine Stich sein?“
   „Weil er ein Schwein ist und keine andere Todesart verdient hat“, ruft Tarek aufgebracht. „Eine Kugel für ihn wäre viel zu schade! „Außerdem hat es der Rat –“
   „Schon gut! Also, wie muss ich stechen?“
   „Saad, frag nicht, denk nach!“, ermahnt Erika.  
   „Ich fürchte, dann muss ich passen.“
   „Gut, ich sag´s dir: Von schräg unten durch die Bauchhöhle ins Herz.“
   Erika tritt auf Abdelkarim zu, geht in die Hocke und macht eine entsprechende Armbewegung. „Die Spitze muss zwischen Hosenbund und Sicherheitsweste eindringen. Siehst du? So. Und dann benutzt du auch nicht dieses Spielzeugmesser, sondern den Dolch dort. Dieses Kampfmesser hier ist in jedem Fall viel zu kurz. Außerdem könnte es dir aus der Hand gleiten.“
   Sie nimmt den langen blanken Dolch vom Tisch. Bevor sie ihn an Adamyan weiterreicht, blickt sie die Waffe ein paar Sekunden geradezu ehrfurchtsvoll an.
    „Das hier ist ein Stilett in alter italienischer Bauart, auch Gnadenbringer genannt“, erklärt sie. „Der Dorn ist lang genug, um bei dieser Stichführung das Herz eines Mannes von Nasirs Größe zu treffen, vorausgesetzt, der Stich ist perfekt ausgeführt. Und das üben wir jetzt mal.“
   Mit einem Marker zieht sie einen nach unten offenen Bogen über den Bauch des Kadavers. „Hier etwa sind die Rippen zuende. Zunächst geht es nicht darum, dass du das Herz triffst, sondern darum, dass du den Widerstand erkennst, den ein Körper einem so tiefen Stich entgegensetzt und dir die Klinge nicht wieder steckenbleibt und auch noch abbricht. Das Fleisch des Menschen ist zwar zart und weich, doch er besitzt harte Knochen. Also, stoß zu, aber lass die Waffe stecken! Und vergiss das Einatmen nicht.“
   Adamyan atmet ein, sticht zu, und – erntet schallendes Hohngelächter.
   „Mensch Tarek!“, keucht Erika, „was für ein unfähiges Weichei hast du denn da mitgebracht! Der Typ hat ja überhaupt keinen Mumm in den Knochen!“
   „Er will unbedingt den Rächer spielen, ich hab ihn zu nichts gedrängt.“
   Der Verlachte sieht unglücklich aus. „Was ist denn nun schon wieder falsch?“, haucht er.
   Erika legt ihm begütigend die Hand auf den Arm. „Saad, du alter Schwerenöter, nichts für ungut, aber schau mal, wie viel Platz noch zwischen Körperoberfläche und Parierstange ist! Mindestens sieben Zentimeter! Das sind sieben Zentimeter zu viel, oder, vom Ziel aus gesehen, sieben Zentimeter zu wenig! Das Stilett muss bis zum Heft hinein, sonst triffst du das Herz nicht! Ja ich weiß, die Schweineschwarte . . . Aber vielleicht hat Nasir ja weiß Gott was an Unterzeug an, und dann hast du das gleiche Problem.“
   „Saad“, sagt Abdelkarim, „bist du sicher, dass du es noch willst?“
   „Bei Gott, ich hatte es mir einfacher vorgestellt“, stöhnt Adamyan.
   „Das ist keine Antwort auf meine Frage! Also: Ja oder nein?“      
   „Verdammt nochmal, JA!“
   „Also gut! Erika, mach bitte weiter!“
    „Das Problem jetzt ist folgendes. Du kannst nicht einfach auf Nasir mit gezücktem Stilett zugehen und zum Stich ausholen. Wie gesagt, der Mann ist nicht blöd und hat Augen im Kopf, und was er nicht sieht sehen eine Leibwächter. Hinzu kommt noch, dass du den Stich von unten nach oben ausführen musst, was eine besondere Kraftentfaltung erfordert. Am besten, du gehst vor ihm in die Hocke, ziehst unbemerkt das Stilett, schnellst in den Beinen hoch, stößt mit aller Kraft zu, lässt das Teil stecken und rennst davon. Das alles muss so schnell gehen, dass er und sein Bodyguards erst merken was passiert ist, wenn du schon im Gewühl der Straße untergetaucht bist. Ich mache es mal vor.“
   „Gewühl der Straße? Heißt das, ich soll ihn –“
   „Ja.“ Tarek. „Du sollst ihn vor den Augen möglichst vieler Leute in die Hölle befördern. Damit seine Leute sehen: Was ihr könnt, können wir auch!“
   „Und welche Straße schwebt dir da vor?“
   „Die Warschauer Straße Höhe S-Bahn-Station. Dort, wo das Gewühl zur Rush Hour am größten ist und du am schnellsten untertauchen kannst.“
   „Pass auf!“ Erika klemmt sich das Stilett mit der Spitze nach oben unter ihren Rolli und nähert sich ohne Hast dem Kadaver. Plötzlich geht sie in die Knie, kommt blitzschnell hoch und rennt zur Tür.
   Das Stilett steckt bis zum Heft im Schweinebauch.
   „Großartig!“ Abdelkarim klatscht begeistert in die Hände. „Absolute Klasse! Bei Allah, woher nimmst du die Energie für solch einen Meisterstich?“
   „Du meinst, woher nimmt eine Frau wie ich die Kraft?“ Erika tippte sich an die Stirn. „Von hier oben! Es ist nicht nur mein durchtrainierter Körper. Es ist der unbedingte Wille, das zuende zu führen, was ich mir vorgenommen habe.“
   „Du meinst den Willen zu töten“, bemerkt Adamyan tonlos.
   „Nein. Um das Töten geht es mir nicht. Mir geht’s darum, die Welt von ein paar überflüssigen Arschlöchern zu befreien.“
   Erika sieht ihn mit ihren dunklen Rehaugen an. „Wenn es sein muss, nehme ich mir auch diesen Nasir ad-Din vor. Wenn du nicht willst – wie gesagt, dann mach ich es. Der Kerl wäre nicht mein erstes und nicht mein letztes Opfer.“
   „Wie du redest! Klingt so brutal . . . Gewissensbisse hast du keine? Immerhin ist es Mord!“
   „Gewissensbisse? Buchstabier das mal!“
    „Wahel . . . äh . . . Saad kann ja noch etwas üben“, unterbricht Abdelkarim, „das Schwein lassen wir erst noch hängen.“
    „Ich frage mich immer noch, warum ich den Kerl erstechen soll“, sagt Adamyan missmutig. „Wenn es schon sterben soll . . . Warum erschieße ich ihn nicht einfach? Ein sauberer Kopfschuss – Peng, Schluss, aus!“
   „Nein, er wird erstochen. Außerdem wäre es für dich zu gefährlich. So wie du deine Kanone ziehst, wärst du tot.“
   „Da ist noch eine andere Fußangel, die du möglicherweise nicht siehst“, sagt Erika. „Du musst vor Nasir in die Hocke gehen. Wie willst du das anstellen, ohne dass er Verdacht schöpft? Er muss zumindest einen kurzen Moment stehen bleiben.“
   Adamyan denkt nach. „Hmm . . . Ich spiele den Schuhputzer! Beuge mich über seine Schuhe und – “
   „Vergiss es! Schuhputzer gibt´s in Berlin nicht!“
   „Dann spiele ich den Bettler! Er beugt sich über den Hut, ich springe hoch – “
   „Schluss jetzt! Saad, lass dir etwas einfallen! Wenn du in unserer Brüderschaft aufgenommen werden willst, musst du kreativ sein!“
   „Gut, ich lass mir etwas einfallen. Wann soll es geschehen, und wo treffe ich ihn?“
   „Das sagen wir dir noch“, sagt Erika. „Du bekommst rechtzeitig Bescheid.“

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Beitrag02.01.2023 21:07

von wunderkerze
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   Der Plastik-Weihnachtsbaum sah fast echt aus. Vielleicht war das Grün seiner „Blätter“ etwas zu blass und der Kunstschnee zu seinen Füßen etwas zu grau – auf jeden Fall wirkte das Gebilde mit den bunten Kugeln und den elektrischen Kerzen in dieser Umgebung auf Neuankömmlinge ziemlich überraschend.
   Auch das Drumherum wollte nicht recht zu den nackten Betonwänden und kantigen Tragsäulen passen. Diese ungastliche Halle sollte ursprünglich ein U-Bahnhof werden, war es aber wegen eines Krieges oder einer Wirtschaftskrise nicht geworden und deshalb mehr als ein halbes Jahrhundert in einen Dornröschenschlaf verfallen. Jetzt hatte sie der Prinz wachgeküsst, und die Namen des Prinzen war: Krieg und Vertreibung.
   Allerdings, inzwischen war einiges an Betriebsamkeit hinzugekommen: Da war der Stand mit den arabischen Süßigkeiten; die qualmende Bude mit den orientalischen Fleischgerichten; der Gemüsehändler; der Fischhändler und und und . . . Kurz: Aus dem toten U-Bahnhof war ein lebendiger Marktplatz geworden. Und nun war wieder einmal Weihnachtszeit. Die christlichen Höhlenbewohner hatten auf einem Weihnachtsbaum bestanden – schließlich schrieb man den vierten Advent – und die muslimischen Budenbesitzer fanden keinen Grund dagegen.
   Der Junge hinter der Theke legte eine neue CD ein. Ein Kinderchor sang mit glockenreinen Stimmen, die sich wie frisch geölt anhörten, begleitet von Geigen, die sich wie frisch lackiert anhörten:

Stille Nacht, heilige Nacht,
alles schläft, einsam wacht . . .

   Als nächster raspelte ein offenbar schon reichlich betagter Sänger mit rauchiger Stimme „Morgen, Kinder, wird’s was geben . . .“  
   Adamyan steckte sich eine Zigarette an.
   Der Junge hinter der Theke wienerte gelangweilt und mit quietschendem Geräusch an einem Glas herum.    
   Um ihre Weihnachtslieder sollte man die Deutschen beneiden, dachte Adamyan, wie auch um ihren Stahlbeton, ihre Unbestechlichkeit, ihre verlassenen U-Bahnhöfe. Und um ihre Bunker.
   Er wurde langsam unruhig. Nervös betrachtete er die bunte Wasserpfeife auf dem Tisch. Sie hat um neun Uhr gesagt, jetzt ist es Viertel nach neun – oder wie die Berliner sagten: Viertel zehn. – Das war auch etwas, woran er sich nur langsam gewöhnt hatte: Diese seltsame Zeitrechnung. In dieser Stadt gingen die Uhren anscheinend anders als im Rest der Welt. Hatte sie etwa neun gesagt aber zehn gemeint?
    Er dachte an die erste Verabredung, bei der sie ihn versetzt hatte. Erst nach einer halben Stunde war er mit Wut im Bauch aufgestanden und gegangen. Wenn sie es heute wieder so macht? Er blickte zur Uhr. Ich gebe ihr noch genau fünf Minuten, dann gehe ich. Doch er wusste: Auch nach zehn Minuten würde er hier noch sitzen und warten. Aus dieser pubertären Stufe der Koketterie müsste sie längst heraus sein. Gut, was weiß ich schon von ihr? Nichts, so gut wie nichts. Vielleicht liebt sie ja solche Spielchen. Wie hatte doch ein Hobby-Komiker mal gesagt: Kennst du eine, kennst du alle. Adamyan schüttelte den Kopf. Absoluter Unsinn. Auch wenn du hundert kennst, kennst du immer noch keine richtig. . .
   Der Junge hinter der Theke rief: „Haye, al´ab, willst du nichts trinken?“
   Statt zu antworten, grübelte er weiter.
   Wann habe ich sie zum letzten Mal gesehen? Letzten Donnerstag. Er zählte an den Fingern ab. Montag – Dienstag – Mittwoch – Vor sechs Tagen! Vor sechs Tagen erst? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
   Wo sie bloß bleibt! Hoffentlich ist ihr nichts dazwischen gekommen. Er grinste. Seit er deutsch redete, dachte und träumte, fielen ihm immer mehr Zweideutigkeiten dieser geheimnisvollen Sprache auf.
   Plötzlich sah er sie. Mit einem Mann. Der Mann drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, ging weg, und sie kam auf ihn zu.
    Adamyan machte die Zigarette aus und versenkte sie im Aschenbecher.
   „Hey, lernst du jetzt noch zählen?“, flötete sie in gewohnter Munterkeit und setzte sich. Ihre hallende Heiterkeit klang einigermaßen befremdlich in der trüben Umgebung.
   „Ich dachte, du kommst nicht mehr“, moserte er unfreundlich.
  „`tschuldige, Zuspätkommen ist überhaupt nicht meine Art“, erwiderte sie leicht hechelnd. Offenbar war sie ziemlich aus der Puste. „Entweder ich komme sofort, oder ich komme gar nicht. Der Grund ist folgender: Ich wurde aufgehalten. Scheiß Ausrede, ich weiß. War aber tatsächlich so. Bestellst du uns etwas? Der Kerl da versteht kein Deutsch. Für mich einen Cappuccino mit Sahnehäubchen.“
   Adamyan gab dem Jungen einen Wink.
   „ Bist du öfter hier?“
   „Ja.“
   „Mit Tarek?“
   „Ja. Stört dich das?“
   „Nein, wieso sollte es?“
   Doch, es störte ihn.
   Der Junge kam und nahm die Bestellungen auf.
   „Wer war dieser Mann da eben?“
   Sie sah ihn grinsend an. „Einer meiner vielen Liebhaber.“
   Er kniff die Lippen zusammen. „Aus dem Berghain?“
   „Sag mal, ich wusste gar nicht, dass du so gut Deutsch verstehst.“
   „Wie meinst du das?“
   „Na, gestern, als wir Abdelkarim die Wörter für töten um die Ohren schlugen! Da dachte ich, puh, woher hat er das nun wieder? Metzeln und schnätzeln kannte ich ja schon. Aber krätzeln?“
   „Ach so! Na ja . . . damals, vor zwei Jahren, als ich hier noch neu war, wollte ich möglichst schnell Deutsch sprechen und lernte den Duden auswendig – zumindest einen Teil. Bis ich dann –“
   „Bis du dann?“
    „Bis ich dann feststellte, dass die deutsche Grammatik mehr Geheimnisse enthält als der Koran.“
   Schweigen. Dann Adamyan: „Dieser Adelkarim . . . Wer ist dieser Mann?“
   „Das weißt du doch! Anführer einer Untergrund-Organisation, irgendeiner Bruderschaft, die irgendwelche Rachepläne ausbrütet – und durchführt. Mehr weiß ich auch nicht. Interessiert mich auch einen feuchten Kehricht. Mein Opa sagte immer: Wissen ist Macht. Ich sag: Heutzutage ist zu viel Wissen lebensgefährlich. Am besten du fragst den Tarek selber.“
   „Was treibt eine junge Frau dazu, ihre Tage in unterirdischen und zugigen Katakomben zu verbringen?“
   „Hast du schon mal gefragt. Das Gleiche, was hier unten alle suchen. Die Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen. Hmm . . . Sag mal . . . Bist du verheiratet?“  
   „Wie kommst du denn darauf?“
   „Nur so.“
   „Nein. Und du?“
   „Nee, nicht mehr.“ Sie lachte. „Taugte nichts, der Arsch. Lag ständig besoffen im Bett, und ich sollte anschaffen. Eines Tages gab ich ihm nen Tritt in die Eier, und er fiel rückwärts die Treppe hinunter. Seitdem hab ich nix mehr von ihm gehört.“
   Der Junge stellte die Getränke auf den Tisch. „Min fadlik alnarjila?“
   „Was sagt er?“
   „Er fragt, ob wir Wasserpfeife rauchen wollen. Möchtest du?“
   „Vielleicht später.“
   Ein Mann schlenderte vorbei, winkte ihnen zu und war kurz darauf im Gewühl verschwunden.
   „Wer war dieser Mann da eben? Auch ein Ex?“
   „Sonst noch was?“
   Adamyan grinste. „Für´s erste nicht.“
   „Das war der lange Lulatsch Maxe.“
   „Stopp!“ Adamyan blickte entgeistert in die Richtung, in die der Mann verschwunden war. „Willst du damit sagen, dass dieser Gnom der Lange Lulatsch ist?“
   „Gewiss doch!“
   „Aber . . . Aber . . . der da ist doch viel kleiner!“    
   „Aber kein Gnom! Mein Gott, Saad, nun sei doch nicht so begriffsstutzig! Im Berghain ist es völlig egal, wie du dich bewegst.“ Erika trank einen Schluck. „Letzte Woche war jemand da, der lief den ganzen Abend auf den Händen herum. Sogar getanzt hat der, allerdings alleine. Gut, perfekt war der Auftritt noch nicht, aber was nicht ist, kann ja immer noch werden. Und der Orje ging eben auf Stelzen. Auf Handwerkerstelzen aus Aluminium. Werden am Unterschenkel festgeschnallt. Du kannst sie unter der Hose oder unterm Rock tragen, je nachdem, wonach dir gerade ist.“
   „Eben hieß er noch Maxe.“
    Sie zögerte keine Millisekunde. „Mit Stelzen Orje, ohne Stelzen Maxe.“
   „Aha.“
   „Ja. Hat er von seinem Opa gelernt, sagt er, der war Schäfer – ach, ist doch egal. Gehört alles zu der Komödie, die wir aus Sicherheitsgründen Neulingen gegenüber abziehen. Tayip hat ja ausführlich erläutert warum. Ich spiele die durchgeknallte Kuh, die nicht richtig in der Birne ist, und Maxe den braunen Riesen, der wie ein aufgeklapptes Taschenmesser mit Krückstock durch die Gegend stolpert.“
   „Verstehe! Ich hab mich auch schon gefragt, wie solch ein so langer Kerl wie der Lulatsch in engen Kanälen klar kommt. Und was treibt den Maxe in den Untergrund?“
   „Der Maxe ist ein astreiner Albino, bei Tag blind wie ein Maulwurf! Aber in der Dunkelheit, kann ich dir sagen, da findet er die Nadel im Heuhaufen, auch wenn gar keine Nadel drin ist. Wir beide sind ein eingeschworenes Team und für den Untergrund wie geschaffen –“
   „Na gut. Nur eines verstehe ich nicht. Bei mir, seinem Landsmann und Freund, zieht Tarek das reinste Affentheater wegen der Vertrauenswürdigkeit ab, und euch . . . ähem . . . ich sag jetzt mal: Fremde lässt er so einfach nach unten. Will irgendwie nicht in meinen Kopf!“
   „Wen meinst du speziell?“
   „Na dich und den Maxe.“
   „Na so einfach nun auch wieder nicht. Wir mussten Stillschweigen geloben. Sonst: Landwehrkanal!“
   „Das bedeutet?“
   „Aus dem Landwehrkanal werden immer wieder Wasserleichen gefischt. Mit hässlichen Stichwunden.“
   „Echt? So kenne ich ihn gar nicht – – he, was ist denn nun schon wieder los?“
   Das Licht ging mehrmals  aus, an, aus, an – dann wurde es dunkel. Lediglich die Kerzen am Weihnachtsbaum und auf den Tischen leuchteten matt. Unterhaltungen und lautes Gefeilsche verstummten; plötzlich war es mucksmäuschenstill, der Junge hörte auf, an einem Glas herumzuquietschen, Kaufleute und Kunden standen in der letzten Bewegung erstarrt.
   Erika legte den Finger vor den Mund. „Psst! Nur leise flüstern!“, tuschelte sie, „der Sicherheitsdienst hat ein Bedrohung erkannt!“
   „Dann rauchen wir jetzt gemeinsam ein Pfeifchen“, flüsterte Adamyan. Auf einen Wink hin brachte der Junge Tabak und Wasser, zündete die Kohlen an, und bald brodelte es leise.
   Als das Licht wieder anging, fragte Adamyan zwischen zwei Zügen: „Heißt das, die Stadtverwaltung weiß nichts von dem Treiben hier unten?“
  „Ich denke doch. Die können doch zählen. Aber sie unternehmen nichts. Bisher jedenfalls.“
   „Hmm . . . Halte ich für ziemlich erstaunlich. Fünftausend Menschen . . .“
   „Wer spricht denn von fünf Mille?“
   „Na Tarek!“
   „Quatsch! Da übertreibt er leicht. Ich schätze, es sind höchstens zweihundert hier!“
   „Immerhin!“
   „Weißt du, wie viele Verstecke es hier unten gibt? Diese Stadt ist fast neunhundert Quadratkilometer groß und unterhöhlt wie ein Schweizer Käse. Die Leute wohnen doch nicht alle auf einem Haufen, Mann, sondern über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Darauf beruht ja auch unser Frühwarnsystem. Überall sind Posten aufgestellt, die Eindringlinge sofort melden.“  
   „Und was war das eben?“
   „Falscher Alarm. Wahrscheinlich nur harmlose Kanalgänger der Berliner Wasserwirtschaft auf Inspektionsgang.“ Erika betrachtete nachdenklich die Luftblasen, die in der Bowl aufstiegen. „Aber sicher sein können wir seit einiger Zeit trotzdem nicht. Wir haben Hinweise, dass sich mindestens ein Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes in Berlin aufhält. Wer weiß? Vielleicht hat er ja von der Parallelstadt hier unten Wind bekommen und versucht, jemanden zu finden, hinter dem sie her sind. Wenn er nicht allzu dumm ist, kann er sich ausrechnen, dass hier nicht unbedingt die Freunde des Regimes sitzen.“
   Adamyan stieß eine heftige Dampfwolke aus und sah ihr andächtig nach. „Was könnte denn so einer schon groß ausrichten, als Einzelner?“
   „Nun ja, er könnte sich hier einschleichen und denjenigen ermorden, den er auf dem Kieker hat. Und wer weiß, vielleicht bringt er ja noch mehr von seiner Sorte mit. Tarek sagt, diese Leute schrecken vor nichts zurück und nehmen sogar ihren eigenen Tod in Kauf, nur um Befehle auszuführen. Tarek meint, sie dröhnen sich die Birne mit Fenetyllin voll –“
   „Fenetyllin?“
   „Irgend so ein Metampf – enyl – tamin . . . scheiß doch drauf, jedenfalls irgend so eine Teufelsdroge, die sie in Kampfmaschinen verwandelt. Soll im Fußball früher gang und gäbe gewesen sein. Und, der Tarek weiß, wovon er redet.“  
   Tarek! Und immer wieder Tarek!
   „Was meinst du wohl, warum wir dich so genau überprüft haben?“
   „Sehe ich wie ein Verräter aus?“
  „Niemand sieht wie ein Verräter aus.“
   „Da hast du auch wieder Recht. Mal was anderes. Welche Rolle spielst du hier eigentlich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tarek dich wegen deiner schönen Augen an sich herangelassen hat.“
   Erikas Versuch, vor der Antwort noch einen kräftigen Zug aus der Pfeife zu nehmen, endete in einem Hustenanfall. „Scheiße!“, zischte sie, „hab mir wohl doch ne Erkältung aufgesackt!“ Sie legte den Rauchschlauch beiseite, griff in ihre Jacke und holte eine weiße Schachtel hervor. „Möchtest du auch einen?“
   „Was ist das?“
   „Lutschbonbons gegen Halsschmerzen.“
   „Nein, ich möchte eine Antwort!“
   Sie  sah ihn amüsiert an. „Hey, Sportsfreund!“, rief sie, „nun mal nicht ganz so zackig! Wenn ich erst mucksch bin, sag ich gar nichts mehr!“ Sie lutschte hörbar.
   „Entschuldige!“    
   „Na gut, gebongt, weil du es bist. Ich bin hier die Seele vom Klavier. Wie? Ach, ist so´n dummer Spruch.“  Sie schob den Lutschbonbon von einer Seite in die andere und beugte sich vor. „Wahel, sieh mir in die Augen! Du stellst zu viele Fragen, und da könnte ich leicht auf dumme Gedanken kommen! Womöglich willst du noch meinen Klarnamen wissen! Mach mich nicht misstrauisch, denn das könnte leicht ins Auge gehen!“
   Sie gab seine Augen wieder frei und lehnte sich zurück. „Mann!“, rief sie, „wie kann man nur so schwer von Begriff sein! Mein Angebot, den Nasir abzustechen, war kein Scherz! Nicht, dass es mir Spaß macht, jemanden umzulegen, aber, wie ich schon sagte, wenn es sein muss, tu ich´s ohne mit der Wimper zu zucken. Auch bei dir, mein Lieber, hätte ich da keinerlei Hemmungen! Kapiert? Weißt du jetzt, wofür er mich braucht? Also halt´s Maul und sei schön brav! Puh – das Gequatsche hat mich hungrig gemacht! Holst du mir einen von den Kuchen dort?“
  
  F. f                                                                                 5

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Beitrag12.01.2023 21:30

von wunderkerze
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Das RAW-Gelände zwischen Revaler Straße und den Schienensträngen von S- und Bundesbahn gleicht um diese Zeit, Sonnabend gegen 20 Uhr, einem brodelnden Hexenkessel. Menschen aus aller Herren Länder, vor allem junge Leute, schieben sich durch das im Grunde abbruchreife Gelände, um dessen Erhalt sich selbsternannte Autonome und die Polizei noch vor wenigen Jahren erbitterte Schlachten lieferten. Mit dem Berghain und dem Wrangelkiez bildet es das Dreigestirn der Szene in diesem Teil der Stadt, in dem auch schon vor Einbruch der Dunkelheit der Bär tanzt. Besonders begünstigend für feucht-fröhliches Flanieren ist heute das Wetter: Unter einem strahlenden Abendhimmel ist es für diese Jahreszeit unnatürlich warm.
   Der Nachtclub „My Dirty Hobby“ liegt in einem heruntergekommenen roten Backsteinbau aus den 1890ger Jahren. Daneben fristet eine halbvertrocknete Kastanie ein kümmerliches Dasein. Das Lokal ist unter anderem berühmt für seine Musik. Der DJ hat seiner Kundschaft  einiges zu bieten: Funk, Rap & House, Beat, Blues, Country, Folk, Soul, Drum & Bass, Hip-Hop, Reggae, Rock, Jazz. Sollte etwas nicht vorrätig sein, kann es binnen kurzem besorgt werden.
   Als Adamyan um dreiviertel acht das Gelände betritt, gehen gerade die bunten Lichter im stark verglasten Kubus auf dem BASF-Gebäudes gegenüber an. Er sucht sich eine stille Ecke und setzt sich auf einen Mauerrest, von wo aus er den Eingang des Club-Gebäudes unauffällig beobachten kann.
   Das Gewühl drumherum: Die Obstverkäufer, die Antiquitätenhändler, die Flohmarkttische, die Blumenverkäufer, die Bratwurststände, der ganze billige Tand, die bunten Lampions . . . fast wie in Aleppo. Doch alles geschieht fast lautlos – nicht so wie zuhause. Kein Esel schreit, keine Ziege meckert, kein Allah akbar ertönt; kein lautes Gefeilsche, kein Schrei ist zu vernehmen, lediglich die Mucke, wenn sich die Tür zum My Dirty Hobby öffnet, gelegentlich ein lautes Lachen – und, gedämpft, das Singen der S-Bahnen und der ferne Lärm der Warschauer Straße.
   Als er noch nicht lange in dieser Stadt war wunderte er sich, warum manche ihre Stadt als laut empfinden, wo doch kaum ein Auto hupt und das Läuten der Straßenbahn eher sanft und angenehm klingt. Auch der Geruch dieser Stadt ist ein anderer. Sauberer. Nicht verschmutzt vom Qualm bombardierter Raffinerien, brennender Stadtviertel und einer Unzahl rußender Ölöfen.
   Adamyan blickt auf den Spiegel im Retro-Look, der ihn schon seit einer Weile magisch anzieht. Ein schmales Stück gläsernes Himmelblau mit üppig verschnörkeltem Goldrahmen. Gegenüber, in einem Laden mit unechtem Trödel. Er erinnert sich nicht, ob der Spiegel auch gestern, als er den Ort vorsorglich besichtige, schon so dastand.  
   Eine junge Frau im bunten Kleid tritt vor den Spiegel, kramt in ihrer Handtasche und zieht sich die Lippen nach. Dabei ist es ihm, als ob sie ihn durch den Spiegel beobachte. Schon ist sie im Gewühl verschwunden, doch Adamyan hat sie erkannt: Erika. Sie trauen mir nicht, denkt er, sie halten mich für einen Versager, der noch in der letzten Sekunde kneift. Oder sollten sie –
   Er blickt sich um, doch er weiß, dass es zwecklos ist. Er würde niemanden erkennen, weder Tareks noch Nasirs Leute. Dabei er ist sich sicher: Beide Parteien haben bereits Spione um das My Dirty Hobby postiert.
    Ein Mann kommt auf ihn zu. „Hassema n Euro?“
   Adamyan blickt auf. Struppige Haare, beulige Knollennase. Ein Stadtstreicher? Ein gedungener Mörder? Auch die Alkoholfahne kann Tarnung sein.
   „Leider nein . . . Hab gerade nichts dabei. Vielleicht ein andermal!“
   Doch der Kerl bleibt stehen. Jetzt beugt er sich vor . . .
   Adamyan kramt ein Eurostück hervor und hält es dem Kerl hin. Der grapscht danach, hält die andere Hand hin. „Hasse noch n Euro?“
   Adamyan blickt in das struppige Säufergesicht mit den wässernden Augen, die ihn seltsam interessiert anstarren. Dann wendet sich angewidert ab.
   In seiner Heimat reicht es schon, jemanden nur eine Sekunde zu lange anzusehen, und schon ist eine handfeste Schlägerei im Gange.
   „Nein!“
   Tarek hat ihm geraten, nicht zu viel zu geben. Sonst hast du bald eine kleine Armee von Handaufhaltern um dich herum. Herrje, hoffentlich wird der Kerl nicht aggressiv und schlägt Krach!
  Doch der Kerl bleibt friedlich und trottet schwankend weiter.
  Über dem My Dirty Hobby geht gerade die Sichel des zunehmenden Mondes auf. Ist es ein gutes Zeichen? Nein, es ist kein gutes Zeichen. Die Sichel weist in die falsche Richtung . . .
   Auf einmal überkommen ihn schwere Gewissensbisse. Nasir ist ein Sadist und Menschenverächter, aber mir hat er doch nichts getan! Kann es also gottgefällig sein, wenn ich ihn töte? Wieder blickt er zur Mondsichel, dem falschen Halal, aber die schweigt sich aus. Andrerseits habe ich mein Wort gegeben, und ein Versprechen ist wie eine Krankheit, die nur durch Erfüllen des Versprechens geheilt werden kann. Soll ich als Kranker an Geist und Seele weiterleben? Gut, mein Wort gab ich nicht freiwillig . . .
   Und dann denkt er wieder an die Worte, die ihm der Gefängnisobere mit auf den Weg gegeben hat . . .  
   Er sieht Erika, wie sie ihn anstarrt. Gegenüber, neben dem Eingang zur Disco My Dirty Hobby, steht Abdelkarim mit lauerndem Blick . . .
   Zu spät . . . Bring ich Nasir nicht um, bringen sie erst mich um und dann meine Eltern . . .

                                                                                   *
   Zur gleichen Zeit, keine zehn Meter Luftlinie entfernt.
  Abdelkarim und Erika liegen, versteckt hinter einem Aufbau, auf dem Dach eines heruntergekommenen Lagerhauses. Ihnen gegenüber das My Dirty Hobby, unter ihnen Adamyan. Beide halten einen Karabiner im Arm, die Mündung auf den Eingang des Nachtlokals gesichtet.
   „Glaubst du, dass er es schafft?“, fragt Erika.
   „Schwer zu sagen.“
   „Mir kommt er eher wie ein Weichei vor, das von Skrupeln nicht in den Schlaf kommt. Kennst du ihn näher?“
    „Nicht wirklich. Im Gefängnis lagen wir für ein paar Stunden im selben Raum. War total überbelegt! Und dann der Gestank! Brrr, wenn ich daran denke wird mir jetzt noch schlecht. Als sie mich hineinstießen, war er der Einzige, der sich um mich kümmerte.“
   Abdelkarim hielt einen Moment bedrückt inne, dann fuhr er fort: „Wir hatten eine Petition zur Freilassung des Kemal al-Libwani unterschrieben, eines damals international gefeierten Künstlers. Das war zur Zeit des so genannten Arabischen Frühlings. Dann war der Frühling plötzlich vorbei, der Gefeierte fiel in Ungnade, und die Unterzeichner wurden gefeuert und oder ins Gefängnis gesteckt. Natürlich war der Grund für unsere Verhaftung völlig aus der Luft gegriffen, wir hatten uns nie politisch betätigt. Sie suchten einen Grund, um uns erpressen zu können. Damals schon stand das Regime mit dem Rücken zur Wand.“
   Abdelkarim schwieg.
   „Und wozu wollten sie euch erpressen?“
   Seine Miene verfinsterte sich weiter. „Darüber möchte ich nicht reden.“
   „Okay, okay! Wo Nasir bloß bleibt? Er müsste doch schon längst hier sein?“
   „Er ist schon hier, ich meine auf dem Platz. Ich wette, seine Leute suchen bereits das Gelände ab. Der Eismann da ist mit Sicherheit einer von ihnen, so auffällig-unauffällig wie der sich umsieht. Und da, der Leierkastenonkel! Ich wette, in seinem Kasten steckt mindestens eine Kalaschnikow.“
   „Wie hast du ihn überhaupt in die Krachbude gelockt? Der Kerl wittert doch überall einen Hinterhalt.“
   „Ich habe mich in seine Situation versetzt. Er weiß, dass ein halbes Dutzend Familien hinter ihm her sind. Gerade hier in Berlin mit seinen ausgeprägten arabischen Clanstrukturen ist Blutrache immer noch ein Thema, auch wenn manche Leute das Gegenteil behaupten. Ich hab ihm reinen Wein eingeschenkt, wie es so schön heißt. Ich habe ihm eine Mail geschickt, er soll sich, wenn ihm sein Leben lieb ist, heute Abend, Punkt acht, im My Dirty Hobby einfinden. Dort hätte ein Informant eine wichtige Botschaft für ihn.“
   „Kennt er dich denn?“
   „Unsinn, anonym natürlich.“
   „Du meinst, er fällt darauf herein.“
   „Abwarten.“
   „Was ist, wenn Adamyan patzt?“
   „Dann schießt du Nasir eine Kugel in den Kopf und ich nehme mir seine Gorillas vor. Um die ist es nicht schade, aber Adamyan brauche ich noch. “  
  „Wie lange wollen wir noch warten?“
   „Da kommt er schon!“
   Jetzt geschieht das Eigenartige. Erikas Kiefer beginnen zu mahlen, ihre Hände umkrampfen das Gewehr, ihr Blick ist starr geradeaus gerichtet. Der Zeigefinger ihrer Schießhand spannt den Abzugshebel bis zum Druckpunkt . . .

                                                                                *
  Adamyan blickt zur Uhr. Zehn nach acht. Wo bleibt der Kerl bloß! Doch Tarek hat ihm versichert: Der kommt! Nur, als was wird Nasir erscheinen? Als Mann, als Frau, oder – er grinst – als parfümierter Affe? Verwundern tät´s hier niemanden, möglicherweise würden ihm einige sogar Beifall klatschen.
   Adamyan geht auf den Eingang zu und setzt sich auf die unterste Stufe. Er zieht die fleischfarbenen Handschuhe über, legt den Hut hin und öffnet das Etui, in dem die Blockflöte, zur Hälfte von einem Tuch verdeckt, auf samtener Unterlage ruht.
   Und wenn er den Hintereingang benutzt? Unwahrscheinlich. Erstens lässt sich die Fluchttür nur von innen öffnen, und zweitens warum sollte er? Er erwartet einen wichtigen Informanten, keinen Attentäter! Und wenn doch? Tarek: Wir versuchen es solange, bis wir ihn erledigt haben!
    Zwei junge Leute, ein Pärchen undefinierbaren Alters und Geschlechts, bleiben vor Adamyan stehen. Der/die eine der beiden betrachtet amüsiert die Blockflöte und ruft: „Hey, bläst du auch schön?“, worauf die/der andere in herziges Gelächter ausbricht und eine Münze in den Hut wirft. Dann steigen sie zum Club hoch.  
   Und wenn Nasir mich erledigt?
   Tarek: Dann haben wir einen Märtyrer mehr, und die Freude im Himmel wird grenzenlos sein!

   Plötzlich weiß Adamyan, dass Nasir ad-Din in der Nähe ist, obwohl er ihn noch nicht gesehen hat. Er wittert ihn. Am Geruch. Es ist der widerliche Geruch eines perversen Folterers, der von keinem Parfüm der Welt weg geduftet werden kann. Wenn er auch den meisten Menschen verborgen bleibt, so riecht ihn doch jeder sofort, der einmal in einem syrischen Foltergefängnis gesessen hat, und sei der Betreffende tausende Kilometer vom Ort des Verbrechens entfernt.
   Nasir erscheint in Sandalen, Jeans, weitem Hemd mit offenem Kragen, und mit verspiegelter Brille. Gut, so ähnlich laufen hier viele herum. Aber niemand hat bei dieser Wärme eine Wollmütze tief über die Stirn gezogen.
  Und dann ist da sein unverkennbarer Gang.
   Erika hat ihn genau beschrieben und vorgemacht. Beim Gehen wirft er die Hüften wie eine schwangere Sau. Entweder ein Geburtsfehler, oder er findet´s geil.
   Nasir ad-Din alias Abdul Azim Mahmoud-Ghazi kommt jetzt genau auf ihn zu, in seiner Parfümwolke zwei bullige Leibwächter.
                                                                             
   „Verdammt!“, zischt Erika, „was soll das denn?  der Penner verrückt?“
   Der „Penner“ – struppige Haare, blau-beulige Knollennase – geht ebenfalls auf ad-Din zu. Nun torkelt er nicht mehr, sein Gang wirkt zielstrebig und sicher.
   Erika blickt Abdelkarim ärgerlich an. „Ist das schon wieder einer von deinen Leuten? Wenn ad-Din Lunte riecht –“
   Abdelkarim schüttelt den Kopf. „Nein“, flüstert er, „ich bin selber überrascht. Nur wir beide und Adamyan sind eingeweiht. Wer sollte –“ Plötzlich schlägt er sich an die Stirn. „Natürlich! Vom Körperbau her würde es passen. Nazrullah!“
    „Wer ist denn das?“
   „Du kennst ihn unter dem Namen Tayip –“
   „Der Tayip mit dem verstriemten Rücken?“
    „Ja. Der ist also auch hinter ad-Din her! Er will die Rache für sich allein haben! Und ich Hornochse bringe ihn noch aus die Spur! Mannomann, wie man sich doch täuschen kann!“
   „Da bin ich jetzt aber gespannt, wer von den beiden ihn als erster umlegt! Der unheilige Tayip oder der fromme Adamyan.“

F. f.

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Beitrag29.01.2023 20:34

von wunderkerze
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Ad-Din tritt auf die unterste Stufe des Treppenaufgangs. Hinter ihm, in zwei Meter Abstand, der Stadtstreicher, beide Hände in seinen Manteltaschen vergraben.  
   Adamyan, über das Etui gebeugt, nimmt die Flöte in die Hand.
   Jetzt geht alles so schnell, dass weder Abdelkarim, noch Erika, noch irgend ein Zeuge eine klare Erinnerung an die Abfolge des Geschehens haben.
   Der Stadtstreicher läuft plötzlich auf ad-Din zu, der Lauf einer Pistole blitzt auf. Ein Schuss kracht, der Stadtstreicher wirft die Hände hoch, aus deren rechter ein Messer fällt, und sinkt zu Boden.
    Nasir ad-Din verliert für den Bruchteil einer Sekunde die Beherrschung und duckt sich. In diesem Moment schnellt der Flötenspieler hoch, rennt los und verschwindet in der Menge. Nasir richtet sich brüllend auf und greift sich an den Bauch, in dem der Schaft eines Dolches steckt. Noch ehe ihn einer der beiden Leibwächter auffangen kann, bricht er zusammen und schlägt mit dem Hinterkopf hart gegen die Treppenbrüstung.

   „Genau das wollte ich verhindern“, murmelt Abdelkarim mit gefurchter Stirn, „dass irgendein Idiot ein Blutbad verursacht und der Polizei durch seine Leiche einen Tipp gibt. Wenn sie zwei und zwei zusammenzählen können wissen sie jetzt, woher der Wind weht. Ich kann nur hoffen, dass Nazrullah keine Papiere bei sich hat.“
   Vom Dach aus sehen sie, wie die Leute die Toten entsetzt anstarren. Aus ad-Dins Unterbauch ragt der Griff des Stiletts wie ein verqueres Stück Darm heraus.
   „Seine Gorillas haben sich verkrümelt“, stellt Erika fest. „Hätte gern dem einen oder dem anderen noch eine Kugel –“
   „Rede keinen Unsinn. Verschwinden wir lieber, bevor es hier von Polizei wimmelt!“

                                                                     *
   Wenig später vor der Shisha-Bar im „Asylantenheim“.
   Erika fragte: „Der verblichene Tayip-Nazrullah . . . War das auch einer von den Brüdern?“
   „Nein“, sagte Abdelkarim. „Er handelte sozusagen auf eigene Rechnung. Als ich ihn kennenlernte, nannte er sich Nazrullah Turkur. Tayip war sein Tarnname.“
   „Dachte ich mir fast. War mir irgendwie unheimlich, der Typ. Hätte den Kerl gerne geheiratet.“
   „Aber er sicherlich nicht dich.“
   „Und warum nicht?“
   „Weil er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Welt von einigen Finsterlingen, wie er sich ausdrückte, zu befreien. Bei diesem Geschäft kann man keinen Anhang gebrauchen. Außerdem war er ein notorischer Einzelgänger.“
   „Was hatte er denn mit diesem ad-Din zu schaffen?“
   „Du hast doch seinen Rücken gesehen.“
    „Verstehe. Und du, woher kanntest du ihn?“
    Der Junge servierte den dampfenden Tee. Abdelkarim hob die Tasse zur Nase, schnupperte, schlürfte genüsslich. Dann sagte er über die Tasse hinweg: „Damals, nach meiner Flucht aus dem Gefängnis, hätte ich mit dem Teufel einen Vertrag geschlossen, nur um aus Syrien herauszukommen. Ich war völlig mittellos, hungrig, durstig, hatte ein lahmes Bein. Eines nachts, beim hellen Schein des Mondes, ich humpelte gerade über einen staubigen Feldweg, stand er plötzlich hinter mir. Okay, dachte ich, das war´s. Ich hielt ihn für einen dieser Schergen, die entflohene Gefangene zurückbringen. Wie du eben richtig bemerktest, er sieht – sah – nicht gerade Vertrauen erweckend aus. Doch er grüßte freundlich und sagte, er sei ein Freund, er habe neben mir im Gefängnis gesessen und mir sein Herz ausgeschüttet.“
    Abdelkarim stellte bedächtig die Teetasse ab. „Da erkannte ich ihn. Er war Rechtsanwalt, sie hatten ihn eingesperrt, weil er einen Regimegegner wohl etwas zu forsch verteidigt hatte. Wir hatten oft miteinander heimlich getuschelt, denn normales Reden war verboten. Es stellte sich heraus, dass er ein Gerechtigkeitsfanatiker mit einem unbeugsamen Willen war. Warum sie ihn nicht totgeschlagen haben, ist mir jetzt noch ein Rätsel. Kurz, er machte mir ein Angebot. Wenn ich mich mit seiner Idee anfreunden könnte, würde er mich nach Berlin bringen und mit allem Nötigen versorgen, in Berlin habe er mächtige Verwandte. Ich überlegte nicht lange und sagte zu. Denn weißt du, jemand, der in die Fänge des Idarat geraten ist, hat dort nicht mehr die geringste Chance.“
   „Die Idee, Mann!“
   „Sofort. Er sagte: 'Wir beide haben schweres Unrecht erlitten und noch schwereres gesehen. Willst du, dass diese Taten für immer ungesühnt bleiben? Für mich ist es ein unerträglicher Gedanke, dass dieser Peiniger, der mir den Rücken und die Fußsohlen zerdrosch, nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst auch noch Jahrzehnte lang von seinen Opfern versorgt wird oder sich als harmloser Asylsuchender in den Westen absetzt und dort unter falschem Namen die Segnungen der Freiheit genießt. Ich will keine Rache, noch nicht einmal irdische Gerechtigkeit, dafür sind die weltlichen Gerichte zuständig. Ich will, dass Männer wie dieser Folterer einiges von dem zurückbekommen, was sie selbst ausgeteilt haben. Nicht mehr, nicht weniger'.“
   Abdelkarim schwieg.
   „Ich wusste gar nicht, dass du im Gefängnis gesessen hast“, sagte Erika.
   „Ich lege es ja auch nicht jedem auf die Nase.“
   „Geht mir genau so. Nun weiter.“
   „Was weiter? Alles weitere kennst du doch. Ich bin in Berlin, ad-Din ist tot, und ein paar andere Finsterlinge werden ihm folgen.“
   „Und der Rächer ist auch tot.“
   „Aber ich lebe noch.“
    Adamyan erschien im Eingang der Halle.
   „Hey!“, rief Erika, die ihn sofort erkennt, und winkte, „wir sind hier!“
   Adamyan setzte sich. Er sah ziemlich mitgenommen aus.
   „Gratuliere!“, sagt Erika, „gute Arbeit! Besser hätt ich´s auch nicht gekonnt.“
   „War es schlimm?“, fragte Abdelkarim.
   „Ja. Mord ist nicht mein Ding.“ Er sah ihn mit rot umrandeten Augen an. „Was ist nun? Bin ich aufgenommen?“
   „Wenn es nach mir ginge, ja“, wich Abdelkarim aus, „fehlt nur noch das Votum des Chefs. Reine Formsache, denke ich. Das Beste wird sein, du fragst ihn selbst.“  
   
                                                                               *
    BERLINER ABENDSPIEGEL, Polizeibericht.  
    . . .
 Die Hintergründe der Morde an den beiden Asylbewerbern, die am Abend des 04.01 auf dem RAW-Gelände an der Rewaler Straße geschahen, sind weiterhin ungeklärt. Von den Tätern fehlt nach wie vor jede Spur. Lediglich das Geschäft, in dem die Blockflöte gekauft wurde, in der das Stilett steckte, konnte ermittelt werden. Zur Erinnerung: Die Tatwaffe war ein als Blockflöte getarntes, fünfundvierzig Zentimeter langes Stilett italienischer Fabrikation.  
   Zwischenzeitlich wurde bekannt, dass der Erstochene am Tatabend um 19 Uhr 55 über Handy einen Anruf erhielt, der ihn aufforderte, sich unverzüglich zum Nachtclub My Dirty Hobby zu begeben. Dort dürfte er gegen 20 Uhr 20 aufgetaucht sein, wo es kurze Zeit später, also gegen 20 Uhr 30, zu dem tödlichen Angriff kam. Ferner ist noch unklar, warum das zweite Opfer erschossen wurde. Das Messer, das neben dem Toten gefunden wurde, enthält keine verwertbaren Fingerabdrücke. Die Mordkommission der Polizeidirektion 5 ermittelt. Hinweise unter . . .
                                                                           6
   Altes Stadthaus, kleiner Sitzungssaal, sechs Wochen später, vormittags halb zehn.
      „Kaffee, Tee, Milch, Sekt?“
   Die Stimme des Innensenators gleicht der des Wolfs, der gerade Rotkäppchen gefressen hat.
    Die Damen winken ab. Nein danke, sie hätten schon.
   Der Innensenator bittet, Platz zu nehmen.
   „Das ist jetzt schon der dritte Stilettmord in den letzten zwei Wochen“, stöhnt er und lässt sich schwer in seinen Sessel fallen: „Hinzu kommen noch die durchschnittlich sieben Messerattacken pro Tag. Wenn das so weitergeht, zerreißt mich die Presse in den Luft! Ich hab jetzt wirklich andere Sorgen: Die Wohnungsnot, eine Dauergroßbaustelle namens Flughafen, Kriminalität, Drogensucht, Obdachlose, mangelnde Integration. Die Aufzählung könnte ich bis zum Ende meiner Dienstzeit fortsetzen."
   Er lacht grausam. „Von dem Shitstorm, der seitdem mein Büro flutet, mal abgesehen.“ Bei sich denkt er: Noch zwei Wochen, und der ganze Schlamassel geht mich nichts mehr an. „Ich war immer der Meinung, dass es ein Fehler war, die Abschiebung straffälliger arabischer Asylbewerber auszusetzen. Jetzt haben wir den Salat! Diese Stadt darf kein Schutzraum für terroristische Gefährder sein, welcher Couleur auch immer. Und allein – –“
    Als der Innensenator endlich fertig ist, lässt sich die Landesbeauftragte für Integrationsangelegenheiten, Frau Dr. Sommer, eine üppige Brünette, mit strahlender Miene vernehmen: „Dem kann ich mich nur anschließen“, sagt sie. „Es gibt offenbar Wege dorthin. Auch ist das Leben in diesem Land nicht überall unzumutbar.“
   „Woher wissen Sie das, meine Liebe?“, fährt sie die Leiterin des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten, Frau Klara Maria Niederste zu Freudenberg, mit spitzknochiger Hexenhaftigkeit an, „wann haben Sie dort zum letzten Mal Urlaub gemacht?“
   Frau Dr. Sommer spitzt ihre Ballonlippen. Fast sieht es so aus, als wolle sie ihre Rivalin küssen. Doch dann sagt sie: „Mein letzter Urlaub? Das kann ich Ihnen genau sagen! Mein letzter wirklicher Urlaub war während der Schwangerschaft!“
   Der Innensenator blickt auf die Stores vor den Fenstern, die sich leicht im Wind bauschen. Sommer und Freudenberg, denkt er, müsste doch eigentlich passen. Tut´s aber nicht.

   Frau Niederste zu Freudenberg nimmt jetzt den Innensenator aufs Korn.
   „Herr Stinkan“, flötet sie, „ich schätze Sie sehr (Arschgeige!, denkt der 'Geschätzte'), trotzdem muss ich Ihnen entschieden widersprechen. Das, was Sie da Gerade verlauten ließen, ist der reinste Populismus, für den Sie eine bestimmte Partei, wenn sie es denn vernähme, innig lieben würde. Wenn wir Menschen – egal, was sie getan haben – nach Syrien abschieben – dann geben wir nicht nur diese Menschen auf, wir geben uns selbst auf. In den Gebieten unter Kontrolle von Machthaber Baschar Al-Assad drohen Entführungen und willkürliche Verhaftungen. 1,5 Millionen Syrer sollen auf einer Liste gesuchter Personen stehen. Sie müssen Folter und Mord fürchten – –“
   Der Innensenator lauscht dieser Rede mit schiefem Kopf fast andächtig und denkt an etwas ganz anderes, nämlich an Hexenverbrennungen – obwohl oder gerade weil ihn Frau Niederste zu Freudenberg wie eine Mutter nachsichtig lächelnd ansieht.
    Jetzt, als die Dame schweigt, sagt er: „Fertig? Gut. Dann will ich Ihnen jetzt mal was sagen, Frau Senatorin, wofür mich diese rechte Partei sogar küssen würde, wenn sie´s denn  vernähme – und ich sage das nicht mit Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Senat, wie Sie mir wahrscheinlich sofort unterstellen werden: Wenn ebendiese Partei zwei und zwei zusammenzählt und zu dem Ergebnis kommt, es sind vier, dann ist das keineswegs populistisch! Was ich sagen will ist dies: Nicht nur die Menschenrechte der Gefährder sind zu beachten, sondern auch die der Menschen in dieser Stadt. Das ist nicht populistisch. Ich halte genauso wie Sie, meine Liebe, Artikel eins des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland für eine große humanistische Errungenschaft. Doch was nützt das, wenn wir den Rechten mit Unentschlossenheit immer mehr Wähler in die Arme treiben. Ich verstehe unseren Außenminister nicht, den ich übrigens sehr schätze (Arschgeige!, denkt Frau Klara Maria Niederste zu Freudenberg). Er lehnt Kontakte zum Assad-Regime ab, zu vergleichbaren Regimen jedoch nicht. Die Menschen in diesem Lande sind ja nicht dumm! Sie sehen, dass die Bundesregierung keine klare Linie hat, und die Folge ist unter anderem ein zunehmender Glaubwürdigkeitsverlust der Politik. Wir hier in Berlin haben doch die Erfahrung! Hätten wir früher und konsequenter Kante gezeigt, müssten wir uns jetzt nicht mit einem halben Dutzend  mehr oder weniger krimineller Clans herumschlagen! Diese libanesischen Mhallami-Kurden kamen Mitte der siebziger Jahre zu uns, erhielten nie Asyl, sind immer noch da und scheren sich teilweise einen Dreck um Recht und Gesetz. Und wie sieht´s denn in den andere Bundesländern aus?“
   Stinkan trinkt einen Schluck Wasser und zündet aus dem Stegreif ein Feuerwerk aus Zahlen und Fakten, zusammengetragen aus dem jüngsten Verfassungsschutzbericht, sodass den Damen Hören und Sehen vergeht. Wenn er sich auch auf nichts und niemanden verlassen kann – auf sein gutes Gedächtnis kann er´s. Als er nach einer gefühlten Endlosigkeit alle statistischen Knallkörper abgeschossen hat, fährt er unverzüglich fort: „Inzwischen haben diese Leute gelernt, wie leicht man hierzulande kriminelle Beute machen kann. Neulich sagte mir jemand, der es wissen muss: In diesen Kreisen wird Deutschland schon lange als Beutegesellschaft gehandelt, in der man sich gnadenlos bedienen kann, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen. Und das sagte nicht irgendwer. Seinen Namen erfahren Sie von mir nicht, denn mittlerweile steht er unter Polizeischutz. Und diese Morde jetzt erwecken wieder mal den Eindruck, dass wir gegen diese Leute machtlos sind.“
   Der Innensenator holt tief Luft und schweigt mit dem angenehmen Gefühl, sich zumindest verbal durchgesetzt zu haben. Furien, denkt er, nichts als Furien . . .
   „Mein lieber Herr Stinkan“, sagt die Leiterin des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten ohne Schärfe, aber auch ohne Wärme, und auch völlig unbeeindruckt, „ich unterstelle Ihnen gar nichts, ich stelle nur fest. Und ich stelle fest, dass Sie anscheinend immer noch der antiquierten Ansicht sind: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch wir leben in einem Land, in dem dieses Prinzip nicht mehr gilt. Sie versuchen, diese Morde zum Zwecke einer restriktiven Asylpolitik zu instrumentalisieren. Ich finde das unredlich. “
   Wieder hat Stinkan den Eindruck, dass ihn gerade jemand Stink-hahn genannt hat, und böse Erinnerungspartikel steigen auf. Während er darüber nachdenkt und deshalb eine sofortige Replik versäumt, stößt die erstaunlich brünette Frau Dr. Sommer mit leidenschaftlich strahlender Miene zu.
   „Aber das ist doch Unsinn, Frau Kollegin!“, ruft sie, „nun lassen Sie doch mal Ihren Multi-Kulti-Karneval beiseite! Mir scheint, dass Sie da einiges durcheinanderbringen. Niemand will hier alttestamentarische Gerechtigkeit. Aber die ideologischen Scheuklappen, die dazu führen, dass Täter zu Opfern stilisiert werden, müssen endlich abgelegt werden. Natürlich sind die wenigsten Asylbewerber, die bei uns Schutz suchen kriminell. Fakt ist aber auch, dass es einige in Deutschland werden, weil sie gelernt haben, dass das Auftreten in Gruppen der individualisierten Gesellschaft gegenüber Vorteile mit sich bringt. Sie können per Handy in Minutenschnelle Dutzende Gleichgesinnte mobilisieren, um Kontrahenten einzuschüchtern. Und wenn die Polizei eintrifft, liegen schon ein oder zwei Tote auf dem Platz, wie jüngst auf dem RAW-Gelände, und niemand will etwas gesehen haben. Deshalb verachten sie den Rechtsstaat –“
   Es klopft, Frau Kanopke, Stinkans Sekretärin, steckt ihren Wuschelkopf herein. „Herr Hauptkommissar Slavonka!“, verkündet sie.
 „Meine Damen“, sagt der Innensenator mit geronnenem Jungenlächeln, „kehren wir zum Thema zurück! Ich habe Sie, meine Damen, an diesen Runden Tisch gebeten, damit Sie relevante Dinge nicht wieder aus der Zeitung erfahren. Herr Hauptkommissar Slavonka ist Leiter der SOKO 'Gnadengeber' und wird uns über den neuesten Stand der Ermittlungen berichten.“
    Frau Niederste zu Freudenberg blickt erstaunt auf. „Gnadengeber? Bin ich hier in eine orientalische Märchenstunde geraten?“
  „So nannte man  im siebzehnten Jahrhundert diese langen dünnen Dolche italienischer Herkunft, die in Berlin neuerdings anscheinend das Mittel der Wahl sind, wenn es darum geht, jemanden abzustechen.“
F.f

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Beitrag08.02.2023 18:40

von wunderkerze
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7
  Eine halbe Stunde, bevor der Innensenator den Herrn Hauptkommissar Slavonka herein bittet, geschah im Keller einer Mietskaserne etwa zwei Kilometer weiter nordöstlich, am Friedrichshain, folgendes:
  Polizeimeister Wunderlich von der Polizeidirektion 5 in der Wedekindstraße, ein korpulenter Hüne, fragte: „Woher kamen die Schreie denn?“
   Der Mann wies auf einen stillgelegten Schornstein. „Von dort“, sagte er und blickte zu dem Hünen auf, „nicht laut, aber deutlich genug, um sie noch als Schreie zu erkennen.“
   „Könnte es ein Tier gewesen sein? Eine Katze, die sich in dem Schornsteinschacht verlaufen hat? Manchmal schreien Katzen ja wie kleine Kinder.“
   „Nein. Ich weiß wie Katzen schreien. Es waren eindeutig menschliche Schreie, von Erwachsenen. Als wäre da unten ein Folterkeller.“
   „Hmm . . .“ Wunderlich kratzte sich das Doppelkinn. „Hat die Schreie außer Ihnen und Ihrer Frau sonst noch jemand gehört?“
   „Ist mir nicht bekannt.“
   Wunderlich linste mit vorgebeugtem Oberkörper in das Säuberungsloch des Kamins. „Herr Weinert, hören Sie die Schreie jetzt noch?“
   „Hören Sie denn welche?“
   Der Polizeimeister, ohne auf Weinerts Provokation zu reagieren: „Wie oft schreit es denn?“
   „Das kann ich nicht genau sagen. Ich bin nur selten hier unten. Gestern Abend um halb neun holte ich noch eine Flasche Wein aus dem Keller. Da hörte ich sie. Und heute Morgen gegen halb zehn hörte sie meine Frau, die ein Glas Kompott holte. Das bewog mich erst, es der Polizei zu melden.“
    Wunderlich richtete sich wieder auf und blickte sich um. Ein ganz gewöhnlicher Berliner Altbaukeller. Niedrige, gewölbte Decke, grob gemauert, ebenso die Wände, blätternder, geweißter Putz, betonierter Boden, Brettertür. Die Regale voll mit Vorräten und ausgedienten Gebrauchsgegenständen, deren Besitzer nicht den Mut aufbringen, sie wegzuwerfen.  
   „Und vorher? Hörten Sie da auch schon Schreie?“
   „Nein. Gestern Abend hörte ich sie zum ersten Mal. Aber wie gesagt – ich bin selten hier unten.“
   Wunderlich trat näher an das kleine Kellerfenster heran. „Geht das Fenster zur Straße hin?“
    „Nein, zum Hof.“
   „Kann es sein, dass die Schreie von dort kamen?“
   Weinert grinste. „Sie meinen vom Altersheim?“
   „Wäre doch möglich! Jemand träumt schlecht, hat Schmerzen, was weiß ich!“
   „Nein, sie kamen eindeutig aus dem Schornstein da.“
    Wunderlich trat auf Weinert zu und blickte ihn an, was keineswegs auf Augenhöhe geschah. Dessen wie aus Wachs modelliertes Gesicht zeigte keinerlei Regung.
   Wie ein Spinner sieht er nicht aus, dachte der Polizeimeister.  Aber was weiß man schon. „Herr Weinert“, sagt er, „sollten sich die Schreie wiederholen, geben Sie Bescheid. Hier, meine Karte.“

8
   Hauptkommissar Fritz Slavonka, ein noch junger, hagerer Mann mit dem klaren Gesicht des überzeugten Nichtrauchers und Veganers, grüßt mit einer knappen Verbeugung. Stinkans haarige Pranke ergreift seine schmale Hand und stellt, während er sie schmerzhaft drückt, die Damen vor. Die signalisieren mit gnädigem Kopfnicken wohlwollende Kenntnisnahme.
   „Setzen Sie sich doch! Kaffee, Tee, Kakao, Milch?“ Der Innensenator lacht selbstgefällig. „Sie sehen, lieber Herr Hauptkommissar, mein Haus hat alles was ein Asket wie Sie zum Leben braucht! Nun ja, fast alles!“ Er lacht dröhnend.
    Slavonka betrachtet die massige Gestalt seines obersten Chefs, dessen lärmende Heiterkeit er nicht zum ersten Mal ertragen muss. „Nein danke“, sagt er, er habe schon reichlich und beschließt, nicht ein Wort zu viel zu sagen.
  „Nun Ihren Bericht bitte!“
   Mit einmal ist aus dem Gehabe des Innensenators jegliche aufgesetzte Heiterkeit verschwunden. Er sitzt mit der gespannten Aufmerksamkeit und betrachtet sein Gegenüber wie ein Indianer einen Totempfahl.
   „Die beiden ersten Tötungen“, beginnt Slavonka mit leicht belegter Stimme, „ich meine die vor dem Nachtclub auf dem RAW-Gelände und im Odyssee 21 in der Rosenthaler Straße, wurden mit einem Stilett italienischer Bauart ausgeführt.“ Er legt ein Foto auf den Tisch.
   Frau Dr. Sommer: „Ist das der Gnadengeber?“
   „Ja.“
   „Wieso heißt so etwas denn Gnadengeber?“
   „Einer der ursprünglichen Namen dieses im Original aus Italien stammenden Messers lautete Misericordia, lateinisch Barmherzigkeit, im deutschen Sprachraum auch Gnadengeber oder Gnadgott genannt. Es diente unter anderem dazu, einen verwundeten Gegner auf dem Schlachtfeld durch einen chirurgisch präzisen Herzstich von seinem Leiden zu erlösen – in einer Zeit, die medizinisch nicht mit besonders viel aufwarten konnte, wenn jemand schwere Verletzungen hatte. Das Stilett kürzte dieses Leiden ab. Ein weiterer Verwendungszweck war das Durchdringen des Kettenhemds, das einen relativ guten Schutz gegen Hieb- und Schnittwaffen bot. Seine sehr stabile und spitze, keinesfalls aber scharfe Klinge war bestens geeignet, Kettenhemden sowie kleine Spalten oder Lücken eines metallenen Harnischs zu durchdringen.“
    Der Hauptkommissar, der sich eben noch vorgenommen hat, kein Wort zu viel zu sagen, wird unter dem ausforschend-selbstbewussten Blick der Senatorin unsicher. Und so strömt seine Rede, sozusagen als verbales Kettenhemd, weiter. „Allerdings, gegen moderne Schutzwesten ist diese Waffe machtlos. Sie hatte aber noch einen weiteren Vorteil, denn sie hinterlässt keine größeren Spuren. Auch bei unseren beiden Opfern war kaum Blut ausgetreten, sodass der Notarzt vor Ort –“
    „Sie meinen“, unterbricht ihn Frau Niederste zu Freudenberg, „so ein Stilett empfiehlt sich dadurch für den unehrenhaften, heimtückischen Mord.“
   „Nicht unbedingt. Auch die Artilleristen trugen ein Stilett bei sich: Es diente möglicherweise als Verteidigungswaffe, ganz sicher jedoch zur Unbrauchbarmachung der Kanonen, falls diese in Feindeshand gelangen sollten. Dann nämlich sollte man es in das Zündloch rammen und die Klinge abbrechen. So war die Kanone nur nach aufwendiger Nachbearbeitung wieder –"
   Der Innensenator räuspert sich. „Das ist ja sehr interessant, Herr Slavonka“, sagt er, „doch ich glaube, wir sind jetzt, was die allgemeine Verwendung dieser Waffe im Mittelalter betrifft, hinreichend informiert. Kommen wir jetzt zur Tatwaffe. Wenn ich richtig sehe, ist sie keineswegs alt, sondern neu. Werden solche Waffen denn immer noch gebaut und verkauft?“
   „Ja und ja. Bei diesem Exemplar zum Beispiel handelt es sich um ein so genanntes Hanwei Stilett der Firma Rattle-Merchant Wacken GmbH in Wacken, Schleswig-Holstein, die Nachbildung eines –“
   „In Wacken?“, unterbricht Frau Niederste zu Freudenberg verblüfft, „in dem Wacken, wo die –“
   „Genau in dem Wacken“, antwortet Slavonka und beschließt, jetzt nur noch das Nötigste zu sagen.
   „Die Klinge ist lang genug, um bei geschickter Stichführung das Herz oder die untere Hohlvene des Opfers auch von schräg unten zu treffen. Die Schmalheit der Klinge erlaubt es, sie in einer Blockflöte oder, wie im zweiten Mord, in einem Spazierstock zu verbergen.“
   „Und beim dritten Mord?“, will Frau Dr. Sommer wissen.
   „In einer Gurke“, antwortet Slavonka ungerührt.
    „Sind denn solche Stilette überhaupt erlaubt?“, fragt Frau Freudenberg.
    „Laut deutschem Waffengesetz sind Erwerb und Besitzt bei über Achtzehnjährigen erlaubt, das Mitführen und der Gebrauch jedoch nicht.“
    Frau Dr. Sommer: „Und was kostet solch ein Teil?“
   „Neunundneunzig Euro neunundneunzig, inklusive Scheide mit Lederwicklung und Silberbeschlägen.“
   „Das heißt, jeder volljährige Lümmel kann sich in den Besitz dieser Mordwaffe setzten.“
   „So sieht es aus, gnädige Frau. Bei meinen Recherchen bin ich jedoch auf einen Umstand gestoßen, den ich zunächst nicht glauben mochte, der mir aber von der Firma in Wacken mehrfach versichert wurde.“
   Slavonka öffnet seine Tasche, zieht einen Apfel und ein Schälmesser heraus. „Stört es Sie, wenn ich –“
   „Weiter!“, drängt der Senator.
    „Diese Dolche werden gerne in philosophischen Zirkeln verwendet.“
   Frau Freudenberg blickt den Hauptkommissar scharf an. „Herr Slavonka, Sie wollen doch jetzt nicht behaupten, der Mörder war ein Philosoph!“
   Slavonka lacht trocken und beginnt zu schälen. „Frau Senatorin, ich wünschte, ich könnte es! Dann wäre der Fall ja so gut wie gelöst! Nein, es verhält sich so: Diese Leute reizt der Gegensatz zwischen der Heimtücke, die dieser Waffe innewohnt und ihrer Erlöserkraft. Darüber können sie stundenlang meditieren. So hat es mir jemand von der philosophischen Fakultät erklärt.“
    Stinkan: „In der Tat, sehr eigenartig, sehr eigenartig . . . Wobei ich denke, dass die Heimtücke nicht in der Waffe liegt. Nun zu den Opfern. Ist Ihnen schon etwas über deren Identität bekannt?“
   „Nicht wirklich. In allen drei Fällen handelt es sich um Asylbewerber aus Syrien, die mit gefälschten Papieren eingereist sind und unter falschen Namen Schutz gesucht haben. Wer sie wirklich sind, wissen wir noch nicht, aber wir arbeiten daran. Unser Gewährsmann ist noch nicht an diese Bruderschaft herangekommen, die vermutlich für die Tötungsdelikte verantwortlich ist. Wir haben aber dies hier.“
    Slavonka zieht zwei weitere Fotos hervor und legt sie auf den Tisch. „Dieser Mann hier, das Blockflötenopfer, nannte sich Abdul Azim Mahmoud-Ghazi, und er ist ausreichend gezeichnet.“
   „Oha!“, sagt Frau Dr. Sommer, „was ist dem denn passiert?“  
   „Vermutlich eine Kriegsverletzung oder die Folgen eines Vergeltungsanschlags. Genaues wissen wir nicht. Wer zu viel fragt wirkt sofort verdächtig. Und dieser hier, das Spazierstockopfer, ist unter dem Namen Joseph Rhadam eingereist, der mit Sicherheit falsch ist. Er trägt ein rotes Feuermal am Hals. Wer er in Wirklichkeit ist, wissen wir nicht. Die Papiere, die wir bei der Leiche fanden, sind gefälscht. Wir wissen lediglich, dass er in der Dreieinigkeitskirche in Berlin-Steglitz einige Zeit als Diakon tätig war.“
   Slavonka räuspert sich kurz. „Nun zum Dritten im Bunde.“  
   „Einen Augenblick! “
   Die Leiterin des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten blickt Frau Dr. Sommer herausfordernd an. „Ich hörte mehrfach“, sagt sie, „dass Flüchtlinge mit gefälschten Papieren längere Zeit in Berliner Freikirchen beschäftigt sind. Ist nicht Ihre Behörde für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verantwortlich, und nicht die Kirchen? Kann es sein, dass ihre Behörde mittlerweile den Überblick verloren hat?“
     Wäre die Leiterin des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten ein Schmetterling, dann hätte sie die Integrationsbeauftragte jetzt mit fröhlichem Blick aufgespießt.
   „Liebe Kollegin“, ruft sie bissig, aber strahlend, „meine Behörde hat weder mittlerweile noch sonst wann den Überblick verloren! Es sind nur zu viele Bewerber! Und was das Kirchenasyl betrifft, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse! Für das Kirchenasyl ist der Gesetzgeber zuständig, nicht ich. Über die Gewährung asylrechtlichen Schutzes entscheidet das BAMF nach Maßgabe des Asylgesetzes gemäß Paragraf fünf. Die Frage, ob sich aus der Verfassung ein Recht auf Gewährung von Kirchenasyl ergibt, ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten. In Berlin –“
   „Meine Damen!“, ruft Stinkan schmunzelnd, denn Zickenkriege mag er, sofern sie nicht ihn betreffen, „meine Damen, kommen wir zum Thema zurück. Herr Hauptkommissar Slavonka, bitte!“
   Slavonka legt weitere Fotos auf den Tisch. Der Innensenator und Frau Dr. Sommer, die sich vorbeugen, um die Fotos zu betrachten, fahren entsetzt zurück.
    „Als wir ihn auf einem Schuttplatz auf dem Bahngelände hinter dem Ostbahnhof fanden, war eine Lok über seine Hände gerollt“, sagt der Hauptkommissar apfelschälend, „und ein Stilett steckte in seinem Rücken. Als wir ihn fanden, war er bereits seit sechs Stunden tot. Auch wer dieser Mann ist, wissen wir nicht, aber wir vermuten den Grund seiner Ermordung.“
   Frau Dr. Sommer, zaghaft in die bebende Stille hinein: „War er, als die Lok seine Hände überrollte, ich meine, hat er da noch –“
   „Sie meinen, ob er da noch gelebt hat? Vermutlich ja, denn das Blut an seinen Händen war stärker oxidiert als das der Stichwunde.“
   „Mein Gott!“, stöhnt Frau Sommer und schlägt die Hände vors Gesicht.
   „Was war Ihrer Meinung nach der Grund für diese . . . diese Barbarei?“, fragt Stinkan tonlos.
   Krach! Ein Stück Apfel verschwindet hinter Slavonkas Glitzergebiss. „Sie können sich im Internet – hrümpff – ausführlich über die Gräueltaten informieren, die gegenwärtig in Syrien passieren. Es gibt Dutzende von anonymen Augenzeugenberichten, unter anderem auch aus dem berüchtigten Foltergefängnis Saidnaja unweit von Aleppo. Dort soll es einen Wachmann gegeben haben, der Gefangenen mit einer Peitsche die Hände zerschlug. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Opfer um jene Person. Seinen Namen und so weiter kennen wir nicht, und syrische Asylanten zu befragen hat keinen Zweck. Wenn sie den Namen Saidnaja hören machen sie sofort zu.“
   Frau Dr. Sommer, kopfschüttelnd: „Und was denken Sie, hat er hier gewollt, dieser . . .äh . . .?“
   Slavonka: „Dieser Namenlose? Auch da – hrümpff – können wir wieder nur spekulieren. Möglicherweise wurde er aus dem Gefängnisdienst entlassen, und nun fürchtet er die Rache gewisser Kreise. Deutschland gilt für solche Leute als ein relativ sicherer Zufluchtsort. Möglicherweise wollte er sich als 'Ameise' bei einem unserer syrisch-arabischen Clans andienen –“
   Stinkan: „Als Ameise?“
    Slavonka: „Syrische und irakische Flüchtlinge, die von kriminellen Clans für das Dealing mit Drogen eingesetzt werden. Nicht umsonst ist diese Stadt eine Hochburg der Clan- und Drogenkriminalität.“
   Krach! Ein weiteres Apfelstück verlässt die sichtbare Welt.
   Frau Freudenberg, spitzzüngig: „Mein lieber Herr Hauptkommissar, nun halten Sie mal die Luft an! Hochburg ist doch wohl etwas zu hoch gegriffen!“
   Slavonka, wütend:  „Wie wollen Sie es dann nennen? Bei 383 Polizeieinsätzen gegen Clankriminalität im letzten Jahr, also im Durchschnitt täglich mindestens ein Einsatz, fast tausend Strafanzeigen und mehr als 5900 Anzeigen zu Ordnungswidrigkeiten, die auf das Konto dieser sauberen Herren gehen?"
  Stinkan sieht die Senatorin für Flüchtlingsangelegenheiten siegessicher an. Doch die weicht seinem Blick aus. Schnell sagt er: „Her Slavonka, noch eine Frage. Sie erwähnten eben eine Brüderschaft, die für die Morde verantwortlich sein Könnte. „Wissen Sie schon Genaueres?“
   Slavonka schüttelt den Kopf. „Nein.“
   Stinkan, hartnäckig: „Möglicherweise handelt es sich um einen Ableger dieser in Syrien verbotenen Muslimbrüderschaft, die von hier aus ihren Kampf gegen das Regime in Damaskus fortsetzt.“
   Slavonka, erstaunt: „Wer sagt denn das?“
    Stinkan: „Als Innensenator hat man so seine geheimen Quellen.“
   Slavonka: „Das ist reine Spekulation, und Spekulationen liegen mir nicht.“
   Frau Unterste zu Freudenberg: „Herr Hauptkommissar, gibt es wirklich keine Hinweise, dass diese Leute hinter den Morden stecken könnten?“
   „Wen meinen Sie?“
   „Den deutschen Ableger dieser Muslimbrüderschaft.“
  Slavonka, abschließend: „Morde, die auf das Konto dieser Leute gehen könnten, sind mir nicht  bekannt. Es ist noch nicht einmal sicher, ob eine solche Brüderschaft in Berlin überhaupt existiert.“
   Stinkan, enttäuscht: „Na schön. Ich danke Ihnen. Das war sehr aufschlussreich, obwohl viele Fragen offen bleiben.“ Er weist auf die Fruchtschale. „Möchten Sie nicht noch einen Apfel mitnehmen?“
   
   "So ein Flegel", giftet Frau Dr. Freudenberg, nachdem Slavonka mit dem Apfel in der Hand den Raum verlassen hat. "In meiner Behörde wär der schon längst gefeuert!"
  "Dann hätten Sie Ihren besten Kriminalisten gefeuert", erwidert Stinkan trocken.
   „Was gedenken Sie zu tun?“, fragt Frau Dr. Sommer unverdrossen strahlend,
   „In Absprache mit der Polizeipräsidentin erst einmal gar nichts, außer, dass die Vorgänge im so genannten Asylantenheim weiterhin beobachtet werden. Es ist besser, die Leute bleiben dort unten zusammengefasst, als dass sie sich über das gesamte Stadtgebiet verteilen. Sie werden verstehen, meine Damen, dass ich mich zu Einzelheiten nicht äußern kann. Sollten sich für Ihre Dienststellen relevante Befunde ergeben, werde ich selbstverständlich sofort informieren. Meine Damen, ich danke Ihnen!“
F. f

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Beitrag03.03.2023 18:22

von wunderkerze
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9
   Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er die drei Gestalten auf sich zu kommen sah, zwei in GSG9-Montur mit Maschinenpistolen, die dritte im weißen Kittel, offensichtlich unbewaffnet. „Stehenbleiben, Arme weit ausstrecken und keine Bewegung!“, rief eine Frauenstimme.
   Adamyan blieb verdutzt stehen. „Erika, was soll das?“, rief er.
   Erika ließ den Verschluss ihrer Waffe knacken. „Maul halten und tu, was ich dir sage! Eine Bewegung mit den Armen, und wir machen aus dir ein Kugellager!“
   In dem ausgemauerten Tunnel hallten ihr Worte wie lautsprecherverstärkt.  
   Sie bugsierten ihn in einen schmalen, schwarz gestrichenen Raum, der außer einer Deckenleuchte, einem Tisch, einem Stuhl und abgestandener Luft nichts weiteres enthielt. Der Weißkittel, ein Untergrund-Sanitäter, trat auf ihn zu.
   „Die Hände bleiben oben!“, schnauzte er, „und keine Bewegung.“ Er begann, Adamyan von oben bis unten sorgfältig abzutasten. Erika stand mit schussbereitem Karabiner daneben. Als der Sanitäter mit der Untersuchung fertig war, befahl er: „Bleib so, aber dreh die Hände um! Handflächen nach oben!“ Er zog eine Lupe hervor und suchte Adamyans Handballen ab. „Was ist das dort für eine Narbe?“
   „Wo?“ Adamyan zog die Hand zurück – ein Schuss krachte, die Kugel pfiff haarscharf an seiner Nase Vorbei und schlug in die Wand gegenüber ein.
   „Der nächste Schuss trifft“, drohte Erika.
   „Du beugst dich jetzt mit ausgestreckten Armen über den Tisch“, befahl der Weißkittel und zog sich Gummihandschuhe über, „die Hände schön flach mit dem Rücken auf der Tischplatte. Und keine Bewegung, hörst du!“
   Jetzt begann er, Adamyans Hose aufzuknöpfen und herunterzuziehen.
   Verbissen starrte Adamyan auf einen Feuchtigkeits-Fleck mit den Umrissen einer riesenhaften Spinne.
   Der Sani richtete sich auf, schüttelte den Kopf und sagte: „Er ist sauber!“ Erika und die andere GSG9-Figur verließen den Raum. „Es ließ sich leider nicht vermeiden“, murmelte der Sanitäter. Es klang fast entschuldigend.
   Adamyan hatte das Gefühl, als hätten schon tausend Andere vor ihm die Luft in diesem Raum eingeatmet. Keuchend stürzte er nach draußen.
                                                                             *   
  „Was sollte das?“, schrie er Erika wütend an, als sie, wieder in Zivil, auf ihn zukam. „Und dann in diesem Ton! Am liebsten würde ich dich –“
   „Mit der Würde sollte man nicht zu freigiebig sein. Saad, komm von deiner Palme wieder herunter, und ich erklär dir, was das sollte.“
   Mit einem wütenden Fußtritt stieß Adamyan eine tote Ratte beiseite. „Mir war´s hundspeinlich“, maulte er. „Musste das denn unbedingt sein? Und dann glotzt du auch noch so.“
   „Mir auch! Und ja, es musste sein. Außerdem hab ich nicht geglotzt, sondern dich genau beobachtet. Machen wir übrigens mit jedem, der Zutritt in die geheiligten Hallen der Brüderschaft begehrt und gewisse Merkmale aufweist.“
   „Was denn für Merkmale?“
   „Zum Beispiel eine Narbe auf dem rechten Handballen. Wie bei dir.“
   „Hundebiss. Als ich klein war, kam ich so einem Köter zu nahe, oder umgekehrt. Hatte ich schon längst vergessen.“
  „Ja. Ohne die Narbe wäre dir diese Prozedur erspart geblieben.“
   „Ach nee! Und was ist daran so verdächtig, dass mir der Kerl den Finger in den Hintern stecken musste?“
   „Er hat nach Plastiksprengstoff gesucht.“
    Adamyan blieb stehen. „Nach Plastiksprengstoff? In meinem –“
   „Ja, in deinem. Mitsamt dem Fernzünder, der von einem Mikrochip in deinem Handballen aktiviert wird. Du klatschst einmal kräftig in die Hände, oder du knallst mit der Faust auf den Tisch – es macht wummm!, und du und das Opfer sind nur noch ein Haufen Krokodilfutter.“
   „Du spinnst!“
   „Ich spinne nicht! Hier war mal so ein Hornochse, der es auf diese Weise versucht hat. War ne eklige Angelegenheit. Wir rechnen nicht damit, dass irgendwann mal so ein Irrer hier unten mit nem Sprengstoffgürtel auftaucht. Müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn er bis hierhin kommt. Aber dass sich jemand den Arsch voller Sprengstoff steckt, um zu den siebzig Jungfrauen –“
   Adamyan brauste auf. „Rede keinen Unsinn und lass die Jungfrauen aus dem Spiel! So, und warum kommt ihr gerade auch mich?“    
   Sie überquerten eine Steg, der sie in einen anderen Kanal führte. Ab und zu fiel ein Lichtschimmer durch die Öffnungen der Kanaldeckel, die in regelmäßigen Abständen hoch über ihnen erschienen.
   „Eins nach dem anderen. Wir haben einen Hinweis erhalten, dass sich hier unten ein Agent des Idarat aufhält, mit dem Auftrag, die Wohltätigen Brüder zu eliminieren, aus welchem Grund auch immer. Wir haben keine Ahnung, wer derjenige sein könnte, also kann es im Prinzip jeder sein. Und dein auffälliges Interesse an den Brüdern hat dich verdächtig gemacht.“
   „Warum soll ich die die Bruderschaft denn in die Luft sprengen? Ich will ihr ja beitreten!“
   „Genau das ist ja das Problem.“ Entweder ist er harmlos oder der Junge lügt ohne rot zu werden. „Damit wäre ich bei Punkt zwei. Du hast noch nicht überzeugend klar gemacht, warum du unbedingt bei ihnen mitmachen willst. Bloße Neugier reicht nicht.“  
   „Es ist keine Neugier.“ Adamyan seufzte herzzerreißend. „Nach mehr als zwei Jahren in dieser fremden Stadt fühle ich mich immer noch wie ein Einsiedler in der Wüste, und die Nächte in der Wüste sind kalt. Trotzdem hat es dem Allmächtigen gefallen, mich an diesen Ort zu führen, mich, einen Schatten unter einer Schwarzen Sonne. Ist das nicht sonderbar? Ich habe lange darüber nachgedacht, und jetzt weiß ich es: Aus der Kälte der Einsamkeit will mich Allah ins Licht der Gemeinschaft führen, denn ich bin nicht für die Einsamkeit geboren, und diese Gemeinschaft, in die mich Allah führen will, das fühle ich genau, ist die der Wohltätigen Brüder. Verstehst du das?“
   „Nee.“  
   Erika sah ihn neugierig an, wie eine Mutter, deren dreijähriges Kind plötzlich sechsstellige Primzahlen aufsagt.
   „Erika, warum sagst du nichts?“
   „Ich dachte gerade nach. Na schön, ich werde sehen, was sich machen lässt. Hast du etwas, womit du dich ausweisen kannst?“
   „Hier, diese Karte. Wenn sie den Namen meiner Familie lesen, werden sie wissen, wer ich bin.“
   „Karte, Karte … Und wer sagt mir, dass auch wirklich deine Familiennamen draufstehen?“
   „Ich!“
   „Gut. Aber allzu große Hoffnungen würde ich mir an deiner Stelle nicht machen.“
   Adamyan breitete hilflos die Arme aus. „Erika, wie kann ich dir nur klarmachen –“
   „Lass es gut sein, ich glaub dir ja. Aber überzeugt bin ich nicht.“
   Eine Weile gingen sie schweigend weiter, vom Plätschern trüber Bäche begleitet. Dann fragte Adamyan: „Was habt ihr eigentlich mit diesem . . . äh . . .Hornochsen gemacht?“
   „Als Langfinger mit dem Kopf nickte hab ich ihm eine Kugel in die Birne geballert. Dann haben wir ihn in einen alten Fluchttunnel gelegt und gesprengt. Wenn du willst, kannst du seine Reste hier gleich um die Ecke besichtigen.“
   „Heißt das, wenn Langfinger vorhin mit dem Kopf genickt hätte –“
   „Genau. Dann hätte ich dir ohne zu zögern eine Kugel in den Kopf geschossen!“
Adamyan schwieg betreten, Erika fuhr fort: „Was hätte ich denn machen sollen? Warten, bis du in die Hände klatschst? Nee, mein Lieber, noch ist mir mein beschissenes Hemd näher als deine saubere Weste!“

10
   „Wo, sagen Sie?“
   „Friedensstraße zweiundsiebzig.“
   Hauptkommissar Slavonka legte Messer und Apfel beiseite und ging etwas steifbeinig zu dem großen Stadtplan an der Wand. Während er nach der Straße suchte, fragte er: „Und was wollen die Leute da gehört haben?“
   „Schreie.“
   „Männliche, weibliche, tierische? Von Hund, Katze, Kaninchen, Vogel?“
    „Menschliche.“
   Slavonka, ärgerlich: „Mensch, Wunderlich, nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus den Nase ziehen!“
   Der Polizeimeister zog brummig ein Notizbuch hervor und blätterte ein paarmal vor und zurück. Schließlich fand er die richtige Seite und berichtete: „Am siebzehnten dieses Monats gab Herr Heribert Weinert, wohnhaft Friedensstraße zweiundsiebzig, Vorderhaus, dritter Stock links, telefonisch an, Schreie im Keller des Hauses Friedensstraße zweiundsiebzig gehört zu haben. Da er sich nicht abweisen ließ –“
   „Am siebzehnten? Und davon höre ich erst jetzt?“
   „Da kein Personenschaden vorlag, hielt ich es nicht für relevant. Außerdem erbrachte die Besichtigung vor Ort nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Auch Schreie hörte ich keine. Also dachte ich –“
   „Schon gut. Weiter.“
   „Heute morgen gegen zehn Uhr rief dieser Weinert wieder an und behauptete, er habe jetzt Zeugen, die diese Schreie auch gehört hätten.“
   „Und welche Zeugen sollen das sein?“
   „Seine Frau und ein weiterer Mieter.“
   „Und woher kamen die Schreie?“
   „Angeblich aus einem stillgelegten Schornsteinschacht.“
   „Hmm . . .“ Slavonka klemmte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. „Klingt ziemlich abenteuerlich. Schreie aus dem Schornsteinschacht. Werd ich mir merken, wäre ein guter Titel für meine Memoiren.“ Er sah Wunderlich aufmerksam an. „Was halten Sie davon?“
   Schulterzucken. „Tja . . .“
   „Glauben Sie an Geister?“
   „Nein.“
   „Ich auch nicht. Sollten sich noch weitere Zeugen melden, sehen wir uns den Keller mal genauer an.“
   
                                                                                      11
   Abdelkarim entriegelte eine Stahltür, stieß sie auf und richtete den Strahl der Stablampe in den dahinter liegenden Raum. Ein Schild leuchtete auf:

Achtung!
Sie verlassen nach 80 m
West-Berlin

   Zügig steuerte er auf eine der nackten Türöffnungen zu, die in eine Wand eingelassen waren.
   „Bist du sicher, dass das der richtige Gang ist?“
   „Ich denke schon.“
   „Du denkst? Aber ganz sicher bist du nicht?“
   „Wie denn? Bei zehntausend Tunnelkilometern? Ich bin doch kein Kamel, das blind einen Weg findet, den es nur einmal gegangen ist.“
   Adamyan blieb stehen. „Vielleicht will ich das ja doch nicht sehen!“
   „Unsinn. Außerdem würdest du nicht mehr allein zurückfinden. Hier geht’s lang.“
   Aus einem Betonrohr stürzte ein Gießbach klumpiger und übel riechender Abwässer in einen kreisrunden Abgrund. Nach etwa hundert Metern leuchteten im Strahl der Stablampe Konturen eines Gewölbes aus Backsteinen auf, mit Bögen, abgerundeten Ecken, kunstvoll gemauerten Decken: Ein neugotischer Kloakendom.
   „Wieder ein Beweis für die besondere Art der Deutschen“, sagte Abdelkarim, „sogar ihre Abwasserkanäle sehen aus wie Kreuzgänge. Und ihre alten Bahnhöfe wie gotische Kathedralen.“ Abdelkarim blieb stehen und lauschte. „Sei mal still!“
   Von Weitem erklang ein eigenartiges Getöse. Es hörte sich an wie der Lärm auf einem Schulhof während der großen Pause. Dann war wieder Ruhe, in die eine tiefe Männerstimme hineinsprach. Auch näherten sich mehrere stark bewegte Lichtpunkte.
   „Verdammt, eine Führung!“, murmelte Abdelkarim, „jetzt um diese Zeit? Komm, schnell!“
   Er rannte los, Adamyan hinter ihm her. An einer Eisenleiter machte er Halt. „Da hinauf!“
   Der Schacht war eng. An einer Seite ein schwarzes Loch, in das Abdelkarim hineinkroch. Mann hörte das Gerumpel von Steinen, dann war sein Freund verschwunden. Adamyan, der aus irgend einem Grund sehr nervös war, rutschte ab und wäre fast abgestürzt. Geistesgegenwärtig gelang es ihm, sich mit dem Rücken an er Wand abzustützen. Dann folgte er seinem Führer. Das Loch war so schmal, dass er Mühe hatte, sich hindurchzuzwängen, die dahinter liegende Röhre nicht viel breiter und mit Steinen übersät. Nach wenigen Metern mündete sie in einen ausgemauerten Gang, in dem sie aufrecht stehen konnten.
   „Ich muss die Steine wieder vor das Loch schieben“, sagte Abdelkarim und verschwand.
   Als er zurück war, erklärte er: „Es soll so aussehen, als sei der Stollen zusammengefallen. Dass einer von den dicken deutschen Bullen da hindurchpasst, ist unwahrscheinlich. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellantruhe.“
   „Wo sind wir hier?“
   „In der Nähe des ehemaligen Kleinen Flakturms im Friedrichshain.“ Wieder blieb er stehen und lauschte.
   „Nach dem Krieg wurde der Bunker gesprengt“, erklärte er, „ und mit Unmengen von Trümmerschutt aufgefüllt. Seither gilt er als unzugänglich, bis unsere Leute diesen Versorgungsgang und ein paar übrig gebliebene Hohlräume entdeckten. Ein idealer Ort für konspirative Treffen, absolut abhörsicher und vor allem: Die Sicherheitsbehörden ahnen anscheinend nichts.“
    „Vor wem habt ihr denn Angst, wenn den Ort angeblich niemand kennt?“, fragte Adamyan. „Doch nicht etwa vor der Berliner Polizei?“
   Abdelkarim lachte trocken. „Nein, nicht vor der. Aber vor Verrätern!“
   Sie erreichten eine große Halle, an deren Decke zwei einsame Glühbirnen mit der Finsternis kämpften. Die Halle war auf eigenartige Weise verformt: Schief und krumm, als hätte sie ein Picasso oder Liebeskind konstruiert. Die Tragsäulen gebrochen, die Wände gerissen, die Decke, von der Stalaktitenschleier hingen, geborsten, der Boden in Schollen zersplittert, nichts war im Lot, nichts in der Horizontalen, alles schräg schief krumm, als habe ein Titan versucht, die Welt in Stücke zu schlagen. Und überall Steine, Staub, Schutt.
   „Weiter oben sieht es noch fürchterlicher aus“, sagte Abdelkarim, „wie nach einem Atomschlag. Doch es gibt immer mehr Leute, die das mögen. In die Trümmerwelt des Bunkers im Humboldthain werden sogar Führungen angeboten.“
    Er blieb vor einer Tür stehen.
   „Sind sie da drin?“, fragte Adamyan.
   „Ja.“
   Abdelkarim sprach etwas in sein Funkgerät, und die Tür öffnete sich. „Komm“, sagte er, „es tut auch nicht weh!“
   
  In dem kahlen Raum waren fünf Männer auf eisernen Stühlen festgeschnallt. Neben und vor ihnen standen vier riesige Lautsprecher sowie eine Verstärkeranlage. Es stank entsetzlich nach Urin und Exkrementen. Als die Männer die Eintretenden bemerkten, fingen sie jämmerlich an zu schimpfen und zu fluchen. Einer brach in Tränen aus und rief: „Ja ich mache es, ich schwöre, ja ich mache es!“  
   Adamyan hielt sich die Nase zu und blickte sich verstört um. An einer Wand hing ein eiserner Kasten, aus dem mehrere Rohre herausragten.
   Auf einmal wummerte aus den Lautsprechern ohrenbetäubendes Geschrei. Entsetzt sprang er zurück. „Das ist ja furchtbar!“ rief er, „w-was soll das?“
   Es war eindeutig das Geschrei Gefolterter.
   „Erkläre ich dir auf dem Rückweg!“, brüllte Abdelkarim.

   „Diese Männer“, sagte Abdelkarim, als die Tür hinter ihnen zufiel und der Lärm wie abgeschnitten aufhörte, „haben wir als ehemalige Folterer identifiziert, die sich nach Deutschland abgesetzt haben, um der berechtigten  Rache der geschädigten Familien zu entgehen. Alle haben unter falschem Namen und Papieren Asylanträge gestellt. Drei haben wir im Bunker unterm Alex gefasst, die beiden anderen im Asylheim in der Colditzstraße. Wir beschallen sie jeweils für fünf Minuten in halbstündigen Abstand. Sie sollen ja nicht taub werden, sondern für ihre Schandtaten büßen. Wie ihre Opfer sollen sie am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, wenn man sich in seinen eigenen Exkrementen wälzt und und vom Schreien heiser ist. Sie sollen wissen, wie es ist, wenn man Stunde um Stunde gezwungen wird, sich nicht zu bewegen.“
   Von dem Lärm war jetzt kaum noch etwas zu hören.
   „Ist das Geschrei echt? Ich meine, wurden diese Leute wirklich –“
   „Ja. Es ist gestohlenes Geschrei aus einem syrischen Foltercamp. Eine Drohne schickte einen Laserstrahl auf das abgehörte Gebäude, aus den Veränderungen im rücklaufenden Signal wurden die Schreie elektronisch rekonstruiert und verstärkt. Das Neueste aus deutscher Erfinderwerkstatt auf dem Feld der Abhörtechnik. Alles, was Licht reflektiert, kann zum Lauschobjekt werden, und damit jede Blumenvase oder Türklinke zur Verräterin. Wie ich schon sagte: Diese Deutschen sind ein erstaunliches Volk.“
   „Wollt ihr die Männer umbringen?“, fragte Adamyan, den der technische Kram offenbar nicht interessierte.
   „Nein, bei uns ist kein Platz für Mörder oder Totschläger. Weißt du“, fuhr Abdelkarim noch kurzer Pause fort, „es gibt eine Abstufung des Bösen, wie es eine Abstufung des Guten gibt. Kein Mensch ist nur Teufel oder nur Engel. Diese da haben nicht gequält um des Quälens willen, sondern weil sie meinten, damit einem höheren Zweck zu dienen. Wenn sie mit ihren Methoden nicht weiterkamen, überließen sie ihre Opfer anderen vom Schlage eines Nasir ad-Din oder eines Mustafa al-Suleiman. Man kann von keinem Beamten oder Soldaten verlangen, dass er über den Sinn eines Befehls nachdenkt. Aber man kann verlangen, dass er gewisse Grenzen nicht überschreitet. Auch das mörderischste Regime zwingt keinen Zivilisten zum Töten. Diese fünf sind zwar Abschaum unter der Sonne Allahs, aber sie haben nicht getötet. Nur Mord ist unverzeihlich. Doch Vergebung kann nur von Gott kommen. Die Reue, die Umkehr ist wichtig, um die Beziehung zu Gott aufrecht zu erhalten. Gott fordert den Sünder auf, die Sache in Ordnung zu bringen. Keine leichte Aufgabe. Der Grundsatz –“
   „Ich kenne die Schrift“, unterbrach Adamyan ungeduldig. Es schien, als bereite ihm der Sermon Unbehagen. „Also, was habt ihr mit ihnen vor?“
   „Sie werden solange den Geräuschen der Hölle ausgesetzt, bis sie bereit sind, sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu stellen, um die Sache in Ordnung zu bringen. Gott verlangt keine Rache, aber er verlangt Sühne vor den Menschen."
   Vor einer Stahltür hielten sie an. Abdelkarim sprach in sein Handfunkgerät, die Tür öffnete sich, vor ihnen stand – Erika.
   „Hey, ihr beeden Schlawina“, berlinerte sie ungeniert, „dachte schon in mein´n Kopp, ihr habt euch valoofen und kommt nich wieda!“   

                                                                                *
    BERLINER ABENDSPIEGEL, Donnerstag, den 17. März 20..
   Wie der Sprecher des Fachbereichs Tiefbau des Bezirksamtes Mitte unserer Zeitung bestätigte, kommen die Schreie, die mehrmals am Tag in zwei Kellern in der Friedensstraße zu hören sind, aus einer Rohrleitung des ehemaligen Berliner Rohrpostnetzes, das im Ostteil der Stadt noch bis zum Jahr 1976 in Betrieb war. Vermutlich handelt es sich um eine Leitung vom ehemaligen Haupt-Telegrafenamt in der Oranienburger Straße zum Postamt Pankow. Wo allerdings die Quelle dieser Schreie gesucht werden muss ist weiterhin spekulativ. Sowie der ABENDSPIEGEL nähere Einzelheiten . . .

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Ralfchen
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Beitrag09.03.2023 00:26

von Ralfchen
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Hallo WK –

Es ist erstaunlich mit welchen Methoden du hier ein totales Wirrwarr mit deinem Text erzeugst. Nichts in deiner kurzen Geschichte hat mich wirklich überzeugt sie ist zusammenhangslos und hat ein Aussage-Defizit wie ich es selten erlebt habe. Aber bitte fang nicht wieder an alles komplett zu überarbeiten wie du das jetzt schon zwölf mal gemacht hast. Sie ist der absolute Horror.

Danke das ist lieb von dir

Herzliche Grüße
ralfchen


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Beitrag21.03.2023 18:39

von wunderkerze
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Der große Irrtum

1
  Sie knöpfte ihre Jeans auf, machte ein paar Bauchtanzbewegungen, die Jeans rutschten ihre Beine hinunter und blieben wie eine doppelläufige Ziehharmonika auf dem Boden liegen. Beim Versuch, einen Fuß herauszuziehen, geriet sie ins Schwanken, doch Abdelkarim war sofort zur Stelle und fing sie auf. Er zog sie an sich; dabei geriet er selbst aus dem Gleichgewicht, fiel aufs Bett und riss sie mit. Währen sie bewegungslos dalag, versuchte er mit ungeschickten Händen, ihre Bluse aufzuknöpfen. Dabei riss ein Knopf ab, rollte über den Boden und blieb mit einem kreiselnden Geräusch liegen. Sie entzog sich seinen Lippen, befreite sich aus seiner Umarmung und stand rasch wieder auf den Beinen.
   Er streckte die Hand nach ihr aus und hauchte: „Erika!“
   „Gehst du immer so forsch ran?“, fragte sie mit abgewandtem Gesicht. Mit einem Feuerzeug zündete sie die Kerze auf dem Tisch an und knipste das Licht aus. „Ich hab´s gerne schummrig.“
   Abdelkarim war überrascht, wie hell so eine Kerzenflamme nach einiger Zeit sein kann, wenn sich das Auge gewöhnt hat und die Konkurrenz anderer Lichtquellen fehlt. Vom Getümmel im Berghain war nicht viel zu hören. Vereinzelte Klangfetzen, wie fernes Löwengebrüll, wehten durch die Luft, stark gedämpft durch meterdicke Wände.
   Er zog sich mit schnellen Bewegungen aus, ohne ihre Figur aus den Augen zu lassen. Die war genau das, was er sich immer erträumt hatte: Festes Fleisch mit den Formen der Oud, der orientalischen Knicklaute: Fülliger, tropfenförmiger Körper, schlanker Hals, kokett zurückgeworfener Kopf. Sie schreit danach, dass die Finger eines Künstlers ihren Körper zum Klingen bringen, dachte er.
   Sie legte sich an seine Seite, und seine Fingerspitzen glitten ganz leicht über ihr duftendes Haar, über die geschlossenen Lider, die heißen Wangen, über den bebenden Mund. Er spürte die Narben ihres Gesichts; seine Hand wanderte tiefer, über den Bogen ihres Halses in das Tal zwischen ihren Brüsten. Während er die Erkundung der Laute fortsetzte, spürte er ihre kühlen Finger in seinem Nacken. Unter den bald zaghaften, bald drängenden Angriffen seine Lippen kam sie ihm weiter entgegen und öffnete die Beine. Sein Körper straffte sich, und er war bereit, zu geben. Ihr heißer Leib erbebte unter seinen wellenartigen Bewegungen. Er spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Schultern krallten und ihre Zähne sein Ohr bissen. In höchster Erregung beschleunigte er seine pulsierenden Bewegungen im Rhythmus seines keuchenden Atems, und im flackernden Licht der Kerze sah er, dass sie weinte.

   „War ich zu ungestüm?“
   Sie lagen nebeneinander, Bein an Bein, Haut an Haut. Abdelkarim betrachtete sein Sektglas, in dem die letzten Blasen aufstiegen.
   Sie schnurrte: „Aber nicht doch! Wie kommst du denn darauf? Von mir aus hätte es noch eine Spur härter sein können.“
   „Warum dann die Tränen?“
   „Na warum wohl? Freudentränen!“
   Er blickte sie an, und noch ehe sie sich seinem Blick entziehen konnte, wusste er, dass sie wieder einmal log. „Wie ist es passiert?“
   Sie lag mit abgewandtem Gesicht da, eines ihrer Beine zwischen seinen Schenkeln. „Ein Autounfall. Mein Bruder und meine Mutter kamen dabei ums Leben, mein Vater am Steuer überlebte schwer verletzt. Die Ärzte nannten es Polytrauma mit Gesichtsschädelverletzung oder so ähnlich. Hab deshalb eine halbe Ewigkeit in einem beschissenen Sanatorium verbracht. War ne üble Sache, also frag nicht weiter.“
   „Wann war denn das?“
   „Vor langer langer Zeit. War gerade mal seit kurzem auf der Welt.“
   „Aber du leidest immer noch darunter.“
   Sie fuhr hoch. „Natürlich leide ich noch darunter, du Arschloch! Ein Mann ohne Hirn ist immer noch ein Mann, aber eine Frau ohne Gesicht ist nicht viel mehr als ein Stück Scheiße!“
   Plötzlich warf sie sich auf ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „O Tarek, Tarek, verzeih!“, stammelte sie, „ich . . . ich wollte dich nicht beleidigen.“ In dem Schummerlicht glühte ihr Gesicht wie eine dunkle Blume.
   Abdelkarim legte seine Hand auf ihre Hüpfte und begann sie zu massieren.
   „Es liegt nicht am Gesicht“, sagte er, „sondern am gestörten Selbstwertgefühl, das dir Probleme macht. Es gibt erfolgreiche Frauen von geradezu atemberaubender Hässlichkeit. Hast du schon mal versucht, in diese Richtung zu denken?“
   „Nee, ich denke gerade, da war mal einer, der wollte mir eine Burka verpassen.“
   „So? Und wer?“
   „Ach, einer aus dem Sanatorium. Der Spinner meinte, ich sollte mit ihm nach Afghanistan gehen. Da würde so eine wie ich nicht auffallen.“
   „Hast du es getan?“
   „Was?“
   „Bist du mit ihm gegangen?“
   „Mann, bist du blöd? Läge ich dann hier? Allerdings, gereizt hat´s mich schon. Ich lief ne ganze Weile herum wie mit nem Stachel im Arsch. War ein flotter Typ, der Kerl. Schwarze Haare, fette Muskeln, knackiger Hintern. Nicht wie bei diesen Luftkoteletts, die heutzutage überall herumhängen. Vorne nix, hinten nix, frag mich immer wieder, wie die überhaupt stehen können. Doch dann sagte ich mir: Karina lass das, der Onkel hasst das.“
  „Wieso Karina?“
   „Wie? Ach so!“ Sie schien zu überlegen. „Mein Herr Erzeuger hätte gerne Karina gehabt, aber meine Gebärerin bestand auf Erika, weiß der Teufel warum. Und da sie sich nicht einig wurden, nannten sie mich Erika-Karina.“
   „Das heißt, ich könnte auch Karina zu dir sagen.“
  „Aua! Du tust mir weh!“
   „Na dann sind wir ja jetzt quitt.“
   Sie sprang aus dem Bett. „Ich gieß uns noch den restlichen Sekt ein. Wär doch schade um die teure Plempe!“ Mit den gefüllten Gläsern in der Hand setzte sich an den Bettrand. „Na dann Prösterchen!“
   Sie Tranken.
   „Kommst du jetzt in die Hölle?“, fragte sie.
   Er blickte erstaunt auf. „Warum sollte ich?“
   „Du hast mit einer Ungläubigen geschlafen, und nicht schlecht.“
   „Du meinst, weil ich Muslim bin? Ja natürlich komme ich in die Hölle. Und du, mein Schatz, wirst gesteinigt.“
   „Puh! Da hab ich aber Glück, dass ich in Afghanistan keinem ins Bett gekrochen bin!“
   Abdelkarim runzelte die Augenbrauen. „Du warst in Afghanistan? Das wird ja immer schöner!“
   „Wer sagt denn, dass ich dort war? Es war nur hyp – ups – o – thetisch gemeint. Ginge ja auch garnicht. Wegen der Taliban, die da jetzt das Sagen haben. Die würden mich sicherlich steinigen.“
   „Sicherlich. Wir sind aber nicht in Afghanistan. Wir sind in Deutschland.“
   „Trotzdem . . . Ich will nicht, dass du in der Hölle schmorst.“
  „Unsinn, mein Täu –. In der Hölle schmort niemand. Seelen können nicht schmoren. Die Hölle ist ein symbolischer Ort, genauso wie das Paradies. Außerdem kommen nur die Seelen Ungläubiger in diesen verrufenen Ort, doch ich glaube fest an Allah und seinen Propheten. Wo ist da das Problem? Aber wenn es dich beruhigt, könnten wir ja beim nächsten Date eine Mut´a-Ehe eingehen. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“
   „Mutaehe? Was ist das denn nun schon wieder für eine Schweinerei?“
   „Keine Schweinerei. Eher das Gegenteil. Eine Zeitehe. Für eine begrenzte Zeit.“
   Sie sah ihn aus schiefen Augen an. „Tarek, willst du mich auf den Arm nehmen? Eine Zeitehe? Hier in Berlin?“
   „Ja warum denn nicht? Der Deutsche Bundestag hat sie just vor ein paar Wochen für rechtens erklärt.“
   „Ach! Und wie – ups – funktioniert das?“
   „Wir setzen vorher einen Ehevertrag auf, sagen wir für die Dauer einer halben Stunde oder, wenn dir das zu wenig ist, für 99 Jahre, du nennst mir deinen Preis, wir unterschreiben, und ab geht die Post.“
   „Wohin denn?“
   „Na wohin wohl, mein Dummchen? Ins Bett!“
   „Tarek! Sag nicht noch einmal  – ups – Dummchen zu mir, verstanden! Sonst kündige ich dir die Freundschaft!“
   Plötzlich fing sie fürchterlich an zu lachen. „Hahaha! Tarek, du alte Lustklemme! Erzählst hier Sachen! Ich bepiss mich gleich! 99 Jahre! Wie bei ´ner Erbpacht!“ Sie stutzte. „Und wenn ich nach 99 Jahren nochmal will?“
   „Dann setzen wir einen neuen Vertrag auf, und nach einer dreimonatigen Wartezeit, schließlich will ich ja wissen, ob du nicht inzwischen schwanger bist, ist die Ehe vor Gott und der berliner Verfassung gültig.“
   Ein Brausen erklang, das immer stärker wurde und schließlich mit kristallinem Klirren an den kahlen Wänden zerschellte. Jetzt ging ein Dröhnen durch den Raum, der das Bett erzittern ließ, und tausend Trompeten verkündeten den jüngsten Tag. Allmählich ließ der Lärm nach und zerflatterte sanft in den Zimmerecken.
   Abdelkarim war aus dem Bett gesprungen und zur Tür gerannt. Abgeschlossen.
   „Damit uns hier keiner überrascht“, sagte Erika, „komm zurück ins Bett, du erkältest dir noch den Charakter. Mitternacht, Sperrstunde. Der DJ hat noch mal richtig aufgedreht, bevor jetzt die Lichter ausgehen und die Party im Dunkeln weitergeht.“
   Sie kuschelte sich an ihn und streichelte ihm den Hals.
    „Tarek, hast du schon viele Frauen gehabt?“
   Abdelkarim lachte. „Das musste ja kommen! Nein, nicht viele. Auf jeden Fall nicht so viele wie du Männer aus dem Fenster geworfen hast.“
   Sie ließ ein kleines Jungmädchenlachen hören. „Ach Tarek, du Dummerchen, das war doch nur Scherz! Für wen hältst du mich? Ich bin so unschuldig wie ein neugeborener Engel!“
   „Ha! Das hat sich eben aber ganz anders angefühlt!“
   Sie gab seinen Hals wieder frei und knetete seinen Nacken.
   „Waren die Frauen schön?“
   „Schön ist was gefällt.“
   „Haben sie dir gefallen?“
   „Ich hab nicht hingesehen. Und es war dunkel.“
   „Würdest du so eine wie mich heiraten?“
   „Mit Burka schon.“
   „Arschloch!“ Sie stürzte sich auf ihn und begann, seine Brust mit Fäusten zu bearbeiten. Er griff blitzschnell zu und hielt sie an den Handgelenken fest. Dann zog er sie an sich, drehte sie um, und das Liebesspiel begann von neuem.

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Beitrag04.04.2023 19:56

von wunderkerze
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2
   Friedrichshain, Kleiner Trümmerberg, zehn Meter unter der Erdoberfläche, 19 Uhr 30 MEZ
   „Warum meldest du uns denn nicht an?“
   „Wir sind zu früh. Die Zeit der unantastbaren Mittagspause ist noch nicht vorbei.“
   Erika blinzelte Adamyan misstrauisch an. „Wahel, ich trau dir immer weniger über den Weg, je länger ich dich beobachte.
    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
   „Na zum Beispiel eben! Du hörtest sehr genau zu, als ich vorhin ins Walky-Talky sprach.“
   „So, tat ich das? Na und? Sollte ich mir die Ohren zuhalten? Ich habe nicht gelauscht.“
   „Wäre auch zwecklos. Die Losung wird jeden Morgen neu ausgegeben und per Rohrpost übermittelt.“
   Adamyan trat unruhig von einem Bein aufs andere.
   „Was bist du so nervös? Oder drückt´s dich irgendwo? Tu dir keinen Zwang an! Ich guck auch weg, und Platz zum Pissen ist genug da.“
   „Unsinn! Nur, diese Warterei macht mich noch wahnsinnig! Ich will endlich Klarheit und wissen, woran ich bin. Und sie sollen mir sagen, ob ich noch zu den Gerechten gehöre oder zu denen, die am Tage des Gerichts in die Hölle verwiesen werden. Schließlich habe ich ohne Not einen Menschen umgebracht! Auch wenn es ein Schwein war, so gebietet doch der Koran, die Feinde zu lieben und Frieden zu stiften zwischen den Menschen und nicht, sie zu morden."
   „Mann, du hast Sorgen! Skrupel. . . buchstabier das mal . . . Trotzdem . . . Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, gerade den größten Irrtum meines Lebens zu begehen.“  Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „So, es ist soweit. Du kannst hineingehen.“

   Schon als er sich der liegenden Gestalt auf dem Diwan näherte, überkamen Adamyan die ersten Zweifel. Die kümmeliche Gestalt soll Kemal al-Libwani sein? Er hatte ihn größer, breiter in Erinnerung. Aber in voller Lebensgröße habe ich ihn nie gesehen. Ist wohl reines Wunschdenken.
   Und noch etwas anderes irritierte ihn: Der süße Geruch des Opiums.
   Der Imam erhob sich und ging auf seinen Besucher zu. Er war in eine knöchellange Djelaba aus feinster hellgrüner Seide gehüllt – der Farbe des Propheten –, seine Füße steckten in dunkel-sandfarbenen Wildleder-Pantoletten. Um den Fes hatte er einen gelblichen Seidenschal gewickelt, das Zeichen des Moslems, der seine religiösen Pflichten genauer und regelmäßiger erfüllt als die breite Menge.
   Wieso hinkt er?, schoss es Admyan durch den Kopf. Früher hat er doch nicht gehinkt!
   Doch er kam nicht dazu, sich weitere Gedanken zu machen. Der Alte holte zum feierlichen Gruß aus, berührte Herz, Mund, Stirn. Ebenso feierlich-bedächtig erwiderte Adamyan den Gruß, als belaste keine Ungeduld seine Nerven.
   Nun trat der Alte näher und streckte seine Rechte gegen Adamyans Herz aus, wobei er mit den Fingerspitzen dessen Brust leicht berührte. Somit war der Herzkontakt hergestellt, jene innige Form persönlicher Fühlungnahme uralten Brauchtums aus mystischer Vorzeit. Wie er so dastand, glich der alte Mann eher einem weisen Mandarin als dem 'abat, dem Vorsteher einer geheimen Bruderschaft.
   „As-salamu alaykum!“, sagte der Alte mit ungewöhnlich hoher Stimme, wohl die Folge eines nicht vollständig ausgeheilten Kehlkopfleidens, „Freund und Sohn meines Freundes! Mit deiner Visite hier in dieser Stadt hast du mir eine freudige Überraschung bereitet! Und nun verschönert mir noch deine leibliche Anwesenheit den Tag. Ich danke Allah, dass er mir diese Freude noch vor meiner Großen Reise vergönnt.“  
   Adamyan sah ihn an: Glatte Wangen, freundlich strahlende, etwas tiefliegende Augen von der Farbe gerösteter Maronen, der Bocksbart, dicht, schwarz, die kleine Warze am linken Nasenflügel.
   Doch, er ist es, anscheinend ist die Zeit an ihm vorbeigegangen . . . das gleiche Gesicht wie damals, kaum gealtert . . . Ich habe ihn gefunden!
   Er antwortete ebenso konventionell: „As-salamu alaykum waalaykum as-salam lā ilāha illā huwa! Meine seligen Eltern haben mich sehr früh allein gelassen. In dir, Sidi, lebt ein ehrwürdiger Zeuge ewigen Andenkens und ihrer Zuneigung. Ich schätze mich glücklich, in dir einen zweiten Vater sehen zu dürfen.“ Adamyan unterdrückte ein Grinsen. Ein  ehrwürdiger Zeuge ewigen Andenkens . . . Es hatte einige Zeit angestrengten Zurückdenkens gebraucht, bis er diese verstaubten Redewendungen wieder parat hatte.
   Der Imam nickte. „Mein Sohn, ich stehe in deiner Schuld.“
   Damit war der offizielle Teil der Empfangszeremonie beendet. Auch ein heimlicher Lauscher wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich hinter den Floskeln Anspielungen auf konkrete Ereignisse verbargen.
   Der Alte führte seinen Gast zum Diwan und forderte ihn auf, sich zu setzen. Auf sein Händeklatschen hin erschien ein junger Diener und stellte ein graziles Serviertischchen auf, mit Kaffee, Zigaretten und Lokum, dem orientalischen Zuckerwerk, das man in Berlin mittlerweile in fast jeder zweiten Straße kaufen kann.
   Bis auf das ferne leise Rauschen eines unterirdischen Wasserfalls war es still. Die Weltabgeschiedenheit des weiß gekalkten, schmalen Raumes wurde noch durch seine asketische Möblierung betont: Ein mit Stapeln von Papier vollgestopftes Regal, ein Waschtisch und ein Gebetsteppich – das war im Wesentlichen alles, was sich dieser Mann an Komfort zubilligte.
   Der 'aba, als habe er bereits genug geredet, hüllte sich in Schweigen. Die Sitte befahl, das der Jüngere mit seinem Anliegen zu warten habe, bis der Ältere das Gespräch eröffne. Der indes schien nicht gesonnen, schon jetzt aus seiner halbdunklen Gedankenwelt in die Tageswirklichkeit zu wechseln. Nach einer Weile gab er dem Diener fast unmerklich ein Zeichen, worauf dieser seinem Herrn eine kleine Kassette überreichte. Er ließ sie aufspringen und nahm eine silberne Münze heraus, die er Adamyan überreichte.
   „Weißt du, was das da auf der Münze ist?“
   Adamyan besah sich die Münze. „Hmm . . . Irgendwie kommt mir das Profil bekannt vor. Aber im Augenblick . . . Nein, Sidi.“
   „Ich habe mich erkundigt. Es ist eine offizielle Probeprägung mit dem Bildnis Adolf Hitlers, und zwar ein Stück mit dem Reichsadler und der Wertangabe '5 Reichsmark'. Ein Bruder fand es, als er im Schutt wühlte.“ Wieder schwieg der Alte, wie in Gedanken versunken. Endlich fuhr er fort: „Dieser Hitler war ein guter Mann, einer der großen Führerfiguren der Geschichte, dem es gelungen ist, sich erst an die Spitze einer Partei und später an die Spitze Deutschlands zu setzen. Und er glaubte noch an den Sieg, als sich die halbe Welt gegen ihn verschworen hatte.“
   Da der Sidi schwieg, wandte Adamyan ein: „Hitler! Die Deutschen sind nicht gut auf ihn zu sprechen. Sie halten ihn für einen Kriegsverbrecher und Massenmörder.“
   Der Alte fuhr hoch. „Hat er gemordet oder seine Lakaien?“
   „Sidi, ich –“
    „Schweig!“ Die weiße, feingliedrige Hand des Alten fuhr durch das Halbdunkel der Klause. „Die Deutschen sind eine verstörte Nation, die in ihrer Vergangenheit nur das Schlechte sieht, und von Sühnelust durchdrungen wie ein ertapptes Kind! Dabei übersehen sie einen Friedrich, einen Goethe, einen Bismarck!“ Er schloss die Augen und rezitierte auf deutsch:

 „Dass Araber an ihrem Teil
Die Weite froh durchziehen,
Hat Allah zu gemeinem Heil
Der Gnaden vier verliehen.

Den Turban erst, der besser schmückt
Als alle Kaiserkronen;
Ein Zelt, das man vom Orte rückt,
Um überall zu wohnen;

Ein Schwert, das tüchtiger beschützt
Als Fels und hohe Mauern;
Ein Liedchen, das gefällt und nützt,
Worauf die Mädchen lauern.“

    Der 'aba verharrte wie verzaubert, bevor er weitersprach. „Hörst du, Sidi, dieser Goethe war uns  seelenverwandt! Wie auch sonst hätte er solche herrlichen Gedichte schreiben können, die den Vergleich mit den Versen al-Motamids, des 'Erhabenen', nicht zu scheuen brauchen.“
   Adamyan saß wie auf Kohlen. Er denkt nicht daran, zum Zweck meines Besuchs zu kommen. Tatsächlich fuhr der Alte fort: „Dieser Hitler war ein weiser Mann, denn er hat ein Bildnis gewählt, das keinen Schatten wirft. Du verstehst, was ich meine?“
   „Ich fürchte, nicht ganz, Sidi.“
   „Dann frage ich dich: Wie lautet der hundertzehnte Vers der fünften Sure?“
   „Vergib mir Vater, ich bin im Gegensatz zu dir kein großer Schriftenkenner und Schriftendeuter. Ich bin nur ein ungebildeter Irrläufer auf dieser verwirrenden Welt.“
    Al-Libwani lächelte verstehend. „Dann höre! Gott spricht zu Isa (Jesus): Als du mit meiner Erlaubnis aus Lehm etwas schufst, was so aussah wie Vögel, und in sie hineinbliesest, so dass sie mit meiner Erlaubnis wirkliche Vögel waren . . . Und ein Hadith des Prophetengefährten Abu Hureira besagt, dass Gott allein Schöpferkraft zukommt und derjenige frevelhaft ist, wer sich anschickt, so zu schaffen wie Gott schafft. Daraus ergibt sich, dass alles Bildwerk, das einen Schatten wirft, verwerflich ist und diejenigen, die diese Bildwerke verfertigen, am Tag der Auferstehung bestraft werden, denn sie werden nicht in der Lage sein, ihnen Leben einzuhauchen.“
   „Ich verstehe immer noch nicht, Sidi.“
   „Sei nicht voll Ungeduld, warte.“
   Dieses Thema machte dem Alten sichtlich Vergnügen, denn er setzte seine Belehrung mit angespannter Stimmlage fort: „Und gerade wegen dieser weisen Gesetze missachten viele Christen und Zionisten unseren Koran. Aber liegt nicht im Verbot aller Bildnerei, die Schatten wirft, eine hohe Einsicht? Mit der Nachahmung des Schöpfers und seiner Schöpfung fängt der rasende Hochmut des Menschen an, der zum Abgrund führt.“
   Des Alten offenbar angeschlagener Kehlkopf verhinderte ein Weitersprechen. Er räusperte sich ungeniert und nahm mit zwei Fingern seine Mokkatasse hoch, um ein wenig Kaffee zu schlürfen. Auch der Besucher trank; es wäre eine Beleidigung gewesen, das gastfreundliche Angebot zu verweigern. Der Schüler hütete sich, den Lehrer aus seiner Gedankenwelt zu brechen und schwieg. Doch als ihm das Schweigen zu lange dauerte, sagte er:

Der Kaffee muss so heiß sein,
wie die Küsse eines Mädchens am ersten Tag,
so süß, wie die Nächte in ihren Armen
und schwarz wie die Flüche der Mutter, wenn sie es erfährt.

   Der Alte nickte. „Ja so ist es!“, bestätigte er, „wie die Küsse eines Mädchens am ersten Tag . . .“  Dann fuhr er, sich selbst bestätigend, fort: „Die Menschen des Westens als freche Nachäffer Gottes verfallen immer mehr dem Atheismus. Sie suchen ihr Heil in rastlosen Reisen, im Anhäufen von Geld und Gut, in der Trunkenheit des Alkohols, in der Darstellung obszöner Handlungen, in der Anbetung technischer Götzen. Europa ist in einem miserablen Zustand aus Unmoral, Materialismus,  Korruption und Promiskuität. Nur der wahre Islam kann es aus diesem Elend befreien. Sie bekommen nie genug von alldem und müssen, Allah sei´s geklagt, deshalb dauernd Kriege führen, angefangen bei den Kreuzzügen bis hin zu dem, was jetzt in den Ländern passiert, die sie den Nahen Osten nennen. Europa wird keinen Lebensretter, kein Rettungsboot finden außer dem wahren Islam. Ich sage dir, Sohn, unsere Religion wird Europa erobern, allein schon wegen des ungebremsten Zustroms von Gläubigen. Allein ihre Anzahl wird die muslimische Moral in der Gesellschaft verbreiten, bis eine kritische Masse erreicht ist, die von selbst nach einem islamischen Staat ruft. Dann werden sich die Völker nach der Scharia sehnen, der höchsten Verfassung, die über jedem weltlichen Gesetz steht. Diese Ordnung Gottes ist als alternativlos, sie ist weder wählbar noch abwählbar. Und sie ist es wert, dass man dafür sein Leben aufs Spiel setzt.“
   In diesem Moment hatte Adamyan das Gefühl, dass sie nicht alleine waren. Da hat doch gerade jemand gehustet!
    Der 'aba lehnte sich ein wenig zurück. Seine zarten Finger spielten aufgeregt mit den Kugeln seiner Gebetskette. „Doch es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, dass diese Bekehrung mit einfachen Mitteln erreicht werden kann, wie es einige aus unseren Kreisen lehren. Das würde viel zu lange dauern, denn die Widerstände sind groß. Wir müssen sie aufrütteln, indem wir Zeichen setzten. Wir müssen ihnen zeigen, dass ihre Art zu leben ein Irrweg ist. Nicht mit vergifteten Dolchen wie in früheren Zeiten, auch nicht mit blutigen Selbstmordattentaten, sondern mit viel raffinierteren Methoden.“
   Der Alte hustete heftig, griff erneut zur Tasse und leerte sie bis auf den körnigen Bodensatz. „Das Klima hier unten bekommt mir nicht“, fuhr er endlich fort, „es ist mir deshalb völlig egal, ob ich jetzt sterbe oder erst in einem halben Jahr. Ich habe lange genug gelebt, um zu erkennen, dass es im Leben nicht auf die Länge ankommt, sondern auf die Erfüllung.“
   „Was aber hat dieser Hitler damit zu Tun?“, fragte der Besucher.
   Al-Libwani hielt die Münze mit der Kante ins Licht. „Siehst du sein Bildnis?“, fragte er.
   „Nein, ich sehe es nicht.“
   „Du siehst es nicht, weil es keinen Schatten wirft.“ Der Alte drehte die Münze um. „Und doch ist es da, so wie der Mann, den es darstellt, noch existiert. Er ist noch mitten unter uns, nur wir sehen ihn nicht, denn er wirft keinen Schatten. Auch er wollte die Welt verändern, das Faule abschneiden, das Schwache vernichten, das Große noch größer machen . . . allerdings mit ungeeigneten Mitteln, wie sich gezeigt hat. Die Bruderschaft hingehen –“    
   Adamyan versuchte einen Anlauf. „Sidi, entschuldige, dass ich dich unterbreche. Deine Worte höre ich mit Vergnügen, und ich würde ihnen gerne noch weiter lauschen, denn es sind die Worte eines Sufi. Doch der Grund deiner Einladung besteht doch nicht nur darin, mir die Vision eines weltumspannenden Islam vor Augen zu führen, sondern –“
   Der Alte lachte meckernd-dünn. „Natürlich nicht. Du willst wissen, ob die Geheime Brüderschaft deine Aufnahme befürwortet.“
   Adamyan richtete sich auf. „'aba, wie lautet das Urteil?“  
   Der Alte legte die Gebetskette weg und stand auf: „Komm morgen wieder, dann erfährst du es!“
    Adamyan ballte die Fäuste, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt.

  Als Adamyan den Raum verließ, wusste er, dass der Alte nicht Al-Libwani war, sondern ein ähnlich Aussehender, ein Doppelgänger oder Zwillingsbruder. Auf jeden Fall nicht der, für den er ins Gefängnis gewandert war. Der echte Al-Libwani war Arzt und Gelehrter gewesen, ein Effendi und bescheidener Mensch, der durch sein Vorbild auf die Jugend gewirkt hatte und nicht durch obskure Verschwörungstheorien und Weltuntergangsgequatsche. Und er musste inzwischen weit über die Siebzig sein. Dieser da war deutlich jünger. Er war ihm „alt“ vorgekommen, nicht wegen der Anzahl seiner Jahre – schon seine rosige Gesichtshaut sprach dagegen –  sondern wegen seines antiquierten Gehabes. Dieses archaische Begrüßungszeremoniell würde heute nicht einmal der Prophet benutzen. Er, Adamyan, hatte sich aus Höflichkeit darauf eingelassen, und weil er als Bittsteller gekommen war.
   Und er hatte damals nicht gehinkt. Denn kein Hinkender wird hinkend geboren . . . Aber die hohe Stimme . . . Die Augen in der Farbe gerösteter Maronen . . . Die Gelehrsamkeit . . .
   Nein nein nein! Der echte Al-Libwani  war nicht mit dem Gestank von Verboten gekommen sondern mit dem Duft des Frühlings. Deshalb soll ich ihn ja töten, denn sie fürchten ihn immer noch!
   Wer also ist dieser Mann?, grübelte er, als Erika und er, an stinkenden Wasserfällen und zischenden Sielen vorbei, sich dem „Asylantenheim“ näherten. Wenn er nicht Al-Libwani ist, wer ist er dann?
   Und wo ist der Echte?
   Auf einmal wurde Adamyam schwarz vor Augen; hätte ihn Erika nicht aufgefangen, wäre er gestürzt.
   Ich habe Nasir ad-Din völlig unnötig umgebracht!, hämmerte es in seinem Schädel, die Informationen, die sie mir gegeben haben, sind falsch . . . Aber dann . . .
  Plötzlich breitete er die Arme aus und rief: „Subhanna - Rabbeyal - Azzem - wal - Bi – haamdee –  Gepriesen sei mein Herr, der Erhabene.“ Er kniete nieder, und unter mehrmaligen Verbeugungen entquoll seinem Mund ein Schwall arabischer Laute.
   „Hey, Mann!“, rief Erika, die diese Pantomime mit wachsender Verwunderung beobachtete, „bist du krank?“
   Adamyan stand wieder auf. „Ich? Krank? Glaube mir: Ich war noch nie so gesund wie in diesem Moment! Allah hat mich gerade von einer furchtbaren Pflicht entbunden!“
F. f

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