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sleepless_lives
Schall und Wahn
 Administrator Alter: 57 Beiträge: 8135 Wohnort: München
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 25.05.2021 19:00 Gewinner:innen II: Der Aufbruchspreis von sleepless_lives
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Der Gewinner des Aufbruchspreises des neunten »Zehn Tage, zehntausend Zeichen«-Wettbewerbes ist:
Sorry, Michael Collins von holg
Wir gratulieren und wünschen auch weiterhin unbegrenzte Inspiration, Begeisterungsfähigkeit und Freude am Schreiben!
Begründung
Sorry, John Irving (nochmals), dass wir ein zentrales Motiv aus deinem Roman „The Hotel New Hampshire“ entwendet haben, um es zum Thema dieses Wettbewerbs zu machen. Wir waren fasziniert von der Mehrschichtigkeit des Motivs, der Vieldeutigkeit der offenen Fenster und der damit verbundenen Interpretationsvariabilität dessen, was es heißen kann, daran vorüberzugehen: Anteilnahme und Angebote oder deren Verweigerung, ungewolltes oder absichtliches Miterleben, Eindringen oder Herausdringen, die Entfernung einer Grenze, die Eröffnung von Unmittelbarkeit, Nähe, die jedoch nicht wahrgenommen wird; eine unschuldig oder gedankenlos verpasste Möglichkeit im buchstäblichen oder aber im übertragenen Sinne.
Und dann ist da natürlich noch die Bedeutung, die diese Wendung im Roman hat: Sie ist der oft wiederholte, wechselseitige Aufruf der Mitglieder der Familie Berry to keep passing the open windows, dem Sog zu widerstehen, der von offenen Fenstern ausgeht, und nicht mit einem Sprung sein Leben zu beenden. Im Buch basiert der Ausspruch auf einer apokryphen Geschichte über den „König der Mäuse“, einen Straßenkünstler, der mit dressierten Mäusen arbeitet und durch einen Sprung aus einem Fenster Selbstmord begeht. Er nimmt seine Tiere mit in den Tod in einer Schachtel, auf der steht „Life is serious, but art is fun.”
Eine bestechende Vielfalt der oben genannten Aspekte wird in „Sorry, Michael Collins“ angeschnitten. Einmal sind da Kim und Alex, die beiden gegensätzlichen Liebenden, die sich nicht nur in den Rollen, die sie jeweils in der Beziehung übernehmen, unterscheiden. Während Kim voller Kummer ist, kümmert sich Alex, trägt, was zu schwer wiegt, und steckt zurück, erzählt, lenkt ab, heitert auf, lässt eigene Möglichkeiten vorüberziehen, rät Kim aber zum Job in der Ferne.
Durch Covid-19 gestaltet sich die Fernbeziehung schwieriger als gedacht, es bleiben nur die spärlichen Eindrücke in fremde Leben. Kim insbesondere wird beim Spazierengehen durch Geräusche und Gerüche, die aus den offenen Fenstern dringen, schmerzlich daran erinnert, was nun nicht mehr da und möglich ist und was hätte sein können. Alex fehlt, aber Kim fängt nach und nach an, auch Dinge für sich allein zu entdecken. Ein Punkt, an dem die Beziehung vielleicht auf der Kippe steht.
Ganz besonders mit der Dramatik der Pandemie konfrontiert ist man natürlich, wenn man wie Alex auf der Intensivstation arbeitet. Hier erreicht die Isolation ihren traurigen Tiefpunkt: In genau den Momenten, in denen Abschied genommen werden muss und/oder psychische Unterstützung dringend benötigt wird und durch nichts zu ersetzen ist, ist sie unmöglich geworden, weil physische Nähe eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist.
Alex driftet unter der Belastung ins Dunkel einer Depression ab, doch Kim ist nun stark genug, ihn aufzufangen. Die räumliche Entfernung hat also nicht nur Negatives, sondern auch Raum zum Rollentausch, zur Weiterentwicklung eröffnet. Als Lesende wünschen wir beiden, dass sie diese Gelegenheit nutzen.
Der Text hat andererseits auch den Mut, neben dem kleinen Kosmos eines Paars die aktuelle Pandemie mit ihren Herausforderungen ebenso wie das große Thema existenzieller Einsamkeit anzugehen, und das tut er unauf-, aber doch sehr eindringlich, und dabei verweist er auch auf die rettende Kraft von Literatur bzw. von Kunst allgemein. Sie kann viel mehr als Zerstreuung sein, kann Halt bieten und dabei helfen, Schmerzliches und die Konfrontation mit ungekannten traumatischen Situationen zu bearbeiten. Sie verbindet, erlaubt zu erinnern, erlaubt in Referenzen das auszusprechen, was sonst nur schwer sagbar wäre: Das ist nicht alles, jetzt ist nicht alles, halte durch!
Der Text greift außerdem den Tod des Astronauten Michael Collins im April dieses Jahres auf, der beim ersten bemannten Mondflug (Apollo 11, 1969) im Orbit verblieb, während seine zwei Kollegen zu Mondoberfläche flogen. Collins selbst hat es später eher heruntergespielt, aber das Log der NASA verzeichnete den Eintrag “Not since Adam has any human known such solitude as Mike Collins is experiencing during this 47 minutes of each lunar revolution” (Quelle). Der Text sieht die gleiche Einsamkeit in den Covid-19-Patienten auf der Intensivstation, die nicht besucht werden können, und die, wenn sie für die maschinelle Beatmung sediert werden, auf „die dunkle Seite des Mondes“ geschickt werden. Ein starkes Bild.
„Sorry, Michael Collins“ gelingt es, das ernste Thema in einer frischen, ein wenig an die Beatniks bzw. Popliteratur erinnernden Sprache zu vermitteln, ohne dass Empathie dabei verunmöglicht wird. Der teils elliptische, nie zu viel erklärende Stil gefällt; zahlreiche intertextuelle Verweise ermöglichen ein Nachspüren über das erste und zweite Lesen hinaus. Die Verwendung geschlechtsneutraler Namen sowie der Verzicht auf Pronomen ist dabei ein interessantes, aktuelle Debatten indirekt aufgreifendes Experiment und ein weiteres eingegangenes Risiko (die Gefahr der Reduzierung der individuellen Konkretheit der Figuren). Es gibt Lesenden die Gelegenheit, eigene Vorannahmen kritisch zu prüfen und unterstützt auch gut den angedeuteten Rollentausch.
Ach ja, und dann ist da noch Iggy Pop, der zu Dr Pop wird. Yes, art is fun.
Das Organisationsteam
(Bananenfischin und sleepless_lives)
_________________ Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)
If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright) |
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Constantine
Bücherwurm

Beiträge: 3579
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 25.05.2021 19:10
von Constantine
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Lieber holg,
gratuliere zum Zehntausender 2021-Double: Publikums- und Aufbruchpreis der Jury.
Feier deinen doppelten Erfolg, ich hebe mein Glas und neige mein Haupt.
Cheers.
Constantine
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Nihil { }
 Moderator Alter: 33 Beiträge: 7629
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 25.05.2021 19:13
von Nihil
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Ja, dann sach ick doch ma Jlückwunsch zu'n Doppeljewinn, wa! Muss man ooch ersma hinbekomm, alle durche Bank wech zu bezirzen. Un jetz: mit Schmackes ran annen Speck! Nochma mit „Uff Punkt“ antworten lass ick nehmlich nich mar jelten.
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holg
Exposéadler
 Moderator
Beiträge: 2327 Wohnort: knapp rechts von links
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 25.05.2021 20:08
von holg
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Boah Leute.
Ich bin platt. Sitze im Pubquiz (virtuell via Zoom und Internet) und kann es einerseits kaum fassen, andererseits fühle ich den Text und auch mein Anliegen sowohl in der fantastischen Laudatio als auch in den vielen wertschätzenden Kommentaren zutiefst verstanden und wohlwollend angenommen.
Erstmal Danke. Danke. Danke dafür.
Bleibt weg von offenen Fenstern! (wie das Thema in meiner Uraltübersetzung des Romans heißt)
Holg
_________________ Why so testerical? |
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V.K.B.
[Error C7: not in list]
 Alter: 50 Beiträge: 6058 Wohnort: Nullraum
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 25.05.2021 20:27
von V.K.B.
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Glückwunsch nochmal auch von mir! Da waren sich Publikum und Jury ja mal einig. War aber auch ein toller Text.
_________________ Warning: Cthulhu may occasionally jumpscare people … |
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d.frank
Reißwolf
D Alter: 44 Beiträge: 1250 Wohnort: berlin
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D 25.05.2021 20:30
von d.frank
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All we're looking for is love and a little light
_________________ Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer |
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hobbes
Tretbootliteratin
 Moderatorin
Beiträge: 4643
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 25.05.2021 21:33
von hobbes
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Herzlichen Glückwunsch auch hier!
_________________ Don't play what's there, play what's not there.
Miles Davis |
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anderswolf
Reißwolf

Beiträge: 1085
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 26.05.2021 09:23
von anderswolf
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So toll ich es gefunden hätte, wenn nicht nur Männer in diesem Wettbewerb gewinnen, so eindeutig war es ja wohl, dass holg gewinnen musste, weil wie könnte dieser Text nicht gewinnen?
Herzlichen Glückwunsch!
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psi Leseratte

Beiträge: 128
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 26.05.2021 13:03
von psi
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Herzlichen Glückwunsch, dass dein Text so fantastisch geworden ist und so viele Lesys berührt hat! Ach ja, und auch dafür, dass er dann noch alle Preise abgeräumt hat, natürlich :)
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Jenni
Papiertiger

Beiträge: 4323
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 26.05.2021 18:01
von Jenni
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Holg, auch hier noch mal herzlichste Glückwünsche zum doppelten Erfolg. Da ist dir schon ein großer Coup gelungen, mit diesem Text!
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Heidi
Reißwolf
H Alter: 42 Beiträge: 1499 Wohnort: Hamburg
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H 26.05.2021 21:41
von Heidi
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Wow, holg!
Herzlichen Glückwunsch auch hier noch mal!
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nebenfluss
Show-don't-Tellefant

Beiträge: 5627 Wohnort: mittendrin, ganz weit draußen
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 28.05.2021 15:15
von nebenfluss
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Natürlich auch von mir herzlichen Glückwunsch noch an holg zur Doppelverglasung.
_________________ "Ich bin Ethan Figman. Ich bin der Trickfilmberater Ihrer Tochter, Mrs Jacobsen."
(Meg Wolitzer, "Die Interessanten")
"Seit ich weiß, dass bald Jüngstes Gericht ist, hab ich ganz viel Zeit."
(Klemens_Fitte, auf dsfo.de) |
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Kiara
Reißwolf
 Alter: 43 Beiträge: 1645 Wohnort: bayerisch-Schwaben
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 28.05.2021 20:00
von Kiara
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Gratuliere, lieber holg
_________________ Zum Schweigen fehlen mir die Worte.
- Düstere Lande: Das Mahnmal (2018)
- Düstere Lande: Schatten des Zorns (2020)
- Düstere Lande: "Band 3" in Arbeit (2023) |
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