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Autor |
Nachricht |
anderswolf Reißwolf
Beiträge: 1069
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21.05.2021 14:50
von anderswolf
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Ab in den Leichenwagen. Oder: Langenscheidts Niedergang.
Kurz vor dem Tod, heißt dieses andere Klischee, ziehe noch einmal das gesamte Leben am sterbenden Menschen vorbei. Und manchmal ist dieses Leben, das da vorbeizieht auch nur ein Klischee dessen, was ein Leben vielleicht ausmacht. Denn ein Leben ist ja mehr als das, was wir davon behalten.
Die Kunst beim Schreiben ist wohl, die Details einzufangen, die das Klischee übersieht, die unwahrscheinlich, unerwartet, unerinnert bleiben.
Hier, leider, begleiten wir jemanden durch ein Klischee, und es beginnt damit, dass Herr Langenschmidt - ich will dauernd Langenscheidt lesen und frage mich dann, ob der Text eigentlich eine Meta-Ebene haben könnte, wo der alkoholbedingte Niedergang der Sprache angedeutet wird, aber dann erinnere ich mich daran, dass nicht alles, was in meinem Kopf ist, auch auf dem Papier oder Bildschirm steht -; dass Herr Langenschmidt also neben einer dreckigen Unterhose und einem kaputten Smartphone aufwacht. Trinken, heißt es, ist nur dann unbedenklich, wenn es in guter Gesellschaft geschieht, also ist recht klar schon im zweiten Satz, dass dieses Trinken eher bedenklich war. Wir erfahren, dass das Handy Herrn Langenschmidt gehört, die Besitzfrage der Unterhose bleibt ungeklärt. Auch die Frage nach der Art des Schmutzes. Ist die Unterhose einfach nur lange getragen oder ist sie anderweitig verschmutzt, wurde sie vielleicht benutzt, um irgendwas aufzuwischen, wurde sie ausgezogen, weil sie im Weg war, hat Herr Langenschmidt etwas damit zu tun, hat er selbst noch eine andere Unterhose an oder ist das die Unterhose, die er eigentlich anhaben müsste? Oder eben nicht, weil sie ist ja dreckig. Aber wahrscheinlich ist das egal, das Klischee sagt, Säufer müssten in ihrer dreckstarrenden Wohnung aufwachen, wenn der Suff vorbeigeht und sich dann wundern, wem die schmutzige Kleidung gehört. Oder vielleicht wundern sie sich auch nicht, wer weiß.
Vor über zehn Jahren saß ich knapp drei Stunden neben meiner Nachbarin auf der Treppe, während wir auf ihre Schwester warteten, die einen Schlüssel zur Wohnung hatte. Meine Nachbarin, die es sich angewöhnt hatte, beim Trinken auf Gesellschaft komplett zu verzichten, hatte stockbesoffen bei mir geklingelt und mich gefragt, ob ich ihr die Tür aufmachen könnte, sie hatte allerdings keinen Schlüssel dabei, sondern nur ihren Korkenzieher. Ich hatte dann die Schwester angerufen, es war ja nicht der erste Vorfall gewesen. Während wir warteten, erzählte mir meine Nachbarin viel zu viel von ihrem viel zu traurigen Leben. Oder versuchte es, denn sie verlor dauernd den Faden, verirrte sich dauernd in ihren eigenen Gedanken, wie sie sich wahrscheinlich auch in ihrem eigenen Leben schon längst verirrt hatte. Was sie letztlich sagte und mir auch ihre Schwester bestätigte: alles, was sie je gewesen war, zerfiel, wurde nur zusammengehalten von der dünnen Haut eines Menschen.
Und dann war schließlich auch diese dünne Haut nicht mehr stark genug.
Ich kann den Text, den ich kommentieren und bewerten soll, darum nicht glauben. Er will mir irgendwas verkaufen, das ich nicht haben will. Dass Herr Langenschmidt in seinem alkoholischen Delirium irgendwo hinkotzt, geschenkt. Dass er seinen Suffstoff im Edeka kauft, klar, das kenne ich vom Supermarkt hier um die Ecke und klar kenne ich auch die alten Männer, die dann irgendwo halbverschämt in der Ecke stehen und einsam ihr Bier trinken (morgens um zehn).
Aber was ich bei keinem dieser ganzen Säufer bislang mitbekommen habe , und was ich also überhaupt nicht glauben kann und will, ist der Tonfall, in dem mir der Herr Langenschmidt als Ich-Erzähler von seinem Suff erzählt.
Und nein, ich will eigentlich auch keine Geschichte im fadenverlierenden Tonfall des Säufers hören. Vielleicht wäre das hier besser gewesen in einer neutraleren Perspektive als dem Ich-Erzähler. Aber im Grunde ist auch dann nichts zu retten hier für mich, weil mich das einfach so nicht berührt und ich will davon auch nicht berührt werden.
Und dann hilft auch dieser Satz nicht, bei dem ich gar nicht weiß, was er mir sagen soll: "Ich ließ von mir ab und sah: ein dunkles Moloch und ein Obdachloser, der blau angelaufen vor mir lag."
Denn es heißt entweder "der Moloch" oder nur "Moloch", und in beiden Fällen ist es etwas anderes als das, was hier wahrscheinlich darunter verstanden wird, und ich habe das Gefühl, dass das symptomatisch ist.
Keine Punkte.
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holg Exposéadler
Moderator
Beiträge: 2396 Wohnort: knapp rechts von links
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21.05.2021 20:01
von holg
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Alki sieht im Rausch sein Leben als Blicke durch Fenster an sich vorüber ziehen.
Das ist zunächst eine coole Herangehensweise ans Thema. Am Anfang wird ein bisschen viel erzählt, wie es soweit kam. Auch bringe ich die Sprache nicht mit dem Sprecher überein. Das ist immerhin Ich-Perspektive, der Typ ist volltrunken. Dazu ist mir das zu klar und bewusst.
Daher schafft der Text es nicht in meine Top Ten.
Aber wie cool hätte der Titel sein können, ohne das "und".
Kalte Mauern, warmes Holz, zerbrochenes Glas
Das ist ein Titel.
_________________ Why so testerical? |
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Longo Klammeraffe
L Alter: 34 Beiträge: 890
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L 24.05.2021 20:32
von Longo
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Danke für eure Kommentare.
Einige gute Bewertungen waren ja dabei, das freut mich.
Da ich nur selten so lange Texte schreibe und leider immer (!) Flüchtigkeitsfehler einbaue, egal, wie viel ich Korrektur lese, gehen die ein, zwei Fehler auf meine Kappe.
Zu den Kritikpunkten: Ich kann sie nachvollziehen.
Ich würde gerne anders schreiben, aber der "alte" Longo sitzt mir im Genick und will gerne überspitzen, pervertieren und mit Klischees spielen. Das macht mir Freude - wobei mir das Verfassen dieses Textes schon viel emotional abverlangt hat, weil Versatzstücke auch mich betreffen - niemand schreibt einen Text abgekapselt von sich selbst. Mich hat mein Text stark beschäftigt; warum begebe ich mich in diese Abgründe, wenn doch alles offensichtlich in Ordnung ist, was treibt mich? Ich habe im Nachgang viel über mich selbst nachgedacht: Was macht glücklich, was macht zufrieden? Von daher hat mir der Text selbst viel gebracht. Und das ist wiederum meine Schwäche: Ich denke an Texten zu viel an mich und als zweites erst an die Leser.
MFG Longo
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3311
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26.05.2021 09:23
von Constantine
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Longo hat Folgendes geschrieben: | Und das ist wiederum meine Schwäche: Ich denke an Texten zu viel an mich und als zweites erst an die Leser. |
Was ist daran auszusetzen?
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