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Jemandsland


 
 
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Justadreamer
Geschlecht:männlichLeseratte
J

Alter: 26
Beiträge: 196
Wohnort: Bayern


J
Beitrag30.01.2021 18:46
Jemandsland
von Justadreamer
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Jemandsland

Nachzudenken und die Freude zu spüren, dass sich ein Gedanke – klein erst, dann immer größer, mächtiger werdend – im Kopf einnistet, das Hochgefühl, eine Idee aus der Dunkelheit ins Licht zu bringen – das alles lag eine Ewigkeit zurück.
Ich starre auf meine Hände, die wie die Skelette zweier gestrandeter Wale auf dem sandfarbenen Resopaltisch liegen. Sie sind komplett frei von kleinen Wunden oder Kratzern, die Finger weiß; rippenbogengleich ragen sie aus meinem schwarzen Pullover. Ich bewege sie nicht. Es ist eine Sache, sich auf seine Hände zu konzentrieren, Menschen tun das ständig. Bei der Arbeit, beim Sport – man konzentriert sich auf seine Hände, auf andere Hände, aber das wichtigste ist: man konzentriert sich auch darauf, was man tut. Ich stattdessen beobachte. Stehe abseits von mir selbst und blicke in stummer Erwartung auf die Hände, die mich, so gut sie mir schon gedient hatten, nun nicht mehr mit Taten beschenken wollen.
Dabei war nichts passiert. Nichts war passiert, was meinen Händen einen Grund dafür gegeben hätte, mit den Wundertaten aufzuhören, die sie sonst wie Sternstaub aus der Luft griffen. Vor einigen Jahren erst sind wir in dieses Haus gezogen, Du und ich hatten alles mitgenommen, was uns wichtig war. Bis auf Silberblitz, unser bald schrottreifes Auto und ein paar verhutzelte Möbelstücke aus der alten WG hatte es jedoch nicht viel gegeben. Beim Gedanken an das Auto blicke ich auf eine kleine Narbe, die sich um meinen Zeigefinger windet und in der Dunkelheit unter der Handfläche verschwindet. Es hatte sich herausgestellt, dass das Berühren möglichst vieler Baumarten während der Fahrt äußerst schmerzhaft ausgehen konnte. In Gedanken schüttle ich den Kopf über die Dummheit vergangener Tage, die Bewegung selbst bleibt aus. Meine Narbe zuckt noch einmal kurz von meinem Zeigefinger in meinen Kopf, dann hört sie auf zu sein.
Du sitzt und denkst. Du sitzt und denkst, dass jeden Moment eine Glocke läuten könnte und eine Stimme erschallt: „Bitte nehmen Sie die Hände hinter den Kopf – Ihr Leben wird nun bewertet.“ Die Stimme kommt allerding nicht. Du wartest schon lang auf diese Stimme, hast Angst, dass sie zu früh kommt. Wenn sie aber gar nicht ertönte, was dann? Würdest du immer weiter Angst haben müssen? Egal. Du blätterst um.
Auf deinem stilvollen, weißen Schreibtisch stapelt sich nichts Unnützes. Trotzdem muss sich die Tasse Tee am äußersten Rand zu Heftklammern und einem neuen Locher ohne Geschichte gesellen. Unter dem Tisch hast du fein säuberlich eine Wärmflasche auf deine Hausschuhe gelegt, die Füße zu umschmeicheln. Über deinen Beinen breitet eine kuschlige Decke ihre Flügel aus. Nur deine Hände verraten, was du fühlst. Wie Ameisen unter einer Lupe schwirren sie umher und blättern Buchseiten um. Sie fahren über wichtige Zeilen und Staub, kritzeln schlampig selbst auferlegte Tätigkeiten auf Zettel und schreiben fein säuberlich Gedanken anderer Personen auf dickes Papier. Es sind diese Stunden, die dir wie Jahre vorkommen und an die du dich doch nie erinnern kannst. Du versuchst, diese Stunden mit der Wärmflasche zu schmelzen, mir der Decke zuzudecken oder mit dem Tee zu verbrühen, aber deine Hände können dem Gefühl nicht entfliehen, direkt im Brennpunkt dieser allgegenwärtigen Lupe zu stehen. Du sitzt und denkst an nichts, denn die Arbeit frisst die Gedanken, die schüchtern in den Geist treten, um dich in den Winterstunden zu wärmen.
Es ist dreiundzwanzig Uhr. Wir sitzen in der Küche. Obwohl von draußen nur der matte Schimmer einer entfernten Laterne durchs Fenster kriecht, ist das Licht nicht eingeschaltet. In seinem schwarzen Pullover sieht er älter aus, denkst du. Die Wahrheit ist, dass die Schatten in meinem Gesicht nicht nur von der Laterne stammen. Ich nehme einen Schluck Kaffee, von dem ich sage, ich könne ohne ihn nicht einschlafen. Du nippst an deinem kalt gewordenen Tee; während der Arbeit hast du ihn nicht angerührt.
Wie in Zeitlupe senkt sich dein Kopf in Richtung Tischplatte. „Heute schon fertig mit der Arbeit?“, frage ich. Ein langgezogenes „mhhh“ entweicht dir, aber ich verstehe. „Nein, aber für heute höre ich auf. Dann muss ich morgen eben etwas früher aufstehen“, bedeutet das. Ich habe meine Hände wieder auf dem Tisch abgesetzt; selbst im Halbdunkel kann ich die Blicke nicht von ihnen lassen. „Ich hab‘ vorhin mal kurz in dein Arbeitszimmer geschaut“, stelle ich fest. „Das ist so sauber, man könnte meinen, da lebt niemand drin.“
Dein Kopf war mittlerweile zur Brust gesunken: „Stimmt ja auch. Ich arbeite da.“ Ich deute in Gedanken ein Lachen an und blase etwas Luft aus der Nase. „Wo lebst du dann, wenn du nie aus dem Zimmer gehst?“, frage ich leise, aber es ist eine Feststellung. Du bist so müde und wirkst in diesem Moment wie ein verletztes Tier. Dein Kopf berührt nun fast die Tischplatte. Instinktiv strecke ich meine Hände aus – du legst deinen Kopf mit einem Seufzen ab. Deine schwarzen Haare verdecken das Weiß besser als die Nacht. Ich kann meinen Beobachtungen nicht mehr nachgehen, denn anstatt der Hände liegst du nun da. Völlig erschöpft, mitten in der Nacht auf dem Küchentisch, zwischen zwei Welten, deinem Arbeitszimmer und meinem. Ich schüttle belustigt den Kopf.
„Lass uns hier schlafen“, murmelst du und streckst deine Arme über den Kopf in meine Richtung. Deine Finger berühren kühl meine Oberarme und pressen sich mit schlaftrunkener Schwäche in die Muskulatur.
Als wäre ich ein besonders weiches Kissen, reibst du deine Wange tiefer in meine Handflächen. Die Berührung zuckt durch meine Arme ins Herz und bleibt dort haften. Vorsichtig berühre ich mit meiner Stirn dein Haupt und lasse dich in das Niemandsland meiner Gedanken eintauchen.
Lange sage ich nichts.
„So kann ich meinen Kaffee nicht mehr trinken“, bringe ich heraus.
Du weißt, dass ich sagen will: „Ich liebe dich.“

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Bananenfischin
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Beitrag31.01.2021 12:27

von Bananenfischin
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Was für ein Einstieg, was für ein Ende. Ein toller Text, auf gute Art eigen, das will ich schon mal festhalten.
Den frischen Ton hältst du allerdings nicht durchgehend durch, teilweise klingt der Text ein bisschen altmodisch bis kitschig, und ich denke, er gewönne, wenn du diese Stellen anpassen/rausnehmen würdest. Wenn du magst, zeige ich dir später oder morgen gern, was ich konkret meine.
Ich bin jedenfalls froh, hier reingelesen zu haben. smile

Liebe Grüße
Bananenfischin


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Justadreamer
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Beitrag31.01.2021 16:56

von Justadreamer
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Hallo Bananenfischin

danke für deine Rückmeldung.
Ja, doch, für die eine oder andere Überarbeitung bin ich gerne zu haben!

Da der Text eher durch seine Ruhe als durch seine Handlung funktionieren soll, sind etwas eingestaubte Passagen zwar quasi vorprogrammiert, aber ein eingestaubtes Buch in einem verlassenen, mystischen Ort ist sicher interessanter als eine eingestaubte Küchenzeile Laughing

LG
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marinaheartsnyc
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Beitrag01.02.2021 14:03
Re: Jemandsland
von marinaheartsnyc
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Hallo Justadreamer,

und wow, was für ein toller Text! Gefällt mir richtig richtig gut, und ist einer dieser Texte, die man unzählige Male lesen kann und dann immer noch ein neues Detail oder eine neue Bedeutung irgendwo entdeckt. Deshalb habe ich auf den ersten Blick auch weder sprachlich noch inhaltlich gesehen etwas zu kritisieren. Wenn ich ganz genau hinschauen würde, gäbe es bestimmt ein oder zwei Dinge, die man vielleicht noch besser machen könnte, aber irgendwie mag ich das gar nicht tun, weil der Text dann für mich ein bisschen was von seiner Magie einbüßen würde angel
Danke fürs Teilen!

Viele Grüße
Marina


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Bananenfischin
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Beitrag01.02.2021 19:17
Re: Jemandsland
von Bananenfischin
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Hallo Justadreamer,

okay, dann zeige ich dir, was mir auffällt. Vertipper und so etwas habe ich nicht weiter beachtet, ich konzentriere mich auf Stilistisches und Inhaltliches. Bei meinen Anmerkungen bemühe ich mich darum, nicht nur nach meinem Empfinden zu gehen, sondern sie im Sinne des Texts als Ganzes zu formulieren. Schau einfach, was du annehmen magst.

Justadreamer hat Folgendes geschrieben:
Jemandsland

Nachzudenken und die Freude zu spüren, dass sich ein Gedanke – klein erst, dann immer größer, mächtiger werdend – im Kopf einnistet, das Hochgefühl, eine Idee aus der Dunkelheit ins Licht zu bringen – das alles lag eine Ewigkeit zurück. (Toller erster Satz, aber warum "lag" und nicht "liegt"? Auch später rutschst du ein paarmal ins Präteritum)
Ich starre auf meine Hände, die wie die Skelette zweier gestrandeter Wale auf dem sandfarbenen (Man könnte überlegen, ob das Wort nötig ist, denn die Sandfarbe denkt man bei den gestrandeten Walen schon mit) Resopaltisch liegen. Sie sind komplett frei von kleinen Wunden oder Kratzern, die Finger weiß; rippenbogengleich ragen sie aus meinem schwarzen Pullover (Schief. Wo ist der Handteller, frage ich mich hier. Im Pulli? Aber vorher wurden "die Hände" angestarrt, nicht nur die Finger.) Ich bewege sie nicht. Es ist eine Sache, sich auf seine Hände zu konzentrieren, Menschen tun das ständig. (Nicht wirklich, oder? Die Hände verrichten ihre Arbeit doch meist automatisch, darum wirkt das auf mich nicht stimmig. Ich würde alles dazu komplett streichen. Allerdings werden Hände auch später wieder wichtig. Hm. Vielleicht die Bewegungslosigkeit noch mehr ausführen?) Bei der Arbeit, beim Sport – man konzentriert sich auf seine Hände, auf andere Hände, aber das wichtigste ist: man konzentriert sich auch darauf, was man tut. Ich stattdessen beobachte. Stehe abseits von mir selbst und blicke in stummer Erwartung auf die Hände, die mich, so gut sie mir schon gedient hatten, nun nicht mehr mit Taten beschenken wollen.
Dabei war (Hier und an anderen Stellen: Streng genommen müsstest du bei Präsens als Erzähltempus Perfekt für Vorzeitiges verwenden) nichts passiert. Nichts war passiert, was meinen Händen einen Grund dafür gegeben hätte, mit den Wundertaten aufzuhören, die sie sonst wie Sternstaub (die "Wundertaten" gefallen mir noch, weil sie wie das spätere "verhutzelt" Eigenart der Figur sein könnten, der "Sternstaub" ist mir zu dick aufgetragen.) aus der Luft griffen. Vor einigen Jahren erst sind wir in dieses Haus gezogen, Du (klein) und ich hatten alles mitgenommen, was uns wichtig war. Bis auf Silberblitz (Der Name des Autos passt für mich nicht zum Rest, nicht zur Figur. Etwas Besonderes, ein Pärcheninsider, wäre da schöner.), unser bald schrottreifes Auto und ein paar verhutzelte Möbelstücke aus der alten WG hatte es jedoch nicht viel gegeben. Beim Gedanken an das Auto blicke ich auf eine kleine Narbe (Durch die Beschreibung oben habe ich mir die Hände makellos vorgestellt; dadurch entsteht jetzt Irrititation. Um das zu vermeiden, könntest du oben "frei von frischen ..." schreiben.) die sich um meinen Zeigefinger windet und in der Dunkelheit unter der Handfläche verschwindet. Es hatte sich herausgestellt, dass das Berühren möglichst vieler Baumarten während der Fahrt äußerst schmerzhaft ausgehen konnte. (Das Berühren möglichst vieler Baumarten ... Tolle Idee, die mich für die Figur einnimmt!) In Gedanken schüttle ich den Kopf über die Dummheit vergangener Tage, die Bewegung selbst bleibt aus. Meine Narbe zuckt noch einmal kurz von meinem Zeigefinger in meinen Kopf, dann hört sie auf zu sein.
Du sitzt und denkst. Du sitzt und denkst, dass jeden Moment eine Glocke läuten könnte und eine Stimme erschallt: „Bitte nehmen Sie die Hände hinter den Kopf – Ihr Leben wird nun bewertet.“ Die Stimme kommt allerding nicht. Du wartest schon lang auf diese Stimme, hast Angst, dass sie zu früh kommt. Wenn sie aber gar nicht ertönte, was dann? Würdest du immer weiter Angst haben müssen? Egal. Du blätterst um.
Auf deinem stilvollen, weißen Schreibtisch stapelt sich nichts Unnützes. Trotzdem muss sich die Tasse Tee am äußersten Rand zu Heftklammern und einem neuen Locher ohne Geschichte gesellen. Unter dem Tisch hast du fein säuberlich eine Wärmflasche auf deine Hausschuhe gelegt, die Füße zu umschmeicheln. (Ich würde den Satz nach "gelegt" beenden, der Rest ist mir wieder zu viel.) Über deinen Beinen breitet eine kuschlige Decke ihre Flügel ("die Fügel": mir zu kitschig) aus. Nur deine Hände verraten, was du fühlst. Wie Ameisen unter einer Lupe schwirren (das Bild finde ich leicht schief, weil zu chaotisch für das Arbeiten am Schreibtisch) sie umher und blättern Buchseiten um. Sie fahren über wichtige Zeilen und Staub, kritzeln schlampig selbst auferlegte Tätigkeiten auf Zettel und schreiben fein säuberlich Gedanken anderer Personen auf dickes Papier. Es sind diese Stunden, die dir wie Jahre vorkommen und an die du dich doch nie erinnern kannst. Du versuchst, diese Stunden mit der Wärmflasche zu schmelzen, mir der Decke zuzudecken oder mit dem Tee zu verbrühen, aber deine Hände können dem Gefühl nicht entfliehen, direkt im Brennpunkt dieser allgegenwärtigen Lupe zu stehen. (Schön!) Du sitzt und denkst an nichts, denn die Arbeit frisst die Gedanken, die schüchtern in den Geist treten, um dich in den Winterstunden zu wärmen.
Es ist dreiundzwanzig Uhr. Wir sitzen in der Küche. Obwohl von draußen nur der matte Schimmer einer entfernten Laterne durchs Fenster kriecht, ist das Licht nicht eingeschaltet. In seinem schwarzen Pullover sieht er älter aus, denkst du. Die Wahrheit ist, dass die Schatten in meinem Gesicht nicht nur von der Laterne stammen. Ich nehme einen Schluck Kaffee, von dem ich sage, ich könne ohne ihn nicht einschlafen. Du nippst an deinem kalt gewordenen Tee; während der Arbeit hast du ihn nicht angerührt.
Wie in Zeitlupe senkt sich dein Kopf in Richtung Tischplatte. „Heute schon fertig mit der Arbeit?“, frage ich. Ein langgezogenes „mhhh“ entweicht (vielleicht anders formulieren, "entweicht" klingt altmodisch) dir, aber ich verstehe. „Nein, aber für heute höre ich auf. Dann muss ich morgen eben etwas früher aufstehen“, bedeutet das. Ich habe meine Hände wieder auf dem Tisch abgesetzt; selbst im Halbdunkel kann ich die Blicke nicht von ihnen lassen. „Ich hab‘ vorhin mal kurz in dein Arbeitszimmer geschaut“, stelle ich fest. „Das ist so sauber, man könnte meinen, da lebt niemand drin.“
(Alles ab hier: Toll. Besonders die letzten beiden Sätze. Oder dass die Hände wieder eine Aufgabe bekommen. Den Begriff "Haupt" könntest du überdenken, weil auch recht altmodisch, allerdings finde ich, dass er eigentlich gut zu der zärtlichen Situation passt) Dein Kopf war mittlerweile zur Brust gesunken: „Stimmt ja auch. Ich arbeite da.“ Ich deute in Gedanken ein Lachen an und blase etwas Luft aus der Nase. „Wo lebst du dann, wenn du nie aus dem Zimmer gehst?“, frage ich leise, aber es ist eine Feststellung. Du bist so müde und wirkst in diesem Moment wie ein verletztes Tier. Dein Kopf berührt nun fast die Tischplatte. Instinktiv strecke ich meine Hände aus – du legst deinen Kopf mit einem Seufzen ab. Deine schwarzen Haare verdecken das Weiß besser als die Nacht. Ich kann meinen Beobachtungen nicht mehr nachgehen, denn anstatt der Hände liegst du nun da. Völlig erschöpft, mitten in der Nacht auf dem Küchentisch, zwischen zwei Welten, deinem Arbeitszimmer und meinem. Ich schüttle belustigt den Kopf.
„Lass uns hier schlafen“, murmelst du und streckst deine Arme über den Kopf in meine Richtung. Deine Finger berühren kühl meine Oberarme und pressen sich mit schlaftrunkener Schwäche in die Muskulatur.
Als wäre ich ein besonders weiches Kissen, reibst du deine Wange tiefer in meine Handflächen. Die Berührung zuckt durch meine Arme ins Herz und bleibt dort haften. Vorsichtig berühre ich mit meiner Stirn dein Haupt und lasse dich in das Niemandsland meiner Gedanken eintauchen.
Lange sage ich nichts.
„So kann ich meinen Kaffee nicht mehr trinken“, bringe ich heraus.
Du weißt, dass ich sagen will: „Ich liebe dich.“


Liebe Grüße
Bananenfischin


_________________
Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

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Gast







Beitrag01.02.2021 19:50
Re: Jemandsland
von Gast
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Hallo Justadreamer,

einer der Texte, die ich sehr gerne gelesen habe, obwohl ich ihn sicher nicht verstanden habe. Du entfaltest da einen ganz persönlichen Stil, der mir gefällt. Und das Ende finde ich famos.
Ein paar stilistische Änderungsvorschläge, die ich der Einfachheit halber direkt in den Text schreibe. Vielleicht kannst du etwas davon gebrauchen.
LG
DLurie


Justadreamer hat Folgendes geschrieben:
Jemandsland
...
Es ist eine Sache, sich auf seine Hände zu konzentrieren, Menschen tun das ständig. Bei der Arbeit, beim Sport – man konzentriert sich auf seine Hände, auf andere Hände, aber das wichtigste ist: man konzentriert sich auch darauf, was man tut. Ich stattdessen beobachte. Stehe abseits von mir selbst und blicke in stummer Erwartung auf die Hände, die mich, so gut sie mir schon gedient hatten, nun nicht mehr mit Taten beschenken wollen.
Die Menschen konzentrieren sich ständig auf ihre oder die Hände anderer, aber sie konzentrieren sich vor allem darauf, was die Hände tun. Ich dagegen beobachte sie nur. Blicke sie an, in stummer Erwartung, meine Hände, die mir bisher immer gut gedient haben, mich nun aber nicht mehr mit Taten beschenken wollen.   
...
 
Es hatte sich herausgestellt, dass das Berühren möglichst vieler Baumarten während der Fahrt äußerst schmerzhaft ausgehen konnte.
Der Versuch, möglichst viele Baumarten während der Fahrt zu berühren, kann schmerzhaft enden.

...
Die Stimme kommt allerding(s) nicht.
Doch die Stimme kommt nicht.
Du wartest schon lang auf diese Stimme, hast Angst, dass sie zu früh kommt. Wenn sie aber gar nicht ertönte, was dann? Würdest du immer weiter Angst haben müssen? Egal. Du blätterst um.
Auf deinem stilvollen, weißen Schreibtisch stapelt sich nichts Unnützes. Trotzdem (warum: trotzdem?)  muss sich die Tasse Tee am äußersten Rand zu Heftklammern und einem neuen Locher ohne Geschichte gesellen. Unter dem Tisch hast du fein säuberlich eine Wärmflasche auf deine Hausschuhe gelegt, die Füße zu umschmeicheln.
...

Du versuchst, diese Stunden mit der Wärmflasche zu schmelzen, mir(t) der Decke zuzudecken...
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Luis Vänster
Geschlecht:männlichSchneckenpost

Alter: 25
Beiträge: 11
Wohnort: Norwegen


Beitrag02.02.2021 00:28

von Luis Vänster
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Wow. Einfach nur wow.

(Ich weiß, nicht sehr konstruktiv, aber mehr gibt es dazu einfach nicht zu sagen. Ich find deine Geschichte wahnsinnig gut.)

LG Luis
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Justadreamer
Geschlecht:männlichLeseratte
J

Alter: 26
Beiträge: 196
Wohnort: Bayern


J
Beitrag02.02.2021 10:02

von Justadreamer
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Hallo ihr vier.

Wow, vielen dank an euch alle für das große Lob rotwerd Das tut wirklich sehr gut!

Eure Anmerkungen, DLurie und Bananenfischin, sind tatsächlich Gold wert, da sie wirklich eindeutig sind.
Das mit dem "Haupt" werde ich mir mal überlegen (da wollte ich wirklich etwas "erhabenes" schreiben, aber bis auf Kopf und Haupt hatte ich keine Ideen). In die andere Richtung wäre es einfach: Bembers, (Dick)Schädel, Birne Laughing


Auch auf die Hände werde ich nochmal einen genaueren Blick werfen (hihi); da würde ich nur ungern unsaubere Bilder drinhaben.

Ich denke also, der Text kann mit euren Anmerkungen den letzten Schliff erhalten, viele Dank!
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wohe
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W
Beitrag02.02.2021 15:18

von wohe
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Hallo Justadreamer,

erstmal: ich finde die Geschichte famos geschrieben. Du erzeugst eine Stimmung, derentwegen man einfach nicht aufhören kann, weiter zu lesen.
Nur: so richtig verstanden habe ich den Inhalt nicht.
Wer ist z.B. "du"? Die unausgesprochenen Gedanken des/r Protagonisten/in oder das, worauf er/sie (ich tippe auf einen weiblichen Prota) den Leser stoßen will oder ist "du" identisch mit "er" oder mal das eine und mal das andere (ich neige zu der Ansicht, das Letzte ist der Fall) oder gibt es eine weitere Person nur in der Gedankenwelt der ersten?
Auch: "Vor einigen Jahren erst sind wir in dieses Haus gezogen" klingt nach jüngeren Leuten. Die Decke für die Beine und die Wärmflasche für die Füße hingegen nach mindestens einem alten Menschen (kein Paar, sondern Kind - Eltern - Beziehung?).
Jedenfalls spannend und berührend.
Ich wüsste jetzt schon gern, was da los ist, wäre für eine Interpretationshilfe also dankbar.

MfG Wohe
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Selanna
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Beitrag02.02.2021 17:05

von Selanna
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Hallo Justadreamer,
ich habe die anderen Kommentare nicht gelesen, es kann sich also einiges wiederholen.
Zitat:
lag

Ich denke, „liegt“. Denn Du schreibst im Präsens und aus dem Präsens heraus, liegt es zurück.
Die Beschreibung der Hände hat fast etwas Angeekeltes, fast (Skelette, schwarz, rippenbogengleich, weiß, gestrandet – erinnert alles an Kadaver, finde ich). Das ist ganz schön krass, drückt aber gut aus, wie distanziert und enttäuscht der „Ich“ auf den Anblick seiner Hände reagiert.
Zitat:
Sternstaub

Heißt das nicht „Sternenstaub“?
Zitat:
in der Dunkelheit unter der Handfläche

Würde ich umdrehen: unter der Handfläche in der Dunkelheit verschwindet. So denke ich, es ist dunkel und weil es dunkel ist, kann man nicht unter die Handfläche sehen. Bei einer Umstellung wäre für mich klar, dass nur unter der Handfläche Dunkelheit herrscht.
Zitat:
In seinem schwarzen Pullover sieht er älter aus, denkst du

Wer ist jetzt „er“? Am Anfang hatte ja „ich“ den schwarzen Pullover an.
Ein schöner, trauriger Text, der nach meiner Interpretation ein sehr überarbeitetes Pärchen zeigt, auch wenn der „Ich“ die Phase der Überarbeitung schon hinter sich hat. Jetzt kann er sitzen und lesen, aber die geistige Erschöpfung durchdringt den Text, wenn er an seine Hände denkt.
Sehr gut gelungen.

Liebe Grüße
Selanna


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Justadreamer
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Alter: 26
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J
Beitrag03.02.2021 12:46

von Justadreamer
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Hallo wohe,

danke für deine Meinung.
Zu deiner Frage, wie, wo was, warum das jetzt so oder so ist möchte ich dir eigentlich nur wenig verraten wink Ich habe schon von verschiedenen Seiten gehört, dass das Pärchen jung oder alt sei, aber: Jung oder alt kann es auch im Geiste sein. Ich persönlich habe natürlich mein ganz eigenes Bild, aber ich denke von 25 bis 60 sind alle Altersklassen möglich. Beispiel:

Vor einigen Jahren in das Haus gezogen:
Pärchen mit 25 zieht früh zusammen.
Pärchen mit 60 zieht nach dem Auszug der Kinde um.
Pärchen mit 30 zieht ins Eigenheim.
... da darf man alles denken

"Wärmflasche auf die Füße legen"

Das machen auch jüngere Menschen! (Wenn sie kalte Füße haben)


"Überarbeitet sein"

- Student lernt auf´s Examen
- Erwachsener kommt mit den Anforderungen des Jobs kaum zurecht,...

Für mich sind es 2 Personen, die zusammen leben und sich gerade durch eine schwere Phase arbeiten, die einerseits schonmal fröhlicher war (Urlaub, Vergangenheit,...) und auch im jetzt noch von Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung (Stützen des Kopfes, verdecken der Hände) gekennzeichnet ist, obwohl beide gleichzeitig unglücklich sind.  Das war jedenfalls der Rahmen meiner Intention.

Ziel der ganzen Sache ist es natürlich auch, dass sich jeder Leser, den das Thema irgendwie betrifft - betreffen kann- sich mit einem der beiden identifizieren kann. Ich hoffe, dich mit diesen Unklarheiten nicht verprellt zu haben Laughing


Hallo Selanna,

danke auch für deine Anmerkungen. Das Präsens habe ich nachträglich geändert, gut, dass dir diese Stelle noch aufgefallen ist!

Zu deiner Frage: "Er" und "Ich" sind identisch. Das habe ich so geschrieben, damit die zwei Protagonisten noch enger zusammenrücken - "er" weiß immer, was "du" denkt und andersherum. Manchmal muss man in einer Beziehung nur ein "mh" verlauten lassen, und der Partner weiß sofort, was man meint.

LG
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wohe
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Alter: 71
Beiträge: 632
Wohnort: Berlin


W
Beitrag03.02.2021 18:31

von wohe
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Hallo Justadreamer,
Zitat:
Ich hoffe, dich mit diesen Unklarheiten nicht verprellt zu haben

Hast Du nicht. Ist jetzt klar genug und es bleibt dabei: seht gut geschrieben. Besonderes Plus für die Stimmungsvermittlung.
MfG Wohe
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Selanna
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Wohnort: Süddeutschland


Beitrag04.02.2021 13:40

von Selanna
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Hallo Justadreamer,

 
Zitat:
"Er" und "Ich" sind identisch

Das finde ich verwirrend, aber das heißt nicht, dass Du es ändern musst. Wink
Nach wie vor: gerne gelesen.

Liebe Grüße
Selanna


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