Innerdatasun Wortedrechsler
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22.12.2020 18:40 Der Tag an dem der Weihnachtsmann zu weinen begann von Innerdatasun
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Ich hab vor kurzen eine alte Weihnachtsgeschichte (c.a 25 Jahre alt) von mir ausgegraben, die gerade in diesem Jahr wundersamerweise einen aktuellen Bezug erhalten hat. Sie hat zwar so direkt nichts mit der Pandemie zu tun, aber in ihr geht es auch um ein Weihnachtsfest das kollektiv ausgefallen ist.
Der Tag an dem der Weihnachtsmann zu weinen begann
Dies ist die Geschichte des Tages, an dem der Weihnachtsmann zu weinen begann. Ich selbst habe diesen Tag als kleiner Junge von zehn Jahren erlebt. Der Glaube um die Existenz des Mannes mit dem langen weißen Bart und seiner vielen kleinen Engelshelfern war in unserer Familie tief verwurzelt. Nur an diesem Tage war schon von vornherein alles etwas anders.
Es fing schon einige Tage vor Heiligabend an zu schneien. An diesen Tagen fiel mir schon die trübe, etwas gräuliche Färbung des Schnees auf. Er war längst nicht mehr so leuchtend silbrig, wie ich ihn aus den Jahren zuvor in Erinnerung hatte. An diesem 24. Dezember fiel der Schnee nun auch nicht einmal mehr in den gewohnten dicken Flocken, sondern war ziemlich wässerig geworden. Unsere Familie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach dem Abendessen in den Garten zu gehen und dort auf die Ankunft des Weihnachtsmannes zu warten. Wir standen immer dort und warteten auf das markante Klingeln der Glocken vom Geschirr der Rentiere, die seinen Schlitten über das Himmelsfirmament zogen. Nur an diesem Abend blieb das Klingeln aus. Meine kleine Schwester war schon längst wieder im Haus verschwunden und lag weinend unter dem Weihnachtsbaum.
Mutter war bei ihr und versuchte sie zu trösten. Vater versuchte mich erst gar nicht hereinzuholen, sondern brachte mir eine wärmende Decke, die er mir liebevoll über die Schultern legte. Wir standen beide dort bis weit nach Mitternacht und suchten gemeinsam den Himmeln nach den Zeichen ab, die auf ein Kommen des Weihnachtsmannes schließen ließen. Wir gaben die Hoffnung nicht auf.
Erst sehr spät in der Nacht kam der Schlaf über mich. Vater nahm mich vorsichtig in seine Arme und trug mich ins Haus. Ich verschlief verständlicherweise die erste Hälfte des nächsten Tages und stand erst gegen Mittag wieder auf. An diesem Tage herrschte ein bedrückendes Schweigen am Essenstisch. Draußen vor dem Fenster begann es wieder zu schneien. Ich ging, von meiner Neugierde getrieben, zum Fenster und stellte plötzlich fest, das der Schnee seine gewohnte Festigkeit und seinen Glanz wiedergewonnen hatte. Instinktiv rannte ich aus dem Haus nach draußen in den tiefen Schnee und blickte durch das Schneegestöber in den Himmel. Mein Blick versuchte durch den dichten Schnee hindurch zu tauchen, um am Himmel vielleicht etwas Ungewöhnliches verfolgen zu können. Aus dem Augenwinkel heraus fiel mir eine besonders große Schneeflocke auf, die einen intensiven Glanz ausstrahlte. Sie gedachte auch nicht zu Boden zu gehen, sondern tanzte vor meinem Gesicht hin und her. Für eine Sekunde schien es mir so, als würde meine Umgebung auf diesen einen Punkt vor meinem Gesicht zusammenschmelzen zu wollen. Das Innere dieser Schneeflocke schien etwas Geheimnisvolles zu beherbergen. Ich versuchte sie vorsichtig in meine Hände aufzunehmen, aber sie begann sich mir wieder zu entziehen. Diese Schneeflocke besaß im Verhältnis zu allen anderen Flocken irgendwie eine eigene Gesetzmäßigkeit, die sie dazu befähigte, durch das dichte Treiben ihrer Brüder und Schwestern hindurch, mich vom Haus meiner Eltern wegzuziehen.
Ich lief ihr also über die Felder hinterher. An einem Ort, der mir selber unbekannt erschien, blickte ich mich um und sah das mittlerweile alle Schneeflocken um mich herum diesen Glanz erzeugten. Hunderte? Nein, tausende Flocken tanzten um mich herum. Sie alle erzeugten vor mir eine unerträgliche Fülle.
Ich sah nicht nur, nein, ich hört und roch sogar in ihnen; das bewegte Meer, die Berge von Jenseits des Horizontes, die Abend und die Morgenröte zusammen, sowie alle Dinge dieses Planeten in eins. Ein scheinbarer endloser Strom von Bildern durchzog die kristallene Struktur der Schneeflocken, bis sich selbst das Schlagen meines Herzens in ihnen widerspiegelte und ich mir plötzlich in die eigenen Augen blicken konnte. Durch die unerträgliche Schönheit des Geschehens trieben sich mir Tränen in die Augen. Aber es waren nicht meine Tränen und sie machte auch keine Anstalten, mir über das Gesicht zu laufen, sondern verharrten auf meinen Augen. Ich kenne doch das Gefühl, das meine Tränen normalerweise erzeugen, aber diesmal war es irgendwie anders. Ich hörte ihren Geruch und sah gleichzeitig ihren Geschmack. Und als ich in sie hinein blickte, erahnte ich irgendwie, dass es die Tränen des Weihnachtsmannes waren, die aus meine Augen heraustraten und sich auf ihnen niederlegt hatten.
In ihnen sah ich nun die Geschichte seiner Tränen, die auf meinen Augen lagen.
In ihrer Widerspiegelung erzählten sie mir nun, alles hätte damit begonnen, dass die Menschen sich schon eine lange Zeit erzählen würden, dass Gott tot sei. Die Menschen erschufen sich daraufhin kleine Ersatz und Nebengötter, die ihnen allerdings mehr die Zeit vertrieben, als das sie ihnen wirklich dienten.
Gott selbst allerdings zog daraus seine Konsequenz und befahl seinen Erzengeln, die große Schar an Engelshelfern von der Erde zurückzuziehen. Der Weihnachtsmann, selber einst ein gefallener Engel, der durch den Dienst am Menschen seine alten Fehler versucht zu begleichen und so eigentlich nur ein Himmelsgeschöpf unterster Ordnung ist, blieb somit als einziger zurück. Trotz dieser etwas misslichen Lage, bemühte sich der Weihnachtsmann weiterhin seiner eigentlichen Aufgabe, das Verteilen der Geschenke am Heiligabend gerecht zu werden. Er sammelte also weiterhin die vielen kleinen, liebevoll verfassten Wunschzettel der Menschenkinder ein. Nur war jetzt niemand mehr da, der diese Wünsche an die Himmelswerkstätten weiterreichte und die dort in mühevoller Kleinstarbeit hergerichteten Geschenke zurückbringen konnte.
Also machte der Weihnachtsmann sich in eines der vielen großen, bunt erleuchteten Spielwarengeschäfte auf, um den Menschenkindern doch irgendwie ihre Wünsche erfüllen zu können. Dort angekommen, musste er allerdings feststellen, dass die Menschen es sich schon seit langer Zeit zur Gewohnheit gemacht haben, die Dinge, die sie gerne besitzen möchten, gegen wie sie es nennen, "Geld", einzutauschen. Da er aber nun die Dringlichkeit seiner Aufgabe im Vordergrund sah, dachte er sich einfach, dass er darauf einfach mal verzichten könnte. Schließlich gehört er ja sowieso nicht richtig zu ihnen; also gelten auch diese Regeln nicht für ihn.
Die Menschen dachten allerdings da etwas anders drüber und nahmen ihn, als er ohne zu bezahlen mit einem vollgepackten Einkaufswagen an der Kasse vorbeizog, wegen wie sie es nannten "Ladendiebstahls" fest. Er verstand zwar nicht, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte, da er ja alle Sachen bereitwillig wieder zurückgeben wollte. Man zog es trotzdem erst einmal vor, ihn mitzunehmen, um ihn später viele seltsame Fragen zu stellen. Die Antworten, die er auf ihre Fragen gab, wo er denn herkäme und wie denn nun sein richtiger Name sei, machten scheinbar großen Eindruck auf sie. Sie fingen nämlich danach immer heftig an zu lachen; und ihn freute es immer, wenn die Menschen fröhlich waren; also lachte er mit ihnen. Später ließen sie ihn dann gehen, aber nicht ohne ihn darauf hinzuweisen, dass er sich, wie sie es nannten, "mal untersuchen" lassen sollte.
Seine Geschenkeprobleme waren damit aber immer noch nicht gelöst, und die Zeit drängte. Also sagte er sich, er müsse dieses komische Geld irgendwie, wie sie es nannten, "verdienen"; denn er wollte ja nun auch keinen Streit mit ihnen. Also begab er sich zu einem großen Haus, wo immer viele Menschen hingingen, um sich dort, wie sie es nannten,"Arbeit" zu besorgen. Man teilte ihm dort mit, daß seine "Qualifikation" nicht ausreichen würde, aber auf Grund seines Aussehens sich eine Anstellung als Weihnachtsmann sicher für ihn eventuell lohnen könnte. So fand er sich dann auf einem der Weihnachtsmärkte wieder und tat schließlich das, was ja eigentlich sowieso seine Aufgabe war - Geschenke verteilen. | |