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Dumme Liebe


 
 
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Arii
Geschlecht:männlichGänsefüßchen


Beiträge: 45



Beitrag23.12.2020 15:34
Dumme Liebe
von Arii
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Leute,

ich stelle mal eine meiner Kurzgeschichten hier vor. Sie ist wirklich nicht lang - wie praktisch alle meine Kurzgeschichten - und in zwei Kapitel geteilt.
Das erste Kapitel habe ich schon vor längerem geschrieben, das zweite dann erst vor ein paar Wochen. Ich hatte eigentlich nicht vor eine 'Fortsetzung' zu schreiben, doch irgendwie juckte es mich dann doch in den Fingern.

Beim zweiten Kapitel habe ich an drei Stellen mit der Formatierung gespielt/experimentiert, welche beim Einfügen in diesen Thread natürlich völlig in den Ar*** gehen wird. Deshalb werde ich versuchen, in akribischer Kleinstarbeit diese Formatierung wiederherzustellen, da sie einen gewissen Effekt auf den Leser ausüben soll und mir gerade in dieser Hinsicht Feedback wichtig wäre, wie diese Passagen wirken. Ob es sich lohnt, auch weiter damit zu experimentieren.

Jedenfalls erwarte ich gespannt eure Kritiken.


Dumme Liebe


Ich musste raus. Weg von hier. Weg von ihr.
Ich torkelte halb blind zum Zimmer hinaus und rempelte einen Pfleger an. Tränen rannen mir die Wangen herunter, brannten in meinen Augen und trübten meine Sicht. Ich wischte sie mit meinen Ärmeln weg, doch ich ebnete bloß den Weg für die nachfolgenden. Ich wischte und wischte, doch es kamen immer weitere. Meine Ärmel waren nass als ich den Aufzug erreichte. Ich drückte den Knopf. Einmal. Zweimal. Dreimalviermalfünfmal.
“Anna!”, rief eine Frau hinter mir und ich drehte mich um.
Sie lief auf mich zu. Renate. Evas Mutter. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Die Frau erreichte mich. Blasses, tränennasses Gesicht. Zitternde Worte.
“Anna”, sagte sie wieder, “du musst jetzt tapfer sein ... du ... du musst ... Wir halten jetzt alle zusammen ... wir ... Eva ... sie ...“
Ihre Stimme verlor sich im Klagen. Schluchzend wandte ich mich ab. Die Aufzugtür ging quietschend auf. Leer. Gott sei Dank. Ich trat ein. Hämmerte auf die Erdgeschoss-Taste. Die Türe schloss sich wieder.
Einsames Weinen,
einsames Schluchzen,
einsames Tränen wegwischen.
Türe auf. Wimmernd durch die verwunderten Menschen brechen. Große Empfangshalle. Hallendes Wehklagen. Drehende Köpfe. Ausgang!
Ich rammte die Doppeltüre auf und lief ins Freie. So kalt. Meine Schluchzer erschufen weiße Wölkchen. Niemand saß draußen im Café. Ich stolperte beinahe, fing mich jedoch gerade noch und kam zum Stehen. Ein Mädchen stand einige Meter entfernt von mir und sah mich an. Etwa mein Alter. Langes, dunkelbraunes Haar. Warme, blaue Jacke. Weiß-Schwarz karierter Schal.
War klar, dass sie hier auftauchte. Um mich noch weiter zu quälen. Ich ballte meine zitternden Hände und sah sie zornig an, während heiße Tränen meine Wangen eroberten.
“Ich habe es dir gesagt”, sprach das Mädchen, “von Anfang an.”
“Halts Maul!”, schrie ich sie an.
“Ja, genau dasselbe hattest du mir damals auch entgegengeworfen”, entgegnete sie schulterzuckend. “Aber du wolltest es nicht hören. Und nun ... Du wusstest, dass dieser Tag kommen würde.”
“Sei still!” schrie ich. “Ja! Ich wusste es! Aber hätte ich mich deshalb von ihr fernhalten sollen?! Hätte ich sie deshalb nicht ... hätte ich ...”, meine Worte verkamen zu einem erbärmlichen Jammern, während ich auf die Knie sank und mein Gesicht vor der Welt verbarg.
“Ja, das wäre das Beste gewesen”, sagte sie, “für dich zumindest. Schau dich an. Ein Häufchen Elend.”
“Also war es falsch sie zu lieben?!”, rief ich verzweifelt. “War es wirklich so dumm? Hätte ich sie einfach verlassen sollen? Mich umdrehen und fortgehen? Hätte ich das überhaupt geschafft?”
“Ja, hättest du sollen”, entgegnete das Mädchen kaltschnäuzig, “ich habe es dir damals gesagt. Was los ist. Die Krankheit. Die Zeit die noch blieb. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dich fortgeschickt, weil ich nicht wollte, dass du daran zerbrichst. Dein Herz ist doch viel zu zart ...”, sie seufzte. Ihre Stimme wurde sanfter. “Und nun ... hat sie dich verlassen ... habe ich dich verlassen ...”
Sie kam zu meiner kauernden Gestalt und ging vor mir in die Hocke. Sie befreite mein Gesicht von meinen Händen und hob es zärtlich an.
“Eva ...”, fing ich an, doch ihre Lippen versiegelten bereits die meinen.
Ich erstarrte und ließ es zu, während weitere Tränen meinen geschlossenen Lidern entflohen. Ich wusste ja ... es war nicht real.
Der Kuss endete. Eva erhob sich. Ich blieb am Boden.
“Was soll ich jetzt bloß machen ...?”, wisperte ich.
“Aufstehen. Weitergehen. Über mich hinwegkommen.”, antwortete Eva.
“Und wie soll ich das machen?”
“Ist doch ganz einfach”, sagte sie und lächelte warm. "Schau, ich erleichtere es dir."
Sie schnippte mit dem Finger und verwehte im Wind, als wäre sie eine Pusteblume.
Nun war sie endgültig fort.
Und ich blieb zurück.
Allein.


Was du mir gibst


“Denkst du noch an sie?”, fragte Niklas und streichelte mir übers Haar.
“An wen?”, fragte ich und startete einen kläglichen Versuch, unwissend zu tun.
Wieso fing er jetzt damit an? Wir haben schon lange nicht mehr über sie gesprochen. Also warum jetzt plötzlich?
“Du weißt an wen”, sagte Niklas, “es ist schon vier Monate her.”
“Es ist erst vier Monate her”, sagte ich resigniert und richtete mich auf. “Vier Monate und neunzehn Tage ...”, fügte ich leise hinzu.
“Damit ist meine Frage vollends beantwortet”, sagte Niklas stirnrunzelnd. “Und sie ist am Tag ihres ... ihres Todes verschwunden?”
“Du meinst Evas Erscheinung? Meine Halluzination? Mein Sprung in der Schüssel?”, fragte ich genervt und rückte ans andere Ende von Niklas Wohnzimmercouch.
“Ich glaube nicht, dass du einen ‘Sprung in der Schüssel’ hast. Es war halt deine Art mit dem Trauma umzugehen.” Er überlegte kurz. “Oder deine Angst davor, von ihr verlassen zu werden? Sie erschien ja zum ersten Mal, als Eva ins Koma fiel, hattest du mir erzählt.”
“Ja ... wäre möglich ...”, murmelte ich mutlos, “aber ich glaube eher, es war ein Teil meines Unterbewusstseins ... die unterdrückte Kenntnis des Unausweichlichen.” Ich wurde zornig als ich daran zurückdachte. “Immer und immer wieder hatte sie mir Vorwürfe gemacht! Ich sei selbst schuld gewesen! Ich hätte es doch gewusst! Das ich ... ich ...”, ich wurde wieder still. “Aber, ich glaube auch, dass ein Teil von mir es mir leichter machen wollte loszulassen, indem ich meine Projektion von Eva mich fortstoßen ließ.”
“Fast schon tiefgründig”, sagte Niklas und winkte mich wieder zu sich.
Ich rutschte zu ihm und legte meinen Kopf wieder in seinen Schoß und er begann erneut damit, meinen Schopf zu streicheln. Wir schwiegen eine Weile und ich schloss meine Augen.
“Ich weiß noch”, durchbrach Niklas die Stille, “wie wir uns kennengelernt haben.”
“Ich nicht ...”, murmelte ich, "... oder kaum ..."
“Das wundert mich nicht”, gluckste er. “Wir saßen im selben Bus. Das musste der erste Tag gewesen sein, an dem du wieder in die Schule kommen solltest, oder?”
Ich nickte betrübt. “Zwei Wochen hatte man mir gewährt. Zwei Wochen bloß ...”, meine Worte zum Ende hin nicht mehr als ein Wispern.
“Ja, du hättest definitiv mehr Zeit gebraucht”, seufzte Niklas. “Wir nahmen ja immer wieder mal denselben Bus zur Schule, ich habe dich also öfter gesehen, aber ich wusste eigentlich nur wenig über dich. Bloß, dass du in meine Parallelklasse gehst und mit einem Mädchen zusammen warst und dieses nun gestorben sei. Das hatte sich in der Schule natürlich wie ein Lauffeuer verbreitet”, er hielt im Streicheln inne und stockte kurz in seiner Erzählung. “An dem Tag ... dein Blick ... war völlig leer. Du hast nichts um dich herum wahrgenommen. Die Frau, die neben dir saß und aussteigen wollte, musste sich umständlich an dir vorbeiquetschen, weil du sie gar nicht gehört hattest.”
“Wirklich?”, fragte ich und sah erschrocken zu Niklas auf. “Das hast du mir nie erzählt! Oh Mann, wie peinlich!”
Niklas schmunzelte amüsiert. “Und dann kam unser Halt. Alle Schüler stiegen aus, nur du bliebst sitzen. Na ja ... und ich.”
“Und ich verstehe immer noch nicht weshalb ...”, sagte ich.
“Na, ich konnte dich ja schlecht so herumlaufen lassen!”, entgegnete er. “Ich war sicher, du steigst irgendwo aus und läufst völlig blind in ein Auto hinein!”
“So ein Blödsinn”, entgegnete ich gespielt beleidigt. “Also, warum?”
Er seufzte. “Weil du so traurig aussahst, dass ich mich am liebsten neben dich gesetzt und mitgeweint hätte”, sagte Niklas und sein versteinerter Blick schien in der Vergangenheit gefangen zu sein.
Ich wurde rot. “Wieder ... wieder so ein Blödsinn ...”, sagte ich beschämt, “... ich habe doch gar nicht geweint ...”
“Nein hast du nicht, aber ... aber du sahst aus, als wärst du innerlich am Schreien gewesen.”
Ich wurde noch röter und sagte nichts weiter dazu. Er hatte recht. So in etwa hatte es sich angefühlt ... oder das hätte ich zumindest gerne getan: Einfach schreien und schreien bis ich tot umgefallen wäre, weil ich keine Luft mehr bekommen hätte.
Wieder war es für ein paar Minuten still.
“Ich weiß noch, dass ich erst aus meiner, na ja, nennen wir es mal ‘Trance’ aufgewacht bin, als ich in diesem kleinen Café am Tisch saß und du mich gefragt hattest, was ich denn gerne hätte”, überlegte ich schmunzelnd. “Ich wusste nicht einmal, wie ich dort hingekommen bin.”
“Sag ich ja”, lachte Niklas, “du wärst voll in ein Auto gerannt!”
“Jaja ...”, sagte ich und zog einen Schmollmund.
“Das war ganz einfach. Ich habe dich einfach am Handgelenk gepackt und mitgenommen”, grinste er, “in das Café ging ich öfter nach der Schule. Manchmal zum Lesen, manchmal zum Lernen. Deshalb sind wir dorthin.”
“Boah ... ich erinnere mich noch an die Bedienung. Die hat mich so komisch angeguckt ...”, stöhnte ich. “Vermutlich hatte sie sich gefragt, ob ich Drogen genommen habe, oder so ...”
“Oder sie hatte sich gewundert, dass ich Damenbesuch mitgebracht habe”, überlegte Niklas. “War das erste Mal ... Die kennen mich dort schon und ich bin ja eher ein Einzelgänger”, hängte er hintendran, als ich ihn fragend ansah.
“Danach sind wir ... zu dir, oder?”, versuchte ich mich zu erinnern.
“Ja. Meine Eltern waren beide Arbeiten, also waren wir ungestört.”
Ich wurde wieder rot. “Du hast die Situation ... meinen ... Zustand ... du hast es nicht ausgenutzt ... oder so ...”
“Was hätte ich denn machen sollen?”, fragte er empört. “Über dich herfallen? Bin ich ein Tier?”
“Nein ... bist du nicht. Tschuldige ...”, sagte ich geknickt, “du ... du warst immer die Schulter, an der ich mich ausweinen durfte ... ohne etwas zurückzubekommen ...”
“Das ist für mich in Ordnung”, sagte Niklas lächelnd, “außerdem bekam ich die Zeit mit dir. Und das ist mir Lohn genug.”
“Bist du denn gar nicht an mir ... interessiert?”, fragte ich verwundert.
“Doch, aber rein platonisch.” Er runzelte die Stirn. “Ich dachte ja auch lange Zeit, du würdest auf Mädchen stehen. Tat ja die ganze Schule ...”
“Tu ich nicht ... das war bloß ... bloß Eva ...”, murmelte ich und wurde wieder rot.
“Haken wir es unter ‘es ist kompliziert’ ab”, gluckste er, “ist es ja immer.”
“Mit ihr war es nie kompliziert ...”, flüsterte ich.
“Wie lange wart ihr zusammen? Ein Jahr?”
“Ein Jahr, zwei Monate und vier Tage”, antwortete ich und biss mir auf die Unterlippe.
“War das gezählt bis sie ins Koma gefallen ist, oder bis zu ihrem Tod?”, fragte Niklas völlig unverblümt.
“Tod”, presste ich heraus, während ein Kloß in meinem Hals heranwuchs und so groß wurde, wie eine Melone.
“Etwa drei Monate, richtig?”
Er meinte das Koma. “In etwa ...”
“Vermisst du sie?”
Ich sah ihn erst mit weit aufgerissenen Augen an, bevor ich hochfuhr.
“Na, was denkst du denn?”, fauchte ich ihn an und versuchte erfolglos den Kloß zu schlucken. “Für dich sind vier Monate Trauer vielleicht viel! Für dich sind vierzehn Monate Beziehung vielleicht wenig! Ist mir scheißegal was du darüber denkst! Leg sowas nicht in die Waagschale! Du Arsch! Du ... du kannst mich ...”
Ich hatte damit angefangen mit meinen Fäusten auf ihn einzuboxen, während Tränen langsam meine Augen füllten. Doch schon bald sank ich wimmernd vorwärts in seine Arme und vergrub mein Gesicht in seinem grobmaschigen Pullover.
“Tut mir leid, Anna”, flüsterte er und legte seinerseits seinen Kopf auf meine Schulter, “ich habe mich wirklich kläglich ausgedrückt. Ich habe das so gar nicht gemeint ...”
“Ich verstehe nicht”, flüsterte ich zwischen zwei Schniefern.
“Natürlich weiß ich, dass du Eva vermisst”, sagte er ruhig und streichelte mir über den Rücken. “Ich bin ja nicht völlig bescheuert.”
Ich löste die Umarmung, wischte mir das Gesicht trocken und sah ihn dann an. “Was meinst du dann?”, fragte ich verwirrt und noch immer verärgert.
“Die andere Eva ... die in deinem Kopf”, sagte Niklas vorsichtig.
Ich hielt inne. Nach einigen Augenblicken legte ich meinen Kopf wieder auf seine Brust und starrte in die Ferne. Ich nickte langsam.
“Ja. Ich glaube schon”, flüsterte ich. “Ich glaube, sie hatte es ein wenig erträglicher gemacht ...”
“Wünschst du sie dir zurück?”
Ich richtete mich wieder auf und schüttelte entschieden den Kopf. “Nein. Das ... das wäre nicht gut, glaube ich. Das ... sie wäre ja nur ein Abbild meiner Erinnerung ... sie ... da kann ich auch gleich Selbstgespräche führen. Das wäre bloß ... das wäre ... ich ... ich kann doch nicht ... ich will ...”
Ich begann wieder zu schluchzen und meine letzten Worte gingen mir nur wimmernd über meine bebenden Lippen, während ich mich wieder zitternd in Niklas Arme fallen ließ.
“Ich vermisse sie so ...”, weinte ich in seine Schulter, “ich würde ... ich würde alles geben, um sie wiederzusehen ... ich ... ich will sie einfach wiederhaben ...! Ich will, dass man sie mir wieder zurückgibt!”
Ich verfiel in lautes, klägliches, zuckendes Schluchzen. Ich fühlte mich so erbärmlich und krallte mich regelrecht an Niklas fest. Niklas schloss mich in seine Arme, drückte mich dicht an sich, wie er es immer tat, wenn ich wiedermal einen Weinkrampf hatte, und ließ mich mich ausweinen. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, löste er die Umarmung und sah mir tief in die Augen.
“Anna, wie lange sind wir jetzt ... ‘zusammen’?”, fragte er mich ernst.
“Äh ...”, stammelte ich überrascht und zog meine Nase hoch, “vier Monate?”
“Vier Monate und fünf Tage”, korrigierte er mich. “Und was ... was habe ich dir gegeben?”
Ich sah ihn unschlüssig an, überlegte dann jedoch und versuchte aufzuzählen. “Mitgefühl ... Trost ... ein offenes Ohr ... jederzeit ... eine Schulter zum Anlehnen ... Wärme”, ich wurde rot als ich bemerkte, welche Unterstützung er für mich war. Was für eine Rolle er in meinem Leben eingenommen hatte. “Aber allem voran denke ich ... Verständnis.”
Er lächelte warm. “Und das habe ich gerne getan, doch ich frage mich ... hat es dir geholfen? Beziehungsweise ... war es genug?”
Ich sah ihn verständnislos an. “Natürlich hat es das ... ich verstehe nicht ...”
“Weißt du, dass du in der Nacht im Schlaf weinst und ihren Namen rufst?”, fragte er mit traurigem Gesicht.
“Was? Wann ...?”
“Jede Nacht.”
“Was? Was meinst du mit jeder Nacht? So oft habe ich doch gar nicht bei dir geschlafen?”, fragte ich verunsichert.
“Jede Nacht”, wiederholte er bloß.
“Ich verstehe nicht ... wie kannst du wissen ...?”
“Ich glaube, es war noch zu früh”, sagte er kopfschüttelnd, ließ mich los und wandte sich ab. “Du warst und bist noch nicht bereit. Scheiße! Scheiße! Scheiße!”, rief er aus und trommelte auf seinen Kopf. “Das war mein Fehler ... meiner. Ich hätte dich nicht ... bitte verzeih ... es ist ganz allein meine Schuld ...”, knurrte er und zog an seinem kurzen, dunklen Haar.
“Was redest du da?”, fragte ich und stieß mich von ihm fort, bis ich wieder auf der anderen Seite der Couch saß. Er begann mir Angst zu machen.
Niklas ließ sein Haar los, sank in sich zusammen und ließ den Kopf hängen. Einige Augenblicke lang starrte ich ihn verunsichert an, auf eine Regung wartend, doch er blieb absolut still und bewegungslos. Atmete er überhaupt? Plötzlich stieß er einen tiefen Seufzer aus und rutschte so stürmisch auf mich zu, dass mir ein kurzer Schrei entfuhr. Er machte ein trübsinniges Gesicht, als würde er das Kommende nicht geschehen lassen wollen. Ich zog meine Beine an. Was war mit ihm los? Was machte er da? Je näher er kam, desto mehr kauerte ich mich zusammen.
“Es tut mir so leid, Anna”, sagte er mit einer seltsam monotonen Stimme. Sein Blick war starr und leblos. Er streckte langsam seine Hand nach mir aus. “Doch wir werden uns wiedersehen. Versprochen.”
“Was ... was sagst du da ...?”, japste ich atemlos.
Er antwortete nicht, sondern berührte mit seinen Fingern mein Gesicht und verwandelte sich dann in schwarzen Qualm, der in sich zusammenfiel.
Ich kreischte auf und sprang vom Sofa runter. Entsetzt sah ich den Raum an, in welchem ich stand. Das war nicht mehr Niklas Wohnung, sondern eine heruntergekommene Bruchbude. Das Sofa; ein schimmliges Stück Holz mit verblichenem Stoffüberzug. Die Bilder an den Wänden waren blankem, grauen Beton gewichen. Der Fernsehtisch, bloß eine Holzpalette. Irgendwo fiepte ein Nagetier.
“Nein!”, japste ich und begann immer flacher zu atmen.
 
nein                   nein
             nein        neinneinnein
    nein              bitte nicht
        bitte        bitte
            NEIN!

    Ich hielt mir kreischend meinen Kopf, als müsste ich Angst haben er würde zerspringen. Ich schloss meine Augen, um die Realität nicht sehen zu müssen.
Das konnte nicht wahr sein. Das ist nicht wirklich ... es war alles ... alles bloß ... bloß ...
Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag ins Gesicht.

Die Blicke der anderen, wenn wir beisammen waren ...
              ... da kann ich auch gleich Selbstgespräche führen ...
Meine Eltern ... warum haben sie nie etwas ...?
                 ... meine Art mit dem Trauma umzugehen ...
                     ... bei Evas Erscheinung hatten sie irgendwann auch nichts mehr ...

Er rührte mich nie an ...
                 ... das durfte auch nur Eva ...

Was soll das ...?
    Was soll das ...?
                 Wassolldaswassolldaswasssolldas ...???
    was
soll                              wieso
          was soll                                   was
         wieso            soll
wieso     passiert                                                 ich
      ich                      kann                 passiert                   ich
    ich                nicht        ich
                        kannnicht
ich               nicht
    wiesowiesowiesowiesowiesowieso
                              Ich kann nicht mehr!

Ich hörte nur noch mein Schreien. Ich wusste nicht, ob ich Luft holte. Ich spürte kaum, wie ich auf die Knie fiel und mich zitternd immer weiter nach vorne beugte, bis meine Stirn beinahe den dreckigen Boden berührte.
Doch ich spürte die flüchtige Berührung an meiner Wange und das Schreien verstummte abrupt. Nur ein fernes Ringen in meinen Ohren blieb, sonst absolute Stille. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen, nicht einmal zu atmen. Aber dann öffnete ich doch langsam meine nassen Augen und starrte auf das zerfurchte Parkett, auf welchem sich eine kleine Lache meiner Tränen gebildet hatte. Vorsichtig hob ich meinen Kopf an und zwei weiche Hände ergriffen zärtlich mein Gesicht. Ungläubig blickte ich in ihre wunderschönen, traurigen Augen.
“Ich bin wieder da”, flüsterte Eva und zog mich in ihre Arme.



_________________
Ich höre ständig, die Fantasiewelten, die ich schreibe und in welche ich eintauche, würden bloß zur Flucht vor der harten Realität dienen.
Und ich entgegne dann immer: "Stimmt. Ich habe dort bereits Asyl beantragt."
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Rodge
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Beiträge: 845
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Beitrag24.12.2020 09:48

von Rodge
Antworten mit Zitat

Moin Arii,

für meinen Geschmack ist da viel Schönes mit dabei. Auch deine Einrückungen (auch wenn sie mühsam waren), vermitteln etwas, was allein Wörter vermutlich nicht könnten.

Insbesondere das erste Kapitel finde ich sehr gelungen.
Ich wäre vollkommen begeistert, wenn mich nicht die Dialoge teilweise wieder rausbringen würden. Da wird für meinen Geschmack im Mittelteil zuviel erklärt, da versteckt sich der Erklärbär im Dialoggewand.

Gerne gelesen!
Rodge
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Arii
Geschlecht:männlichGänsefüßchen


Beiträge: 45



Beitrag27.12.2020 00:29

von Arii
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Rodge hat Folgendes geschrieben:
Auch deine Einrückungen (auch wenn sie mühsam waren), vermitteln etwas, was allein Wörter vermutlich nicht könnten.
(...)
wenn mich nicht die Dialoge teilweise wieder rausbringen würden. Da wird für meinen Geschmack im Mittelteil zuviel erklärt, da versteckt sich der Erklärbär im Dialoggewand.

Danke erstmal für die lieben Worte. :)
Ich bin froh, dass die Formatierung bisher bei allen gut ankam und nun auch bei dir. Du hast völlig recht, ich habe versucht, dieses Gedankenwirrwarr darzustellen. In Filmen geht das gut durch die Akustik, eventuell noch verstärkt durch visuelle Effekte. Doch niedergeschrieben ...
Ich bin gespannt, was andere davon halten.

Und du hast leider völlig recht mit dem vielen Dialog in der Mitte.
Irgendwie halte ich es für wichtig, diese Beziehung der beiden zueinander zu erklären, um den Twist und ihre daraus resultierenden Gefühle zu verstärken.
Aber, ja, es stört. Ich weiß nur nicht so recht, wie ich es verbessern bzw. kürzen könnte.

Ich muss allerdings zugeben, dass, da es 'bloß' eine Kurzgeschichte ist, die ich schon vor längerem geschrieben hatte, ich mir dann auch nicht mehr so viele Gedanken darüber gemacht habe. :p

Trotzdem gefällt sie mir persönlich sehr gut ... und genau aus diesem Grund musste ich sie euch zum Fraß vorwerfen! xD

Danke jedenfalls für deine Meinung. :)


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Sanny
Geschlecht:weiblichEselsohr
S

Alter: 30
Beiträge: 227



S
Beitrag29.12.2020 11:14

von Sanny
Antworten mit Zitat

Hallo Arii,

gleich vorweg: Ich habe die Kurzgeschichten sehr gerne gelesen und nichts auszusetzen. smile

Der Twist hat mich an die Filme Shutter Island und Sixth Sense erinnert. Damit bist du bei mir sowieso an der richtigen Stelle lol2 Ich mag es, wenn die Geschichte aus der Sicht eines unzuverlässigen Erzählers geschildert wird. Im zweiten Teil habe ich den Twist bereits geahnt, als Niklas mit Anna über ihre seltsame Beziehung sprach. Ich dachte mir schon, welcher jugendliche Kerl nimmt das alles auf sich? Trotzdem hat mir die Auflösung super gefallen (mitsamt dem Gefühl "ah, bin ich doch richtig gelegen, er ist eine Illusion" lol2).

Dein Schreibstil liest sich flüssig und passend zur Ich-Perspektive. Ich konnte mich gut in Annas Kopf wiederfinden. Dazu haben die kurzen, fast schon abgehackten Sätze beigetragen, als sie weinend aus dem Zimmer gestürzt ist, und auch als sie durch die Empfangshalle rannte. Eine Person in ihrem Gemütszustand würde sich keine Details merken und die anderen Menschen höchstens aus den Augenwinkeln wahrnehmen - Genau das hast du exzellent ausgedrückt (Zitat: Hallende Stimme. Drehende Köpfe.).

Die Formatierung gegen Ende trägt ebenfalls dazu bei, mich als Leser nah am Geschehen teilhaben zu lassen. Sie macht mehr als deutlich, wie wirr und chaotisch es in Annas Kopf aussieht, und unterstreicht den Höhepunkt.
Würde der Text öfter so formatiert sein, hätte ich zugegeben meine Schwierigkeiten mit dem Lesefluss. Hier passt es aber.

Im Gegensatz zu dem User vor mir stört mich der dialoglastige Teil gar nicht. Für mich war er wichtig, die Situation erst einmal umreißen zu können - wer ist Niklas, wieso streichelt er ihre Haare, sind die jetzt zusammen etc.? Ohne diese Informationen würde weder der Twist überraschend ausfallen noch eine eigene Kurzgeschichte darum gesponnen werden können. Klar mag es in mancher Augen Infodump darstellen, doch dann ist er clever und unterhaltsam verpackt.

Ich hoffe, du konntest etwas mit meinem Feedback anfangen und ich wünsche dir weiterhin viel Spaß beim Schreiben smile
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