Almuth Wessel Gänsefüßchen
A Alter: 69 Beiträge: 20 Wohnort: Gütersloh
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A 24.11.2019 00:35 Gute Nacht Merlin - oder: Psychogramm eines Verlustes von Almuth Wessel
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iWenn in unserem nüchternen 21. Jahrhundert jemand eine Geschichte anfängt mir dem Satz „ Das hier ist eine Geschichte von Liebe und Tod..“ - dann werden sich viele achselzuckend abwenden und denken, dass sie es hier wieder mit einem der üblichen sentimentalen und banalen Trivialromanen zu tun haben. aber ist das,, was jedem von uns begegnen kann, wirklich „trivial“? Ich will – trivial hin, alltäglich her - diese Geschichte erzählen – vielleicht gerade deswegn.. Denn verwaiste Geliebte gehen hundert aufs Dutzend.
Es ist die Geschichte einer Freundschaft, einer Liebe, die es nach Auffassung mancher Menschen „so“ gar nicht geben darf : die Beiden von denen hier die Rede ist, waren verheiratet – aber nicht mit einander.
Diese Geschicte ist pietätlos – sie „beschmutzt das Andenken eines Verstorbenen.“ .
Mindestens die Leiterin der Anzeigenabteilung in der einzigen Tageszeitung am Heimatort meines Freundes Merlin dürfte dieser Ansicht sein – und sie steht damit wahrscheinlich nicht allein.
Mit dieser Begründung lehnte sie den Text der Anzeige ab, die ich zum Jahrestag seines Todes aufgeben wollte.
Aber Menschen, die glauben, dass eine Liebe, die nicht kirchlich legitimiert ist, das Andenken eines Verstorbenen „schändet“ ( was für ein perverser Gedanke!) , brauchen dieses Buch ja nicht zu lesen. Es geht sie nichts an, sie haben nichts verstanden und werden auch nie etwas verstehen, was außerhalb ihrer durch Ängste, Skrupel und Bedenken vergifteten Sichtweise liegt.
Aber die anderen - die, die wissen, dass es unendlich viele Arten von Liebe gibt – und dass Liebe NIEMALS „schändet“ , sie sollen erfahren von diesem Menschen, den ich den „weisen Merlin“ nenne, und der über viele Jahre mein Vertrauter, mein Weggefährte und begleitender Freund war, und der immer noch irgendwie „da“ ist .
Er ist einer von denen, die der Theologe Eugen Drewermann „durchsichtig“ nennt. Durch manche Menschen, so schreibt er, scheine das Licht Gottes ungefiltert hindurch und bringe sie zum Leuchten. Das verleihe ihnen die Gabe, alles um sich herum allein durch ihre Gegenwart heller und wärmer zu machen. Genau so habe ich Klaus, den Weisen Merlin, in den letzten Jahren seiner irdischen Existenz erlebt.
Mir war er Freund, spiritueller Berater, moralische Instanz und heimlicher Geliebter – bis sein Leben jäh und brutal endete.
Er starb gemeinsam mit seiner Frau bei einem Verkehrsunfall, den er selbst verschuldet hat und dessen genaue Umstände nach wie vor ungeklärt sind. Später sagte mir jemand , er sei wahrscheinlich unaufmerksam gewesen.Aber ich frage mich, ob nicht auch DAS eine Fassade ist, die seine Hinterbliebenen aufgebaut haben – so wie zuletzt vieles in seiner äußeren Existenz zur Fassade geworden war.
Ich erfuhr erst vier Tage nach dem Unfall von seinem Tod und es war, als zöge mir jemand den Boden unter den Füßen weg.
Sein ältester Sohn rief mich an und überbrachte mir mit wenigen dürren Worten die Todesnachricht – glücklicherweise stand ich im Telefonverzeichnis seines Vaters, sonst hätte ich wahrscheinlich nie davon erfahren. Nach diesem Anruf verlor ich mich in einer Trauerspirale. Um zu überleben, begann ich, Tagebuch zu führen. Diese Aufzeichnungen sind das Herzstück dieses Buches. Aber der Prozess, der in ihnen beschrieben wird, ist noch lange nicht zu Ende.
Sie enden zwar formell mit dem kalendarischen Ende des Trauerjahres. Aber das bedeutet nicht, dass dieses Kapitel meines Lebens abgeschlossen ist.
Ich habe nur für mich selber eine Zäsur gesetzt:
Ich rebelliere nicht mehr gegen Merlins Tod, sondern ich versuche, ihn zu akzeptieren.
Ich versuche zu akzeptieren, aber ich finde mich nicht ab.
Ich finde mich nicht ab, sondern ich gewöhne mich daran, dass ich mich NICHT gewöhne.
Ich lebe mit meiner Traurigkeit nicht mehr wie mit einer chronischen Krankheit – aber sie ist immer „da“ - so wie der Generalbaß in einem Musikstück von Johann Sebastian Bach immer „da“ ist – auch wenn man ihn nicht die ganze Zeit bewusst wahrnimmt.
Und ich beginne widerwillig, mich damit abzufinden, dass es zwischen mir und seinen Söhnen keine Brücke gibt . Ich werde wohl niemals einen Weg finden , um seinem Ältesten, zu dem er eine besondere Beziehung zu haben glaubte, sagen zu können, was ich für seinen Vater empfinde.
Auch davon handeln diese Aufzeichnungen: von dem verzweifelten Versuch, einen Menschen zu finden, mit dem ich meine Trauer und meine Erinnerungen hätte teilen können.
Ich hatte geglaubt, dass Merlins Söhne genau so wären wie er sie mir immer beschrieben hat:: warmherzig, offen und mit einem klaren und vorurteilsfreien Blick …
Dieser Glaube spricht aus den Briefen, die ich an sie geschickt hatte – aber ich habe diesen Glauben inzwischen verloren – oder sollte ich besser sagen: er ist ist getötet worden durch das Verhalten dieser Menschen? Weil ich in ihren Augen etwas verkörpere, was nicht sein kann , weil es nicht sein darf?
Diese Erkenntnis kam langsam und schmerzhaft – erst als ich im Frühjahr 2019 wieder einmal vor Merlins Grab stand, ist sie mir deutlich geworden:
Dieses Grab ist ebenso Teil einer Inszenierung, wie Merlins äußeres Leben im Laufe der Jahre zu einer Inszenierung wurde . Dieses Grab mit seinem repräsentativen Stein aus weißem Marmor und der Standard-Bepflanzung, die dreimal im Jahr von der Friedhofsgärtnerei erneuert wird, ist der Ort, an dem die Asche des achtbaren Bürgers Klaus W. ruht – gemeinsam mit der Asche seiner von ihm so geliebten Gattin, die – so die offizielle Lesart - durch sein Verschulden ums Leben kam.
Der kleine Dorffriedhof auf dem die Asche der Beiden ruht, ist ein hermetisch abgeschlossener Raum . Genau so wie das gut bürgerliche Wohnviertel ,in dem das Haus steht, das er – teils mit seinen eigenen Händen – gebaut hat, und genau so wie die erzkatholische Kleinstadt in der er gelebt und sich und seiner Frau eine Position unter den Honoratioren erkämpft hatte . Und alles, was in diesem hermetisch abgeschlossenen Raum aus dem Rahmen fällt, wird sanktioniert und ausgemerzt – bis hin zu den Schleifen an den Gestecken und Kränzen , die ich dreimal im Jahr auf seinem Grab niederlegen lasse: Jedes Mal – nur wenige Tage nach der Auslieferung – verschwinden diese Schleifen auf rätselhafte Weise...
Darum ist diese Geschichte nicht nur das Tagebuch eines Trauerjahres, sondern auch die Geschichte eines Missverständnisses. Denn mein geliebter Freund hatte wohl – so sehe ich es heute – nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor sich selber eine Fassade aufgebaut:
die Fassade der Musterfamilie aus warmherzigen und einander liebevoll zugetanen Menschen, die genau so aufgeschlossen und frei denkend waren wie er selbst.
Diese Fassade hat er vor sich hergetragen wie eine Monstranz. Dieser Mann, der sich aus kleinsten Verhältnissen hoch gearbeitet hatte,wollte für sich und seine Familie ein schönes, glanzvolles Leben – und da gehört die Musterfamilie in der alles stimmt, eben dazu. Sichtbarer Ausdruck dieses Strebens war das große Familienbild in der Diele seines Hauses, das auf Betreiben seiner Frau von einer heimischen Künstlerin gemalt worden war. Eine Nachbarin sagte über dieses Bild: „Ich mochte es nicht. Es wurde der Frau nicht gerecht.“ IHM wurde es AUCH nicht gerecht... Auf diesem Bild sitzt eine puppenhaft schöne blonde Frau an einem Tisch, umgeben von ihren wohlgeratenen Söhnen – und ihr Gatte , der aussieht wie ein Buchhalter, steht in Beschützerpose hinter ihr . Alle Gestalten wirken steif und isoliert - es findet kein Blickkontakt und keine Berührung zwischen ihnen statt. Vielleicht hat die Künstlerin, die dieses Bild malte, bei allem Unvermögen diese Beziehungslosigkeit der Familienmitglieder untereinander gespürt .
Dieses großformatige Bild hing in der Diele – so wie im Ahnensaal eines Schlosses die Bilder der Vorfahren des Eigentümers hängen, um dem Besucher ein für alle Mal die Legitimität des Bewohners deutlich zu machen. Genau so sollte dieses großformatige Bild dem Besucher sagen: „Sieh her! Das sind WIR– diese gut situierte großbürgerliche Familie in der ALLES so ist wie es sein soll...“ Aber irgendwann muss das familiäre Idyll, das der Merlin mir immer so liebevoll und in leuchtenden Farben schilderte, auch für ihn brüchig geworden sein – und er versuchte, auszubrechen .
Irgendwann muss er erkannt haben, dass dieses schöne Haus in dem gut bürgerlichen Wohnviertel, in dem er lebte, und sein Dasein als erfolgreicher Geschäftsmann, der sich den Zugang zur Kaste der Honorationen erkämpft hatte, ein Goldener Käfig war .–Ein Käfig, den er sich selbst gebaut hatte. Und seine schöne Frau, die so sehr darauf bedacht war, ihren gesellschaftlichen Status und die Fassade zu wahren,war zu seiner Kerkermeisterin geworden.
Vielleicht war ja auch das weihnachtliche Idyll, das er mir immer wieder so liebevoll geschildert hat, nur noch ein sinnentleertes Ritual? Dieses Familientreffen in seinem Haus, mit dem reich geschmückten Christbaum, dem opulenten Abendessen mit den Kindern und Enkelkindern, die nach der Bescherung andächtig dem Weihnachtsevangelium lauschen, das er, der Pater familas, ihnen vorliest..nur noch eine Fassade – wie in so vielen Familien ? Irgendwann haben seine Schwiegertöchter rebelliert - mit Mann und Kindern diese Inszenierung boykottiert und dem weihnachtlichen Idyll ein Ende bereitet.
Aus dieser Perspektive betrachtet, ist sein Wunsch: dass seine Asche nach seinem Tode eben NICHT in dem Familiengrab beigesetzt, sondern bei Cap Fisterra nordwestlich von Santiago di Compostela ins Meer gestreut werden sollte, nur noch die letzte Konsequenz einer langen Entwicklung. Der letzte verzweifelten Versuch eines Ausbruchs. Wir alle kennen doch den Gedanken, der uns anweht, wenn wir in ein Umfeld kommen, das uns durch seine Tristesse bedrückt: „HIER möchte ich nicht begraben sein...“
Seine Familie hat ihm aber noch zu Lebzeiten die Erfüllung dieses Wunsches verweigert. Und als ich dann – etwa zweieinhalb Jahre nach seinem Tod – wieder einmal vor seinem Grab stand, da wurde mir auch klar, warum: „Nix da... hier bist du und hier bleibst du... was sollen denn die Leute denken...?“
Ich fürchte, dass DIESER Gedanke: „Was sollen denn die Leute denken?“ für viele Menschen immer noch etwas ist, das ihr Leben beherrscht – und jede Gefühlsregung erstickt. Und das ist sehr traurig und sehr schade...
Vielleicht bin ich ja der einzige Mensch, der K.W., den Weisen Merlin, wirklich wahrgenommen hat als den, der er versuchte, zu sein? Er hat mich gelehrt, dass der Sinn unsers Lebens darin besteht, zu lieben und zu lernen – und so zu werden, wie Gott uns gemeint hat. Eben gerade nicht stecken zu bleiben in den Erwartungen der anderen und in den Fesseln der bürgerlichen Konvention.
Ihm selber fehlte letzten Endes wohl doch der Mut zum Ausbruch aus dem Goldenen Käfig.
Vielleicht war es nicht nur Unachtsamkeit und mangelnde Konzentration, die zu dem schweren Unfall führten, bei dem er, seine Frau und eine alte Dame, deren Namen ich nie erfahren habe, ums Leben kamen?
Ich werde es nie wissen – aber was ist „Wahrheit“? Gibt es sie überhaupt? Sehen wir nicht immer nur Ausschnitte von Wirklichkeit, aus denen wir uns dann unseren Reim aufs Leben machen?
Für mich war K.W. zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden, und es ist
immer noch sehr schwer für mich, zu begreifen, dass dieser lebenswarme, tatkräftige und lebensfrohe Mensch tot ist – aber bei allem Kummer weiß ich doch, dass die Begegnung mit ihm einer der großen Glücksfälle meines Lebens ist. Ich verdanke ihm viel - und ich danke ihm von ganzem Herzen für das wundervolle Geschenk unserer gemeinsamen Jahre.
Pixit in Februariii MMXVIII korrigiert in Junius MM IXX – CLEO
Prolog
31. Oktober 2016, 11.50
Über der Soester Börde leuchtet ein heiterer Spätherbsttag. Der Himmel ist strahlend blau und fast wolkenlos, die tief stehende Herbstsonne wirft lange Schatten.
Auf der B 516 zwischen Soest und Werl fließt der mittägliche Stoßverkehr: Mütter, die ihre Kinder von der Schule abholen, Hausfrauen auf Einkaufstour, Außendienstler, unterwegs zum nächsten Kunden, Pflegedienstmitarbeiter auf dem Rückweg von ihrer morgendlichen Runde ... Eine zügig und stetig dahin rollende Karawane von Klein- und Mittelklassewagen, die jäh zum Halten kommt. Bremsen quietschen.... dumpfes Krachen und das Splittern von Glas: auf einer Kreuzung tanzt ein kleiner roter Citroen, der überraschend aus der Nebenstraße aufgetaucht ist, mit zwei anderen Kleinwagen ein makaberes Ballett. Er macht einen grotesken Luftsprung und überschlägt sich, die beiden anderen Autos kreiseln um ihre eigenen Achse, demolieren die Wegweiser am Straßenrand und kommen mit eingedrückter Motorhaube zum Stehen.
Kurz darauf passiert ein Wagen die Unfallstelle - der Fahrer bremst, steigt aus und rennt zu den Autowracks. Einen Augenblick lang starrt er fassungslos auf das Bild der Zerstörung: am schlimmsten hat es den Citroen erwischt. Die beiden anderen Wagen haben ihn fast synchron von beiden Seiten gerammt - er ist nur noch ein formloses Knäuel aus zerknautschtem Blech.
Der Mann späht durch die zersplitterten Scheiben ins Wageninnere, erkennt schemenhaft hinter den ausgefahrenen Airbags den Körper einer blonden Frau.... Er greift durch ein Loch in der zerborstenen Frontscheibe nach ihrer Hand und spricht beruhigend auf sie ein: „Halten Sie durch, es kommt sofort Hilfe...“
Von weitem ertönt das rasch lauter werdende Jaulen des Martinshorns.
Die Frau im Wrack des Citroen erwidert den Händedruck des Mannes und setzt zum Sprechen an ... aber dann lockert sich ihr Griff und ihre Hand entgleitet ihm…In diesem Augenblick rückt der Bergungstrupp mit der Rettungsschere an und trennt das Dach des Wagens auf.
Der Notarzt beugt sich über die Frau und schüttelt den Kopf: „Exitus....“
Erst als ihre Leiche aus dem Wrack geborgen wird, kommt der Fahrer des Wagens zum Vorschein. Er liegt im Fußraum, begraben vom Körper der Frau, besinnungslos und wie eingesargt in die deformierte Karosserie und die Trümmer des zerborstenen Armaturenbretts. Noch während ihn die Retter aus diesem Chaos heraus schälen, stirbt er, ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen.
Zwei weitere Rettungstrupps bergen die Insassen der anderen Wagen: Eine alte Dame , die mit ihrer Tochter zum Einkaufen nach Soest gefahren war, stirbt wenige Stunden später an ihren Verletzungen, eine Altenpflegerin, die eine Patientin in Werl versorgt hatte, wird lange im Krankenhaus liegen...
Es dauert Stunden, bis das Unfallgeschehen protokolliert, die Spuren gesichert, die Autowracks abtransportiert sind.
Die Leichen des Paares aus dem roten Citroen werden in die Pathologie überführt,.die Autowracks von der Staatsanwaltschaft sichergestellt.
Am späten Nachmittag sind alle Spuren verweht. Die Lache auf dem Straßenpflaster, wo aus einem der Wagen Kühlwasser ausgetreten war, ist eingetrocknet – und der Feierabendverkehr verwischt die letzten Reste der Kreidemarkierungen, die die Polizeibeamten auf den Asphalt gezeichnet hatten.
Über der Soester Börde geht ein heiterer Spätherbsttag in einen klaren und kalten Abend über. Der Himmel ist immer noch fast wolkenlos und die untergehende Sonne verbreitet ein warmes, goldenes Licht. Der Verkehr auf der B 516 fließt wieder reibungslos....
31. Oktober 2016, nachmittags....
Nachbesprechung im Polizeipräsidium Soest. Die beiden Toten aus dem roten Citroen sind rasch identifiziert . Ein stadtbekanntes Ehepaar ...Er: Geschäftsführer des örtlichen Tennisclubs, sie : Gästeführerin beim Fremdenverkehrsamt.
„Sind die Angehörigen schon benachrichtigt?“ fragt Polizeirätin Kerstin M. vom Verkehrskommissariat. „Ja – der Kollege ist unterwegs...“
Am Abend wissen die vier erwachsenen Söhne, die alle nicht mehr in Soest wohnen, dass ihre Eltern tot sind .
Wie konnte es zu diesem Unfall kommen? An dieser Kreuzung, die zumindest von der einen Seite her so gut eingesehen werden kann, dass jeder Wagen schon von weitem zu sehen ist? Das Unfallgutachten der Staatsanwaltschaft wird erst gegen Ende des folgenden Jahres veröffentlicht. Aber auch dieses Gutachten gibt keine wirkliche Antwort .Der Citroen war technisch einwandfrei und es gab keine Bremsspuren am Unfallort . Offensichtlich sei Klaus W. ,der Fahrer des Wagens, ohne auf den Verkehr zu achten in die Kreuzung eingefahren, heißt es. . Die Rede ist von einem „verhängnisvollen Fahrfehler“. Er habe das Stoppschild ignoriert . Die Staatsanwaltschaft „schließt gesundheitliche Probleme nicht aus“ – andererseits soll es aber im Obduktionsbericht keinerlei Hinweise auf gesundheitliche Probleme gegeben haben– weder auf einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt am Steuer, noch auf reaktionshemmende Medikamente….
Noch während die beiden Toten obduziert werden, tritt im Hause des ältesten Sohnes in Münster der Familienrat zusammen.
Keine Zeit zum Trauern. Formalitäten erledigen, Trauerfeier und Beisetzung vorbereiten, Freunde und Bekannte der Toten informieren, Haushalt auflösen...
Die Eltern – insbesondere der Vater - hatten einen großen Bekanntenkreis – und von den meisten kennen seine Kinder noch nicht einmal die Namen.
04. November 2016, mittags....
Mario, der älteste Sohn, sieht die Unterlagen seiner Eltern durch. Neben ihm auf dem Schreibtisch liegt das Smartphone seines Vaters, das wie durch ein Wunder den Unfall unbeschädigt überstanden hat. Einige Male in den vergangenen Tagen hat es SMS empfangen. Der Absender ist immer der gleiche. Einmal ist von einer Veranstaltung in Münster die Rede, einmal von einem Bild, das die Person seinem Vater schenken will... wer mag das sein? Mario wählt die Nummer an - legt aber unmittelbar nach dem ersten Klingeln wieder auf. Erst einmal die Menschen benachrichtigen, von denen er wenigstens die Namen kennt, weil sie im Telefonverzeichnis seines Vaters stehen....Er seufzt und greift zum Telefon...Unter den Menschen, die er anruft, ist auch die Frau , mit der seinen Vater seit zwölf Jahren eine innige und zärtliche Freundschaft verbindet. Aber das weiß er nicht – und er kann auch nicht wissen, dass die gewollt nüchterne Art, in der er sie vom Tod seines Vaters informiert und in die er sich flüchtet, um nicht im Gefühlschaos zu versinken ihr den Boden unter den Füßen wegzieht...
Erster Teil: Rückblende
07. Juni 2004 - ER an SIE – SMS:
„Ich laufe seit Stunden mit einem Phantasiegedanken mit Degen durch die Gegend. Hätte lieber von Dir küssen lassen...“ und später: „Da sitze ich nun im Sonnenschein und freue mich, dass ich Dir begegnet bin...“
Der erste Eindruck war enttäuschend.
In dem Gütersloher Restaurant, in dem sie sich verabredet hatten, wartete ein distinguierter Herr mittleren Alters – mittelgroß, mittlere Figur, Brille, rotblondes, stark gelichtetes Haar und irgendein Gesicht.
Sie war ernüchtert, denn sie hatte mehr erwartet. „Nichts Aufregendes“, dachte sie, als sie ihm zur Begrüßung die Hand reichte. „Aber vielleicht ist ja ein Engagement drin...“
Er hatte sie um das Treffen gebeten, weil er jemanden für das Sommerfest seines Tennisclubs suchte. Sie trat gelegentlich als Kabarettistin und Diseuse auf und einer seiner Arbeitskollegen hatte sie bei einer Gewerkschaftsveranstaltung erlebt und ihm von ihr erzählt. Dabei stellte sich heraus, dass er sie bereits kannte, wenn auch aus einem ganz anderen Zusammenhang: Sie war ihm in einer Social Community aufgefallen. Einige Formulierungen in ihrem Profiltext hatten ihn neugierig gemacht und er hatte sie angeschrieben. Der witzige und leichte Email-Wechsel, der sich dann entwickelte , hatte ihre Phantasie gereizt – aber jetzt, bei ihrem ersten Treffen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass DIESER gesetzte Herr tatsächlich der Verfasser dieser Mails gewesen sein sollte. Nun gut, dachte sie... dann wird es wohl bei dem geschäftlichen Kontakt bleiben - Aber dann kam alles ganz anders – denn er lächelte. Und damit knipste er in ihrer Seele das Licht an – nur durch dieses Lächeln. Alles um sie herum wirkte plötzlich viel heller und wärmer. Eigentlich wusste sie doch gar nichts von diesem Mann, kannte nur seine Mails – aber plötzlich erschien er ihr so vertraut, als ob sie einander schon seit Urzeiten kennen würden. Und so nahm diese Begegnung eine Wendung, die sie wohl beide nicht erwartet hatten:
Aus dem Engagement wurde nichts – aber es begann eine innige und zärtliche Freundschaft, die mehr als zwölf Jahre halten sollte .
„Ich bin ein Mann auf den Zweiten Blick“, hatte er lachend gesagt, als sie ihn fragte, wie er sich selber beschreiben würde. Ein Mann auf den Zweiten Blick.... das stimmte aufs Haar. Aber was machte ihn so faszinierend? War es sein Charme? War es seine freundliche Zugewandheit, mit der er seinem Gegenüber das Gefühl gab, wichtig und einmalig zu sein ?
„Er war ein Seelenfänger...“ sagte ihr später eine Frau, die ihn schon seit Jahrzehnten kannte.. „Wenn er mit jemandem zusammenarbeiten wollte, konnte er die betreffende Person um den Kleinen Finger wickeln.“ Manche Leute nennen so etwas „Charisma“ - aber es war wohl mehr als das: Dieser Mann liebte das Leben – und er strahlte eine fröhliche Menschenliebe aus, die ihn auch in scheinbar unleidlichen Zeitgenossen etwas Positives finden ließ . Oder war es seine Religiösität? So etwas wie praktizierte christliche Nächstenliebe? Als sie sich schon etwas länger kannten, erzählte er ihr einmal, er sei in seiner Jugend Ministrant gewesen und habe ursprünglich Priester werden wollen. Aber der Gedanke an den Zölibat habe ihn abgeschreckt.
In ihrem ersten Gespräch spielte das alles natürlich noch keine Rolle. Sie war in seiner Gegenwart sehr schnell aufgetaut, hatte Vertrauen zu ihm gefasst und natürlich versucht, zu glänzen – hatte ihre Kenntnisse über Cabaret und Satire hervorgeholt und ihm ein verlockendes Programm vorgestellt, zu dem er eigentlich nur noch „ja“ sagen musste – und das Engagement wäre perfekt gewesen. Er nahm die Unterlagen, die sie mitgebracht hatte, an sich und sagte, er müsse zunächst einmal mit seinen Vorstandskollegen darüber sprechen – aber er werde sie auf jeden Fall im Auge behalten. Dann redeten sie über andere Dinge – er fragte sie nach ihrem beruflichen Werdegang und sie erzählte von ihrer Erwerbslosigkeit und der Schwierigkeit, als Künstlerin Fuß zu fassen. Er hörte aufmerksam zu - mit jenem freundlichen Interesse, das für ihn charakteristisch war und ihr doch auf einer Ebene mehr signalisierte als pure Höflichkeit. Irgendwann sagte sie spontan: „Ich fühle mich unglaublich wohl in Deiner Nähe – das könnte meinetwegen immer so weitergehen. Ich habe Vertrauen zu dir – obwohl wir uns doch kaum kennen...“ Das sei ein großes Kompliment, erwiderte er – sie plänkelten noch ein bisschen herum, wie sie es von ihren E-Mail-Wechseln gewohnt waren und dann sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln: „Aber nicht verlieben....“ - und sie lachten beide... Sich verlieben... nein... das hatte sie nicht vor – sie hatte noch genug vom letzten Mal – von dieser aussichtslosen und deprimierenden Obsession für einen ehemaligen Arbeitskollegen, der sie abgewiesen hatte. „Nein danke – vom Verlieben habe ich die Nase voll...“ sagte sie ziemlich brüsk. „Habe ich dich gekränkt?“ fragte er jetzt leise und behutsam.... und da brach es aus ihr heraus...
„Ich glaube, wir sollten irgendwohin gehen wo es ein bisschen ruhiger ist.“ sagte er, als sie kurz Luft holte. „Hier hören mir zu viele Leute zu...“ Sie verließen das Restaurant und sie lotste ihn an einen ruhigen Platz im Grünen. Dort setzten sie das Gespräch, in dem sie sich diesem „fremden“ Mann offenbarte. fort – und in ihr wuchs der Wunsch nach mehr... sie spürte, dass sie ihn WOLLTE – diesen „Mann auf den Zweiten Blick“. War es seine Art, zuzuhören – ohne Kommentare und Ratschläge von sich zu geben? War es sein Lächeln... oder die zärtliche Berührung, als er ihr irgendwann über das Gesicht strich? Sie erwiderte seine Zärtlichkeit und wurde dabei ein bisschen massiver, als „man“ es von einer „anständigen Frau“ erwartet. Er reagierte mit einer Mischung aus gespieltem Schockiert-Sein, Neugierde und Amüsement und wehrte behutsam ab. Später gestand er ihr, dass er sofort fasziniert gewesen sei von ihrer offensiven und herausfordernden Art. Das hatte ihn gereizt – ihre unverholene sexuelle Freizügigkeit Zu Beginn war sie in seinen Augen die leibhaftige Verkörperung all der Männerphantasien, in denen die sexuell aktive und herausfordernde Frau eine Rolle spielt...
Wenige Wochen später begegnete sie ihm wieder - bei einer Veranstaltung über Unternehmensethik. Sie entdeckte seinen Namen auf der Teilnehmerliste und suchte den Saal nach ihm ab – fand ihn schließlich im intensiven Gespräch mit einem der Referenten. In der Pause sprach sie ihn an – und wie selbstverständlich stieg sie später zu ihm ins Auto. „Schön, dass ich dich wiedersehe...ich glaube, ich mag dich...“, sagte sie zu ihm. Er lachte, legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss. Es war ein kleiner Überfall – aber seine zupackende Art gefiel ihr. Sie war daran gewöhnt, selber die Initiative zu ergreifen und Zärtlichkeiten einzufordern – dass jemand sie küsste, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, hatte sie noch nie erlebt. Zwischen ihnen beiden knisterte es, sie merkte, dass er genau so viel Lust auf sie hatte, wie sie auf ihn... schließlich landeten sie in einem Motel in der Nähe der Autobahnauffahrt. Er war behutsam, zärtlich, verspielt – und gleichzeitig fordernd … „Sehe ich dich wieder?“ frage sie, als er sie später in der Innenstadt absetzte. Er lächelte und antwortete: “Vielleicht...:“ Später schrieb er:
„Schön war, wie wir mit einander kuschelten. Das Gefühl, dir Behütung geben zu können hat mich sehr glücklich gemacht. ….“
Das Wort „Behütung“ rührte sie – sprach eine Sehnsucht in ihr an ... sie gab ihr nach und hielt die Verbindung ... Kurz darauf besuchte er sie, als sie einige Tage Strohwitwe war. Er kam – ganz der seriöse Besucher - mit einem Blumenstrauß. Sie hatte im Wohnzimmer den Teetisch gedeckt – irgendwann kniete sie sich neben seinen Stuhl, legte die Arme um ihn und küsste ihn – und plötzlich lagen sie eng in einander verschlungen auf dem Teppich. Danach schämte er sich zunächst für den „Überfall“ – aber als sie ihm sagte, wie sehr sie es genossen hatte, schrieb er ihr: „So wie Du für mich, muß Cleopatra für Caesar gewesen sein....“. Von da an nannte er sie „Cleo“ und sie ihn „Caesar Imperator“. Später, als sie seine spirituelle Ader entdeckte, kam der Name „Merlin“ dazu.
Irgendwann entdeckte sie in einem Antiquariat eine illustrierte Ausgabe von Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Das Tagebuch“. Dieses Gedicht hatte sie schon immer geliebt – sie kaufte das Buch und schickte es ihm in die Firma. Das kleine Geschenk wurde prägend für die Privatsprache, die sie für einander erfanden , denn Goethe nennt den eigenwilligen Kleinen Kollegen des Mannes, der sich ja nicht immer so verhält wie sein Eigentümer es erwartet „Meister Iste“. Diese Bezeichnung übernahm ER, kürzte den Namen mit M.I. ab – und immer, wenn er Sehnsucht nach ihr hatte, schrieb er „M.I. will zu Muschi“. - Sie sahen einander selten und schrieben sich oft. Und diese Mails wurden im Laufe der Zeit inniger und zärtlicher. Was zunächst nur ein erotisches Herumgeplänkel voller witziger Anspielungen gewesen war, gewann schnell an Tiefe, wurde geprägt von ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und von seiner Sehnsucht nach Verstanden-Werden. Der Sommer 2004 war sonnig und warm und sie war viel unterwegs. Einerseits weil sie versuchte, sich mit einer ausgefallenen Geschäftsidee selbständig zu machen – andererseits weil sie anfing, ihre sexuelle Anziehungskraft auszuloten. An vier Vormittagen in der Woche fuhr sie in die Stadt und setzte sich im Dachgeschoss eines Einfamilienhauses vor die Webcam. Dieser Job gefiel ihr – auch wenn sie nur selten aufgerufen wurde. Sie genoss das Prickeln , das gefahrlose Spielen mit den Unbekannten, die sie nie persönlich kennen lernen würde, das Begehren, das sie hervorrief.
Ab und zu verabredete sie sich mit ihrem Geliebten, wenn er Feierabend hatte und seine Zeit es zuließ – sie suchten sich einen unbeobachteten Platz und liebten sich im Freien – im Schutz hoher Bäume, verborgen im Unterholz oder vom hoch stehenden Mais im Maisfeld - manchmal auch irgendwo auf einer einsamen Wiese... das behielten sie bei bis zum Schluss - wann immer ihre Zeit und das Wetter es erlaubten. Zuletzt war es ein ganz bestimmter Ort in einem lichten Kiefernwald gewesen, nicht weit von ihrem Haus entfernt. Oft sagte sie zu ihm: „Wenn ich nicht mindestens einmal mit Dir unter den Bäumen liegen konnte, war der Sommer für mich kein Sommer...“ . Sie liebte das Gefühl des lauen Windes auf ihrer nackten Haut und den Anblick seines Gesichts, auf das die durch die Zweige flirrenden Sonnenstrahlen ihre Lichter warfen. Seine gebräunte Haut, denn er war im Sommer viel im Freien ... für sie war es, als umarme sie den Sommer schlechthin. Nach einem solchen verstohlenen Treffen bekam sie noch im Juli dieses ersten Jahres eine Mail:
“Guten Morgen, Du liebe Freundin - glücklich bin ich, in Dir einen solchen Menschen gefunden zu haben.... danke das es Dich gibt, danke das ich Dir begegnen durfte. Unser anschließendes Telefongespräch war ein wunderbarer Abschluss, mit soviel Tiefgründigkeit, Harmonie, Übereinstimmung, größer und schöner kann es nicht sein. Nachdenken muss ich bereits, bin ich noch frei, hab ich meine Freiheit bereits verloren,....Dennoch gibst Du Freiheit, sowohl in Gedanken als auch in der Bewegung. Keine Forderung, nur Wünsche....warte, es wird geschehen so es sein soll, aber bin ich dann noch frei????? Was aber ist frei? Nur die Gedanken, die Bewegung, ich lass es geschehen und bin dennoch gefangen in Gedanken und Gefühlen......
Ave Dir Königin des freien Gedankens”
Diese Freiheit.... zunächst war es für sie ja nicht schwer gewesen, ihn an der langen Leine zu führen, denn es war nur ein spielerisches Sich-Ausprobieren für sie. Sie wollte sich selbst bestätigen, sich von der lähmenden Obsession für diesen Arbeitskollegen kurieren, der sie abgewiesen hatte. Irgendwann im Frühherbst bekam sie eine SMS:
“Ich wollte, wir lägen jetzt in einander verschlungen unter einem Baum. Die letzten Sonnenstrahlen streicheln uns und wir trinken einander....”
Sie lächelte, als sie das las.... es war schön, dass er sie SO sehr wollte...
Aber als er ihr kurz darauf schrieb.
„Liebe im landläufigen Sinne kann ich Dir nicht geben. Aber Zuneigung, Respekt, Deine Seele....“
da begann sie ihm zu verfallen. Und das Spiel hörte auf, ein Spiel zu sein.
Ihre Seele... niemand sonst hatte danach gefragt.
Und so ließ sie sich ein auf diesen „Mann auf den Zweiten Blick“ er fing an, sie zu bezaubern. Da war etwas... sie konnte es nicht benennen – aber es machte sie neugierig, zog sie immer mehr in seinen Bann...
Sie hatte keine Fragen gestellt, aber angefangen zu recherchieren, sobald sie seinen Namen kannte. Dadurch verlor für sie beide diese Beziehung ihre Unverbindlichkeit und vielleicht auch einen Teil ihrer Unbeschwertheit – aber sie wussten jetzt mehr voneinander. Dass sie recherchierte, erfüllte ihn zunächst mit Unbehagen –aber bald spürte er, dass er ihr vertrauen konnte. Und so begann er, von sich zu erzählen. Von seiner Familie, von seiner Arbeit, von dem was ihn bewegte: vor allem von seinem sich langsam herauskristallisierenden Hang zum Spirituellen, der bei seiner Frau auf Unverständnis stieß ... Sie fand das spannend, denn sie suchte selber nach einem Halt in ihrem Leben - und so konnte sie es durchaus nachvollziehen, dass er anfing, sich Fragen zu stellen, die über das Alltägliche hinausgehen ...
Es ist verständlich, dass ein Mensch, der sich selbst als erfolgreich betrachtet, an einem bestimmten Punkt seines Lebens fragt: „War das jetzt alles?“ und: „Was kommt danach?“ Jeder Mensch -mancher früher, mancher später …fängt irgendwann an, sich diese Fragen zu stellen, sofern er nicht in der Tretmühle des bloßen Überleben-Müssens feststeckt. Irgendwann kommen wir zu der Erkenntnis, dass unsere Lebenszeit nicht unbegrenzt ist – dass wir endlich sind. Und dann werden wir nachdenklich, versuchen vielleicht auch, Versäumtes nachzuholen, obwohl das gar nicht geht. Manche Menschen bezeichnen diesen Zustand als „Midlife-Crisis“. Aber das ist es nicht, sondern es ist eine der großen Chancen, die wir im Leben haben,dass wir - oft zu einem Zeitpunkt, an dem das äußere Leben zu einem Haltepunkt gekommen ist, weil die berufliche Entwicklung stagniert, das Haus abbezahlt ist und die Kinder erwachsen geworden sind – die Möglichkeit bekommen , uns auf uns selbst zu besinnen. Sie selber sah sich zwar als einen Menschen, der auch in seinen mittleren Jahren immer noch unterwegs war – aber er weckte ihr Interesse für die Fragen, die ihn bewegten. Also begann sie, ihrerseits Fragen zu stellen, die Bücher zu lesen, die er ihr schenkte und mit ihm darüber zu reden. Das alles wurde zu einem immer fester werdenden Band zwischen ihnen, das schließlich über das spielerisch-erotische weit hinausging.
Nach und nach kam ihr Zusammensein in geordnete Bahnen – weiterhin telefonierten und schrieben sie häufig und sahen einander selten. Höhepunkt jeden Jahres war die EINE gemeinsame Nacht, wenn er zu einer Weiterbildung seiner Berufsvereinigung fuhr. Dann besuchte sie ihn in seinem Tagungshotel, sie aßen gemeinsam zu Abend und sie blieb über Nacht – EINE Nacht mit intensiven Gesprächen, viel Zärtlichkeit und wenig Schlaf. Als sie sich das erste Mal auf diese Weise verabredet hatten, wurden sie beide irgendwann in der Nacht gleichzeitig wieder wach und liebten sich noch einmal im Dunkeln. „Was tust du mit mir?“ flüsterte er, als er in sie eintauchte. Später sagte er, in dieser Nacht habe er ihr „wahres Selbst“ gesehen:
„Ich habe Dich einen Augenblick lang so gesehen, wie Du mit 80 Jahren aussehen wirst. Und Du wirst keine Fratze haben, sondern ein hübsches Gesicht. Und wenn es anders wäre, könnte ich gar nicht mir Dir verkehren.“
Jedes Mal fieberte sie dem Treffen entgegen, voller Angst, dass etwas in letzter Minute den Termin verhindern könnte. Sie kam am späten Nachmittag in das Hotel, ließ sich von ihm den Zimmerschlüssel geben und erwartete ihn in der Wärme und Verschwiegenheit des Hotelzimmers. Der Abschied am nächsten Morgen fiel ihr jedes Mal sehr schwer und sie versuchte ihn hinauszuzögern, so lange es irgend ging. Meistens blieb sie noch im Bett liegen und schaute ihm zu, wenn er sich anzog und sich sorgfältig zurecht machte für den Tag. Sie liebte die geschmeidige und lässige Art, in der er sich bewegte – „wie ein schöner, großer Kater, der sich putzt“, dachte sie, wenn sie ihm zusah. Sie vermieden es, gemeinsam gesehen zu werden – deshalb wartete sie, bis er vom Frühstück zurückkam, dann verabschiedeten sie sich zärtlich voneinander, er ging in sein Seminar und sie verließ verstohlen das Hotel.
Manchmal dachte sie zu Hause kurz vor dem Einschlafen an den Weg, den sie zurücklegte, um zu IHM zu kommen. Die Bahnfahrt in den beginnenden Abend hinein, die letzte Strecke mit dem Bus bis zur Haltestelle beim Tagungshotel, der Weg durch die dunkle Straße - die Runde über den Parkplatz und das Aufatmen, wenn sie seinen Wagen dort fand. Und immer genoss sie beim Hinübergleiten in den Schlaf das Gefühl der Geborgenheit, das sie auch in dem Augenblick empfand, wenn sich die Tür des Hotelzimmers hinter ihr schloss. Anfang Dezember 2015 trafen sie sich so zum letzten Mal. Wenn sie geahnt hätten, dass diese Begegnung die letzte dieser Art sein würde – hätten sie sie dann anders gestaltet? Sie wollte aus diesem Treffen etwas Besonderes machen: | |