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Landurlaub


 
 
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joycec
Gänsefüßchen


Beiträge: 25



Beitrag12.11.2019 16:09
Landurlaub
von joycec
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Landurlaub



Der Tisch, an dem ich saß, mochte einmal laminiert gewesen sein. Jetzt bestand sein Muster aus Ringen, die von Gläsern stammen mussten, aus denen der gleiche billige Gin getrunken worden war wie der, den ich vor mir hatte. Ich sah auf den Fluss hinaus, tauschte den Geruch nach Fisch und Abwasser gegen den des zur Unkenntlichkeit destillierten Wacholders und fühlte mich so fremd wie an jedem Ort der Welt.

Die Brünette, die in meinem Blickfeld saß, führte mit ihrem Zeigefinger kreisende Bewegungen auf dem gläsernen Rand aus, als wollte sie ein Lied begleiten, das von ihr handelte und von dem, auf den sie wartete. Ich zog meinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche. Vor mir lagen die Ansichtskarten, die ich mehr oder weniger wahllos aus einem Ständer am einzigen Laden gezogen hatte, den ich auf dem Weg hierher hatte finden können. Die Karten zeigten Ansichten, von denen ich keine kannte und nicht eine zu Gesicht bekommen würde. Ich wählte die erstbeste Rückseite und schrieb ein paar Zeilen.

„Hey Süße“, begann ich, „ich bin ziemlich weit weg von Zuhause, du würdest nicht erraten, wo ich gerade sitze. Tut auch nichts zur Sache.“
Die Dame gegenüber ließ ihren Blick über die Terrasse schweifen. Ihre Fingernägel wirkten etwas zu dunkel und ihre Lippen waren zu stark geschminkt, zumindest für meinen Geschmack. Ihr Kinn stand kantig hervor und ihre Augen hatten dunkle Ringe, von zu viel Gin oder zu vielen enttäuschten Blicken in Richtung der Tür. Sie trank einen Schluck, winkte einen weiteren Kerl vorbei, der sie angesprochen hatte, und bestellte ein weiteres Glas.

„Du fehlst mir!“, fuhr ich fort, weil mir nichts Sinnvolleres einfallen wollte. Ich strich über das Tattoo auf meinem Arm, fuhr ihre Initialen entlang und hatte sie glasklar vor Augen. Mir fehlte das Gefühl ihrer Locken, die durch meine Finger glitten, wenn ich sie morgens weckte und ihr über die Wange strich. Mir fehlte ihr Lächeln, das sie verriet, wenn sie so tat, als schliefe sie noch. Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm nahe.

Moskitos führten hektische Tänze um die wenigen Laternen auf, die an Kunststoffleinen hingen und ich stellte mir vor, wie derselbe Mond, der hier auf diesen Fluss und auf mich schien, die einzige Frau finden konnte, die mir etwas bedeutete. Ich fragte mich, ob sie gerade an mich dachte. Ich war nicht gern an Land, niemand von uns war das. Wenn ich an Land war, war es immer, als müsste ich nur weit genug gehen, um dorthin zu gelangen, wo ich jetzt besser sein sollte. Auf See war ich allein, ohne einsam zu sein, weil ich nur auf dem Weg zu einem Hafen war, in dessen Umgebung ich mir einen Tisch, einen Stuhl und ein Glas suchte, mit denen ich auf das erneute Auslaufen warten konnte.

„Ich liebe dich!“, schrieb ich, „Ich werde dich immer lieben!“ Der letzte Schluck war nicht kräftig genug, um mir meine Stimme zurückzugeben, also legte ich einen Schein auf den Tisch, nickte dem Kellner zu und stand auf. Die Karte legte ich der Brünetten hin, als sie sich umdrehte und eine erneute Bestellung winkte. Meine Süße würde sie nicht lesen, ich kannte ihre neue Adresse nicht, nicht einmal ihren neuen Namen. Beim Hinausgehen warf ich einen Blick über die Schulter. Die Brünette sah sich um und tupfte mit ihrer schmutzigen Serviette an ihren Augen herum. Ich hoffte für sie, einer ihrer Blicke möge nicht enttäuscht werden, glaubte aber nicht wirklich daran. Landurlaub. Keine Sehnsucht starb dabei, aber ständig wurden neue geboren.



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"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."
Ludwig Wittgenstein
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Gliese581
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Beitrag12.11.2019 16:30

von Gliese581
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Gefällt mir gut. Bildhafte Sprache. Gut zu lesen, interessanter Stil. Bringt eine Stimmung rüber. Ich würde weiterlesen und bin gespannt auf das ganze Buch.

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Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Albert Einstein
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joycec
Gänsefüßchen


Beiträge: 25



Beitrag12.11.2019 22:07

von joycec
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Gliese581 hat Folgendes geschrieben:
Gefällt mir gut. Bildhafte Sprache. Gut zu lesen, interessanter Stil. Bringt eine Stimmung rüber. Ich würde weiterlesen und bin gespannt auf das ganze Buch.


Vielen Dank für deinen Kommentar und das Lob! Das ganze Buch besteht - so fürchte ich - im Wesentlichen aus Kurzgeschichten von vergleichbarer Länge. Das rückt mal wieder die Frage ins Bewusstsein, ob die heutzutage überhaupt noch jemand liest.
Andererseits passt deren Umfang zur Wartezeit an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Arbeit. Und angesichts des Klimawandels ... wer fährt da zukünftig noch mit dem Auto? Wink


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Gliese581
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Beitrag13.11.2019 09:18

von Gliese581
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Bände mit Kurzgeschichten verkaufen sich in der Tat schlecht.
Ich hab aus einigen meiner Kurzgeschichten ein ganzes Buch gemacht. Das hat gut funktioniert.


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Anoa
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Beitrag13.11.2019 10:24

von Anoa
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Was ist denn das für eine gute Geschichte? Und gute Sprache, guter Stil. Kein Wort zu viel.

Da könnte man neidisch werden!


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Mona Ullrich, Berlin
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Gast







Beitrag13.11.2019 11:57
Re: Landurlaub
von Gast
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Mir gefällt es auch sehr gut, tanzt perfekt auf dem Drahtseil zwischen angedeutetem und gegenständlichen Schreiben (war es nicht John McGahern, der mal gesagt hat "the best writing is suggestive?").

Das einzige, was mir als verbesserungswürdig auffällt, ist dass zuweilen die Sätze etwas zu lang werden, also zu viele Nebensätze, zu viele Kommas.

joycec hat Folgendes geschrieben:


Sie trank einen Schluck, winkte einen weiteren Kerl vorbei, der sie angesprochen hatte, und bestellte ein weiteres Glas.



Ich denke ich weiss, was damit ausgesagt werden soll, aber das ist vielleicht etwas zu sehr angedeutet. Es scheint mir ein recht wichtiger Satz zu sein, in so fern könnte man da noch etwas dran feilen, zum Beispiel so:

Sie trank einen Schluck, wurde von einem Mann angesprochen, den sie mit einer flüchtigen Handbewegung abwies, und bestellte ein weiteres Glas.

An der Stelle passt die Satzlänge übrigens m.M. nach recht gut.

Ansonsten: Chapeau! So eine Sammlung von Kurzgeschichten würde ich gerne lesen.
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Leseprobe
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Beitrag13.11.2019 12:05

von Leseprobe
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Gefällt mir, gut geschrieben. Ein paar Kleinigkeiten würde ich vielleicht kürzen/ändern. Der Satz, über den ich am meisten stolperte, hat RAc schon angeführt.
Die Wendung am Ende so unterschwellig, unerwartet - gerade deswegen gefällt sie mir.


_________________
... diese gläserne Gegenwart ...
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silke-k-weiler
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Das goldene Schiff Der goldene Eisbecher mit Sahne


Beitrag13.11.2019 13:33

von silke-k-weiler
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Hi joycec,

das ist ein wunderschöner, melancholischer Text (der nebenbei wirklich neidisch macht), aber es gibt einen einzigen Satz, an dem ich hängen bleibe:

"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm nahe."

Ich habe den Satz mehrmals gelesen, und verstehe ihn irgendwie immer noch so:

Er erinnert sich an ihren Duft. Nicht stark genug, als dass er den des Flusses aus seiner Wahrnehmung schubst. Aber der des Gin kommt ihrem morgendlichen Bettgeruch nahe?  Embarassed  (Oder habe ich da mal wieder was nicht verstanden. Sonst ist da ja keinem was aufgefallen...)
Ich habe keine Flasche Gin hier, um es zu testen, habe daher eine Suchmaschine bemüht und auf einer Seite namens feel-gin.de gibt es eine Sammlung von Begriffen, die bei der Umschreibung von Geruch und Geschmack helfen sollen u.a. Blumig (naja, geht ja noch), wachholderlastig, fruchtig, holzig, mineralisch, Röstaromen, stechend, scharf, alkoholisch, ... Kreide, Schiefer, Ton, Teer, Benzin, Beton, ... , Feuchtes Laub, tierisch, feuchter Hund Laughing  

Verdammt, ich will morgens nicht neben einer Frau aufwachen, die nach feuchtem Hund und Benzin riecht, wenn ich die Decke zurückschlage. Das soll jetzt kein Scherz auf Deine Kosten sein, tut mir leid, ich hoffe, es kommt auch nicht so rüber, aber ich als Nicht-Trinker kann mit dem Vergleich nichts anfangen.
Jetzt könnte ich sagen, ok vorher steht etwas von "zur Unkenntlichkeit destilliertem Wacholder", ich könnte mir vorstellen, dass die Erinnerung ihren Geruch ebenfalls unkenntlich gemacht hat, sodass er nur noch als Hauch präsent ist. Trotzdem stolpere ich über diesen Satz.

Und ich hoffe, ich bin jetzt nicht in einen Fettnapf getreten.
Sonst passt alles! Daumen hoch

VG
Silke
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Gast







Beitrag13.11.2019 13:48

von Gast
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silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:


"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm [dem Geruch des Flusses] nahe."



so verstehe ich den Satz, und dann macht er wieder mehr Sinn, aber ist erstens trotzdem missverständlich formuliert und lässt zweitens immer noch Fragen offen...
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joycec
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Beitrag13.11.2019 13:56

von joycec
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Anoa hat Folgendes geschrieben:
Was ist denn das für eine gute Geschichte? Und gute Sprache, guter Stil. Kein Wort zu viel.

Da könnte man neidisch werden!


Vielen Dank! Very Happy


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joycec
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Beiträge: 25



Beitrag13.11.2019 14:00
Re: Landurlaub
von joycec
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Zitat:

joycec hat Folgendes geschrieben:

Sie trank einen Schluck, winkte einen weiteren Kerl vorbei, der sie angesprochen hatte, und bestellte ein weiteres Glas.

Ich denke ich weiss, was damit ausgesagt werden soll, aber das ist vielleicht etwas zu sehr angedeutet.


Vielen Dank für das Lob und deine Anmerkung. Da der Satz schon zweimal zum Stolpern geführt hat, darf der noch mal zwischen den Ohren kreisen und wird dann überarbeitet. Wink


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joycec
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Beitrag13.11.2019 14:02

von joycec
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Leseprobe hat Folgendes geschrieben:
Gefällt mir, gut geschrieben. Ein paar Kleinigkeiten würde ich vielleicht kürzen/ändern. Der Satz, über den ich am meisten stolperte, hat RAc schon angeführt.
Die Wendung am Ende so unterschwellig, unerwartet - gerade deswegen gefällt sie mir.


Vielen Dank! Der Stolperstein wird noch mal poliert.


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joycec
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Beitrag13.11.2019 14:09

von joycec
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silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:

"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm nahe."

Ich habe den Satz mehrmals gelesen, und verstehe ihn irgendwie immer noch so:

Er erinnert sich an ihren Duft. Nicht stark genug, als dass er den des Flusses aus seiner Wahrnehmung schubst. Aber der des Gin kommt ihrem morgendlichen Bettgeruch nahe?  
Und ich hoffe, ich bin jetzt nicht in einen Fettnapf getreten.

Aber voll rein. Laughing
Alles gut, der Gin riecht ja nach nix. ("... bis zur Unkenntlichkeit...") Dass ich das nicht trefflicher ausformuliert habe, lag vor allem an der Wortgrenze. Das war ein Beitrag zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb mit einer Wortgrenze von 600. Hier sind es genau 595. Da kann ich also noch mal etwas weiter ausholen.
Freut mich, dass der Text dir ansonsten gefallen hat. Und genau wegen solcher Feinheiten habe ich ihn ja hier eingestellt.

Danke!


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silke-k-weiler
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Das goldene Schiff Der goldene Eisbecher mit Sahne


Beitrag13.11.2019 14:53

von silke-k-weiler
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Zitat:
silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:


"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm [dem Geruch des Flusses] nahe."



so verstehe ich den Satz, und dann macht er wieder mehr Sinn, aber ist erstens trotzdem missverständlich formuliert und lässt zweitens immer noch Fragen offen...


Genau so habe ich ihn auch zu lesen versucht. Aber dann lässt er - wie Du schreibst - zusätzlich Fragen offen. Und schließlich ... "Bitte denken Sie jetzt nicht an rosa Elefanten" ... kam ich immer wieder auf die Verknüpfung "ihr Duft - Geruch des Gins" zurück. Weil auf dem Duft für mich das Augenmerk lag. Da habe ich auf eine Auflösung gewartet. Das gab dem Satz eine unfreiwillige Komik, die für mich ein Schlagloch in der sonst gelungenen Stimmung darstellt.
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joycec
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Beitrag13.11.2019 14:58

von joycec
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Ich bin verwirrt.
Ich habe beide Stellen geändert. Wenn ich jetzt aber "Neue Version" anhake, wird der Text in die Werkstatt verschoben. Surprised
Also dann hier erst mal meine Änderungen, dann wende ich mich vielleicht doch mal an die Mods:
Zitat:
Sie trank einen Schluck und betrachtete ihr Glas, als stünde ihre Geschichte darin. Einen jungen Kerl in weißer Uniform, der sich vor ihrem Tisch in Position brachte, winkte sie vorbei, ohne den Blick zu heben.

Zitat:
Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber der unaufdringliche Gin erlaubte mir wenigstens, meine Erinnerung für einen weiteren Schluck zu bewahren.


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Gast







Beitrag13.11.2019 15:12

von Gast
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silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:


"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm [dem Geruch des Flusses] nahe."



so verstehe ich den Satz, und dann macht er wieder mehr Sinn, aber ist erstens trotzdem missverständlich formuliert und lässt zweitens immer noch Fragen offen...


Genau so habe ich ihn auch zu lesen versucht. Aber dann lässt er - wie Du schreibst - zusätzlich Fragen offen. Und schließlich ... "Bitte denken Sie jetzt nicht an rosa Elefanten" ... kam ich immer wieder auf die Verknüpfung "ihr Duft - Geruch des Gins" zurück. Weil auf dem Duft für mich das Augenmerk lag. Da habe ich auf eine Auflösung gewartet. Das gab dem Satz eine unfreiwillige Komik, die für mich ein Schlagloch in der sonst gelungenen Stimmung darstellt.


Hallo Silke,

interessanterweise hat mich der Satz - nachdem Du ihn mit deiner Nachfrage ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hast - auch in die Irre geführt, obwohl ich die "Vergleichshierarchie" nicht in Zweifel gezogen habe...

Ich hatte zuerst gar nicht an den wirklich realen Flussgestank gedacht, sondern das Ganze mehr als "Seemannsbraut ist die See" Ausgestaltung verstanden. So nach dem Motto "keine Frau kann in ihrer Unwiderstehlichkeit mit der See mithalten, also wird ihr Geruch nicht gegen dem Meeresgeruch ankommen." Der Gin als Zweitbeste Annäherung passt dann auch irgendwie.

Allerdings bin ich in der Lesart dann natürlich darüber gestolpert, dass ihr Geruch gegen den Fluss und nicht die See verglichen wird. Ein echter Matrose wird sich natürlich niemals mit einem Fluss zufrieden geben, aber wenn seine am Meisten Geliebte noch nicht mal "gegen einen Fluss anstinken" kann, was die Attraktivität angeht - puh, dann ist der Drang nach Wasser um so viel grösser als seine Liebesfähigkeit, dass alle seine Beteurungen, wie sehr sie ihm fehlt, eher unglaubwürdig wirken.

Also wenn man in der Geschichte Fluss durch See ersetzen würde, wäre das sogar eine Ambiguität, die im Raum stehen gelassen werden kann und weiteren Denkstoff liefert.
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silke-k-weiler
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Beitrag13.11.2019 17:34

von silke-k-weiler
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Zitat:
silke-k-weiler hat Folgendes geschrieben:


"Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber ich redete mir ein, der des Gins käme ihm [dem Geruch des Flusses] nahe."



Also wenn man in der Geschichte Fluss durch See ersetzen würde, wäre das sogar eine Ambiguität, die im Raum stehen gelassen werden kann und weiteren Denkstoff liefert.


Ich finde, das ist ein sehr guter Gedanke. Aber diese Interpretation lese ich aus der neuen Version auch noch nicht heraus. Dein Vorschlag würde gut zu dem folgenden Abschnitt passen mit  "Ich war nicht gern an Land, niemand von uns war das. usw", quasi als Hinführung.
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joycec
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Beitrag14.11.2019 15:26
Landurlaub
von joycec
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Der Vollständigkeit halber - und auch wenn das hier nicht die Werkstatt ist - füge ich hier mal die Version mit den beiden überarbeiteten Stellen ein.
Danke für die Hinweise! Daumen hoch

Landurlaub



Der Tisch, an dem ich saß, mochte einmal laminiert gewesen sein. Jetzt bestand sein Muster aus Ringen, die von Gläsern stammen mussten, aus denen der gleiche billige Gin getrunken worden war wie der, den ich vor mir hatte. Ich sah auf den Fluss hinaus, tauschte den Geruch nach Fisch und Abwasser gegen den des zur Unkenntlichkeit destillierten Wacholders und fühlte mich so fremd wie an jedem Ort der Welt.

Die Brünette, die in meinem Blickfeld saß, führte mit ihrem Zeigefinger kreisende Bewegungen auf dem gläsernen Rand aus, als wollte sie ein Lied begleiten, das von ihr handelte und von dem, auf den sie wartete. Ich zog meinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche. Vor mir lagen die Ansichtskarten, die ich mehr oder weniger wahllos aus einem Ständer am einzigen Laden gezogen hatte, den ich auf dem Weg hierher hatte finden können. Die Karten zeigten Ansichten, von denen ich keine kannte und nicht eine zu Gesicht bekommen würde. Ich wählte die erstbeste Rückseite und schrieb ein paar Zeilen.

„Hey Süße“, begann ich, „ich bin ziemlich weit weg von Zuhause, du würdest nicht erraten, wo ich gerade sitze. Tut auch nichts zur Sache.“
Die Dame gegenüber ließ ihren Blick über die Terrasse schweifen. Ihre Fingernägel wirkten etwas zu dunkel und ihre Lippen waren zu stark geschminkt, zumindest für meinen Geschmack. Ihr Kinn stand kantig hervor und ihre Augen hatten dunkle Ringe, von zu viel Gin oder zu vielen enttäuschten Blicken in Richtung der Tür. Sie trank einen Schluck und betrachtete ihr Glas, als stünde ihre Geschichte darin. Einen jungen Kerl in weißer Uniform, der sich vor ihrem Tisch in Position brachte, winkte sie vorbei, ohne den Blick zu heben.

„Du fehlst mir!“, fuhr ich fort, weil mir nichts Sinnvolleres einfallen wollte. Ich strich über das Tattoo auf meinem Arm, fuhr ihre Initialen entlang und hatte sie glasklar vor Augen. Mir fehlte das Gefühl ihrer Locken, die durch meine Finger glitten, wenn ich sie morgens weckte und ihr über die Wange strich. Mir fehlte ihr Lächeln, das sie verriet, wenn sie so tat, als schliefe sie noch. Ihr Duft, wenn ich die Bettdecke anhob, kam nicht gegen den des Flusses an, aber der unaufdringliche Gin erlaubte mir wenigstens, meine Erinnerung für einen weiteren Schluck zu bewahren.

Moskitos führten hektische Tänze um die wenigen Laternen auf, die an Kunststoffleinen hingen und ich stellte mir vor, wie derselbe Mond, der hier auf diesen Fluss und auf mich schien, die einzige Frau finden konnte, die mir etwas bedeutete. Ich fragte mich, ob sie gerade an mich dachte. Ich war nicht gern an Land, niemand von uns war das. Wenn ich an Land war, war es immer, als müsste ich nur weit genug gehen, um dorthin zu gelangen, wo ich jetzt besser sein sollte. Auf See war ich allein, ohne einsam zu sein, weil ich nur auf dem Weg zu einem Hafen war, in dessen Umgebung ich mir einen Tisch, einen Stuhl und ein Glas suchte, mit denen ich auf das erneute Auslaufen warten konnte.

„Ich liebe dich!“, schrieb ich, „Ich werde dich immer lieben!“ Der letzte Schluck war nicht kräftig genug, um mir meine Stimme zurückzugeben, also legte ich einen Schein auf den Tisch, nickte dem Kellner zu und stand auf. Die Karte legte ich der Brünetten hin, als sie sich umdrehte und eine erneute Bestellung winkte. Meine Süße würde sie nicht lesen, ich kannte ihre neue Adresse nicht, nicht einmal ihren neuen Namen. Beim Hinausgehen warf ich einen Blick über die Schulter. Die Brünette sah sich um und tupfte mit ihrer schmutzigen Serviette an ihren Augen herum. Ich hoffte für sie, einer ihrer Blicke möge nicht enttäuscht werden, glaubte aber nicht wirklich daran. Landurlaub. Keine Sehnsucht starb dabei, aber ständig wurden neue geboren.


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