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Reizwortgeschichte - Ferragosto

 
 
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Hypatia88
Gänsefüßchen
H


Beiträge: 26
Wohnort: Offenbach am Main


H
Beitrag14.10.2019 17:23
Reizwortgeschichte - Ferragosto
von Hypatia88
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

So, hier mein Versuch mit der Reizwortgeschichte. Ich persönlich bin nicht ganz zufrieden mit meiner Darstellung der psychologischen Entwicklung, da hatte ich ein Problem damit dass es nicht zu lang werden sollte. Naja, zum kritisieren seid ja ihr da, ich freue mich über jedes feedback.



Florenz, 15. August 1489

 In den Straßen der Stadt Florenz herrschte an diesem Abend ausgelassenes Gedränge. Man beging das Fest der Himmelfahrt Mariens. Da Maria die Schutzheilige der Stadt war, wurde dieser im Volksmund „Ferragosto“ genannte Feiertag jedes Jahr mehrere Tage lang aufwändig zelebriert. Zwischen Buden, die Essen und Wein verkauften, wurden auf hölzernen Bühnen religiöse Schauspiele dargeboten. Den meisten der Feiernden stand der Sinn jedoch mehr nach weltlicher Zerstreuung. Den Tag über hatte eine selbst für diese Jahreszeit ungewöhnliche Gluthitze geherrscht und auch jetzt, nach Sonnenuntergang, strahlten die Pflastersteine der Straßen noch Wärme ab, in den engen Gassen war die Luft stickig und drückend. Vom Arno, der nach den Abwässern der Gerbereien am Flussufer stank, kamen Myriaden von Stechmücken in die Stadt, doch all dies vermochte die Stimmung nicht zu bedrücken.

Drei halbwüchsige, schon reichlich angetrunkene Jungen bewegten sich durch die Menge in der Via de Panzani, in Richtung der Dominikanerkirche Santa Maria Novella, vor der sich ein freier Platz befand. Die Jünglinge waren wie die meisten ihres Alters modisch gekleidet, in engen Hosen, kurzen, farbigen Wämsern mit Schnürung und flachen Mützen auf dem halblang getragenen Haar. Der auffälligste von ihnen war Luca di Gentile, ein hübscher Knabe von fünfzehn Jahren mit rotbraunem, weich gelocktem Haar und großen, dunklen Augen. Er wurde begleitet von seinen Freunden Sergio und Carlo, Brüdern, die beide groß und schlaksig waren und die Hakennase ihres Vaters geerbt hatten. Sie hatten sich alle untergehakt und schoben sich durch das Gedränge, lachend, Witze reißend und lautstarke Grüße mit Bekannten austauschend. Schließlich erreichten sie die Piazza, die dominiert wurde von der herrlichen, grün-weißen Marmorfassade der Ordenskirche. Vor dem Gotteshaus hatte sich eine dichte Traube von Menschen gebildet und die Jungen näherten sich in der Hoffnung auf Unterhaltung, vielleicht eine Truppe von Gauklern. Als sie sich langsam einen Weg nach weiter vorn bahnten, erkannten sie jedoch, dass der Grund des Auflaufs nur ein hagerer Mönch in der schwarzweißen Kutte der Dominikaner war, der von einer hölzernen Kanzel herab eine Predigt hielt. Der Mann schrie beinah, um gegen das Stimmengewirr des Platzes anzukommen.

„Und wenn ich von diesem Übel in unserer Mitte spreche, eines der größten Übel, das unsere Stadt schon lange beherrscht, dann wisst ihr, welches ich meine“. Der Mönch hob die Stimme noch weiter, bis sie zu einem Kreischen wurde, das einen triumphierenden Klang hatte. „Ich meine die widernatürliche Sünde der Sodomie! Oh ja, ich weiß, viele in diesem Höllenpfuhl, diesem Babylon sind ihr verfallen...“.

„Ihr vögelt doch selbst eure jungen Novizen!“, rief Carlo laut, als der Prediger Luft holte. Einige um ihn herum lachten, andere murmelten empört. Ein bulliger Mann drohte Carlo sogar mit der Faust, indem er ihn anfuhr: „Halt den Mund, du Flegel!“

„Kommt, wir gehen, ich brauche heute Abend keine Moralpredigt mehr und auch keine Tracht Prügel“, sagte Sergio lachend und zog an Lucas Arm. Dieser aber zögerte, die Augen auf den Mönch gerichtet. Sein Mund hatte sich seltsam verzogen, sein Blick schien plötzlich abwesend.

Der Prediger fuhr unterdessen ungerührt fort. „Christus selbst sagt uns im Matthäusevangelium:

‚Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt‘. Hört die Worte des Herrn, Bürger von Florenz, und handelt danach!“

„Nun komm schon“, drängte Sergio, „das ist doch langweilig! Lass uns noch etwas trinken“. Diesmal folgte Luca ihm und Carlo zur nächsten Weinschenke, doch er war auf einmal schweigsam. Als sie ihre Getränke hatten, zogen sie sich an den Rand des Platzes zurück, um die Menschen zu beobachten, vor allem die Mädchen und Frauen, die vielfach aufreizend gekleidet waren, mit perlenverzierten Haarnetzen und Dekolletees, die von durchscheinendem Gazestoff kaum verhüllt wurden. Leider befanden sie sich fast immer in Begleitung ihrer Väter, Brüder oder Ehemänner, von denen sie eifersüchtig bewacht wurden. Luca aber sah plötzlich eine andere, bekannte Gestalt in der Menge. Es war ein gedrungener Mann mittleren Alters, keine bemerkenswerte Erscheinung, auch wenn seine Kleidung von einem gewissen Wohlstand zeugte. Er hatte kurzes, krauses Haar und eng bei einander stehende Augen. Er war ohne Begleitung unterwegs. Carlo und Sergio bemerkten im nur von Fackeln erhellten Halbdunkel nicht, wie sich das Gesicht ihres Freundes verfärbte. Unvermittelt drückte er Carlo seinen Becher in die Hand.

„Ich … ich muss kurz weg“, stieß er hervor. Seine Stimme war flach und ausdruckslos.

„Was hast du denn?“, fragte Carlo, der schon leicht schwankte. „Musst du pissen?“

Doch Luca war bereits in der Menge verschwunden. Er folgte dem älteren Mann.

Dieser ging hinunter in Richtung des Flusses, um dann in eine der engeren Seitengassen einzubiegen. Dort waren viel weniger Feiernde unterwegs. Die flachen Häuserzeilen standen sich eng gegenüber, es gab kaum Beleuchtung. Im Schutz der Nachtschatten hörte man Liebespaare keuchen. Während Luca dem Mann folgte, fragte er sich, was er da eigentlich tat und warum. Sein Kopf war benebelt vom Wein und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Es waren die Worte des Predigers gewesen, die ihn erschüttert hatten. Und dann musste er ihm begegnen, gerade jetzt, gerade heute Abend. Und plötzlich war diese ungeheure Wut in ihm aufgestiegen und er hatte gewusst, dass es nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Seit über einem Jahr ging es schon. Seit über einem Jahr hatte er sich nicht gewehrt, weil der Mann, Alfredo Grimaldi, ein wohlhabender Tuchhändler war und Luca, sein Lehrling, von ihm abhängig.

„Natürlich kannst du ablehnen“, hatte er geflüstert, „aber dann musst du dir eine neue Stelle suchen. Und ich werde all meinen geschätzten Kollegen sagen, du seist ein Taugenichts“.

Seinem Vater hatte Luca es nicht zu erzählen gewagt, aber seiner Mutter hatte er sich anvertraut, eines Abends, als der Vater ausgegangen und die jüngeren Geschwister schon im Bett waren. Sie hatte ihn lange angeschaut, mit Augen, die dunkel und schön waren wie seine Eigenen, aber unendlich müde. „Wenn er das will, dann lass es ihn tun“, hatte sie schließlich gesagt. „Jungen wie dir, hübschen Jungen, passiert das eben. Aber er kann dir ein besseres Leben ermöglichen. Oder willst du Weber werden wie dein Vater? Eine harte Arbeit, die wenig einbringt. Du hast etwas Besseres verdient als im Winter zu hungern. Also ertrage es jetzt, deiner Zukunft zuliebe“.

Und Luca hatte geschwiegen und es ertragen. Aber war er deshalb schuldlos? Drohte ihm nicht dennoch die Strafe Gottes, und sei es nur für seine Feigheit? Wenn er die Ausbildung abgeschlossen hatte, so hatte er gedacht, würde diese Hölle vorbei sein. Doch was, wenn ihn nach dem Tod eine noch schlimmere Hölle erwartete, die niemals endete?  Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt…

Es musste enden, noch heute Nacht.

 

Grimaldi hatte sein Ziel erreicht, eine kleine, anrüchig aussehende Schenke, über deren Eingang die Worte „Il Buffone“ auf einem mit abgeblätterter Farbe bemalten Holzschild gerade noch lesbar waren.

Luca zwang sich, einige Zeit zu warten, bevor er ihm nach drinnen folgte. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Schließlich ertrug er es nicht mehr. Die Luft, die ihm beim Eintreten entgegenschlug, war widerlich, stickig und feucht, stinkend nach Schweiß und billigem Wein. Für einen Augenblick schwindelte ihn und sein Herz krampfte sich panisch zusammen. In diesem Moment wollte er nichts mehr, als wieder hinauszugehen und nach Hause zu laufen. Dann rief Grimaldi seinen Namen.

„Luca! He, Luchino!“

Der Mann saß an einem Ecktisch, vor sich eine tropfende Talgkerze, etwas Brot und Käse und einen Becher.

Luca zwang sich ein Lächeln ab und ging zu ihm.

„Na so ein Zufall“, sagte Grimaldi mit breitem Lächeln. Seiner Aussprache hörte man an, dass auch er dem Wein schon tüchtig zugesprochen hatte.

„Da sitze ich hier und langweile mich und denk mir, dass es nett wäre, wenn ich ein bisschen Gesellschaft hätte, und sieh an wen mir der Himmel schickt“. Er machte eine Geste zur Wirtin, mehr Wein zu bringen.

„Warum seid ihr allein hier, Maestro?“, fragte Luca. „Wartet ihr auf jemanden?“

Grimaldi schüttelte den Kopf. „Ich wollte eigentlich nicht ausgehen. Aber das Weib kriegt schon wieder einen Balg und brüllt mir das Haus zusammen. Nicht zum aushalten“. Er spuckte auf den Boden. „Ich hoffe, es verreckt dabei. Oder sie. Fünf habe ich schon, verflucht teuer wird das“.

Luca sagte nichts.

„Was ist los mit dir?“, fragte der Ältere. „Ganz schweigsam heute“. Er schaute für einen Moment wie versonnen in seinen Becher, hob dann den Blick und grinste.

„Weißt du, ich kenne den Wirt hier. Er hat ein Hinterzimmer, das lässt er mich benutzen. Wollen wir zwei uns nicht lieber ungestört unterhalten?“

Luca senkte den Blick. Und nickte.

Als Grimaldi vor ihm her ging, griff er das kleine Messer, das beim Brot lag und schob es in seinen Ärmel.

Die Kammer war dunkel. Sie hatte ein Fenster, das auf die Straße ging, jedoch mit Läden verschlossen war. Sobald sie drinnen waren, begann der ältere Mann, ihn zu berühren und zu küssen. Es ekelte Luca.     Und doch … es war nicht nur Abscheu dabei. Und das war es, was ihn am meisten entsetzte.

Er hatte keinen Plan. Nur diese Worte, die ihm wieder und wieder durch den Kopf hallten: Hau sie ab und wirf sie weg. Er nahm den rechten Arm nach hinten und ließ das Messer in seine Hand gleiten. Sie war so schwitzig, dass er befürchtete, es zu verlieren. Er hatte überlegt, Grimaldi zu drohen. Aber als er den Griff aus Horn umklammerte, war es, als bewegte sich sein Arm von allein. Er rammte das Messer in den Unterleib des Mannes.

Grimaldis Schrei war markerschütternd. Er taumelte zurück und hinterließ dabei eine Blutspur auf dem Boden. Von draußen hörte man besorgte Rufe, dann Schritte.

Luca ließ das Messer fallen, lief zum Fenster und stieß die Läden auf. Mit einem Sprung war er auf der Straße und rannte durch die warme Nacht, die erfüllt war von Musik, Lachen und dem Ruf der Zikaden. Sie würden ihn festnehmen. Vermutlich erwarteten ihn Stockschläge und Gefängnis. Welch eine Schande für seine Eltern. Er spürte, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Und dennoch fühlte er vor allem Erleichterung.
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Gast







Beitrag24.10.2019 18:40

von Gast
Antworten mit Zitat

Ganz ehrlich:

Klasse.

Gut aufgebaut, passende Bildsprache, die Dialoge klingen natürlich, die Charaktere sind glaubwürdig, konsistent und differenziert. Der Spannungsbogen ist gut, stupft zum Weiterlesen an, ohne zu drängeln. Die Story sieht nach etwas sehr interessantem aus.

So soll es sein!

Es gibt ein paar winzige Kleinigkeiten wie "Myriaden von Stechmücken," die im Fluss etwas stören, aber das kriegt ein Lektorat problemlos ausgebügelt.

Weiter so!!!
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