Beispiel(e) für kreative Erzählperspektive und wie sie die Dramaturgie beeinflusst

[agu]

Hallo ihr Lieben,

gerade habe ich einen Roman ausgelesen, der mich durch einen bemerkenswerten und ungewöhnlichen Einsatz der Erzählperspektiven beeindruckt hat. Das Beispiel möchte ich mit euch teilen, weil es inspirierend ist und dazu anregt, Neues auszuprobieren.
Vielleicht habt ihr ähnliche Beispiele, die wir hier sammeln können.


Jetzt aber zu meinem konkreten Beispiel: Ein Protagonist, mehrere Erzählperspektiven - durch zeitlichen Versatz voneinander getrennt.
Titel (ich setze das verdeckt - falls jemand das Buch noch lesen möchte, wäre alles Nachfolgende ein gewaltiger Spoiler): The fifth season (dt.: Zerrissene Erde) von N.K.Jemisin
Genre: Fantasy

Es gibt drei Erzählperspektiven, die zunächst keinerlei Verbindung miteinander haben, außer dass sie offensichtlich im gleichen Landstrich unterwegs sind.
Die erste Person ist die Mutter von zwei Kindern, die in der Du-Perspektive erzählt. Das liest sich anfangs sehr gewöhnungsbedürftig, mit der Zeit fühlt es sich aber OK an. Wird allerdings wirklich nur sehr selten in Büchern verwendet. Sie durchquert während einer Naturkatastrophe das Land auf der Suche nach ihrer Tochter und wird den größten Teil der Zeit von einem seltsamen Jungen begleitet, den sie unterwegs trifft.

Die zweite Erzählstimme ist ebenfalls eine Frau, die - eher konventionell - aus der 3. Person Präsens erzählt.

Die dritte Erzählerin ist ein kleines Mädchen, ebenfalls 3. Person Präsens, die aufgrund besonderer Fähigkeiten von ihrer Familie verstoßen und von einer Einrichtung rekrutiert wird, die Menschen wie sie unter Schutzvorkehrungen ausbildet.

Erst im letzten Drittel des Buches wird - über einen sehr geschickten Übergang - offenbar, dass die zweite und dritte Erzählerin die gleiche Person sind, jedoch zu unterschiedlichen Lebensphasen. Zum Ende hin schließt sich der Kreis, denn die erste Erzählerin ist ebenfalls die gleiche Person, aber noch einige Jahre später ... als sie auf eine Schlüsselfigur trifft, die wir bisher nur durch die Augen der 2. Erzählerin kennengelernt haben.
Und dann wird auch klar, wer der unbekannte Beobachter der Du-Perspektive ist: Der seltsame Junge, der die Mutter des ersten Erzählfadens begleitet.


Ich fand diese Konstruktion absolut faszinierend und gut gemacht ... und sie funktioniert, weil der Plot so gestrickt ist, dass Erfahrungen in den verschiedenen Lebensabschnitten der Protagonistin am Ende alle sinnvoll im größeren Erzählbogen zusammenfließen.

[gold]

Liebe agu,

das klingt interessant. Um mehr dazu sagen zu können, müsste ich das Buch wohl lesen. Danke für den Tipp. Brauche sowieso eine Abwechslung, nachdem mich der Roman von Minna Lindgren "Rotwein für drei alte Damen" ziemlich 'runterzieht.

Wenn ich's denn am Wickel habe, melde ich mich wieder.

Liebe Grüße
gold

[crisihasi]

Das klingt wirklich interessant! Ich kenne die DU-Perspektive noch gar nicht, habe nur davon gehört, dass sie in UK wohl vermehrt zum Einsatz kommen soll.
Für meine eigenen Texte stelle ich mir die Umsetzung recht schwer vor. Es fühlt sich immer wie ein Zwiegespräch an Aber vermutlich fehlt mir einfach der Zugang. Danke für den Buchtipp, ich werde mir die Geschichte auf jeden Fall mal anschauen. Als großer Columbo-Fan kann ich mit Spoilern umgehen

[Taranisa]

[agu]

Wegen der Du-Perspektive: Hier mal zum Reinlesen:
Hier --> ab Seite 25 (das ist der Beginn des Du-Erzählstrangs)

Mir sind bisher nur 2 Bücher in Du-Perspektive untergekommen und ich finde sie jedesmal gewöhnungsbedürftig - aber hier passt sie ganz gut.
Das andere - da erinnere ich mich nicht an den Titel, aber da geht es um einen Psychopathen, der ein Mädchen entführt hat, in das er glaubt sich verliebt zu haben und sie in einer Einöde gefangen hält. Da passt die Perspektive auch, aber ich muss zugeben, ich habe nach der Hälfte abgebrochen, weil es mir zu anstrengend war.

[Michel]

Ich hab das mal in Ein starker Abgang kennengelernt. Fand es für den Roman passend, aber beim Lesen eher nervig. Und wäre neugierig, ob jemand das stimmiger gelöst hat. Danke für den Lesetipp.

[crisihasi]

Danke für den Link. Oha, also die ersten zwei Absätze empfinde ich als extrem gewöhnungsbedürftig. Ich fühle mich so wie ein Alzheimer-Patient, dem man erklärt, wer er ist und was er als letztes getan hat. Wirklich schwierig, in die eigentliche Handlung reinzukommen. Aber ab dem Zeitpunkt, wo Bewegung reinkommt, wird es für mich flüssiger. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, in dieser Perspektive zu schreiben. Das stelle ich mir unheimlich schwierig vor.