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Die Resi vom Land und der alte Birnbaum


 
 
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masniB
Geschlecht:weiblichWortedrechsler
M

Alter: 76
Beiträge: 54
Wohnort: München - Sendling-Westpark


M
Beitrag25.12.2018 00:15
Die Resi vom Land und der alte Birnbaum
von masniB
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Teil 1: Die Strafarbeit

Ich sitze in unserer Stube im Bauernhof meiner Großeltern, auf dem ich zusammen mit meinen Eltern wohne. Ich gehe in die zweite Klasse der Volksschule und bin ungefähr acht Jahre alt. Das Fenster steht offen. Es ist ein wunderschöner, für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Herbsttag. Von draußen klingt das leise gurrende Gegackere der Hühner meiner Oma, die sich vom Boden die letzten  Brosamen, die der Sommer übrig gelassen hat, aufpicken. Ich liebe diese Laute. Diese unschuldige Stille lässt der Hof nur am späteren Nachmittag zu, wenn alle auf dem Feld geschäftig noch vor dem Einbruch der Dämmerung ihre Arbeit erledigen wollen. Verträumt schau ich aus dem Fenster. Ich habe überhaupt keine Lust mehr, drinnen zu sitzen und würde die lästige Aufgabe am liebsten verschieben.  Ich denke viel mehr an die reifen Birnen unseres alten Birnbaumes. Sein Ertrag wird jedes Jahr mickriger, aber die Birnen sind die besten  von allen Bauernhöfen im näheren Umkreis. Ich habe jeden Tag meine liebe Not, die Nachbarskinder daran zu hindern, auf unseren Baum zu klettern und sich die letzten Birnen von ganz oben zu krampfeln. Gestern abend belauschte ich meinen  Onkel Willi, als er zu meiner Mutter sagte:
„Wahrscheinlich müssen wir den Birnbaam jetzt doch umschneiden.  Die Äst‘ san scho so morsch, beim nächsten Sturm reißt’s die runter. Net, dass noch was passiert!“
Mir stockte das Herz! Was? M e i n e n Birnbaum wollen die fällen? In den letzten Tagen habe ich mir immer wieder eine der saftigen Auslese geholt und sie auf der Stelle verputzt. Ich muss unbedingt die letzten abräumen, bevor es zu spät ist! Mich drängt es nach draußen, aber ich muss noch meine  überaus langweilige Strafarbeit erledigen.
Überhaupt! Ich bin ja nur wegen dieser blöden Maria-Luise hier festgehalten! Maria-Luise ist meine neue Banknachbarin in der Schule und ich mochte sie von Anfang an nicht besonders. Ich habe sie auch nur wegen einer  ganz fiesen und heimtückischen Aktion meiner eigentlichen Nachbarin Sieglinde am Hals. Die Busenfreundin von Sieglinde ist die Irmgard und die sitzt seit Beginn des neuen Schuljahres alleine  in der Bank vor mir. Bis zum letzten Schultag vor den Ferien waren Irmgard und Sieglinde, die Unzertrennlichen,  Sitznachbarinnen. Sieglinde ist im Vergleich zu mir sehr viel schneller im Denken und erfasst  nahenden Ärger  praktisch noch bevor der Ärger selbst bemerkt, dass er auf dem Anmarsch  befindet. Ich hingegen fange erst sehr langsam an, Zusammenhänge zu begreifen, wenn ich mich bereits mitten im Epi-Zentrum der Katastrophe befinde. Deswegen nahm ich auch völlig arglos hin, dass sich Sieglinde gleich am ersten Tag des zweiten Schuljahres  neben mich  in meine Bank quetschte.  Und Irmgard  saß  von nun an alleine in ihrer Bank und war nicht einmal beleidigt? Jede andere hätte diesen Umstand sofort kritisch hinterfragt.  Wie gesagt, i c h habe mich nur gewundert, mir aber nichts Böses dabei gedacht.  Ich kam erst im Laufe des Schuljahres dahinter, dass ich Mitwirkende in einem ganz verschlagenen Plan war. Sieglindes einziger Beweggrund  für die plötzlich erwachte Sympathie mir gegenüber war nämlich, mit meiner Unterstützung  ihre unterirdische Deutschnote aufzubessern! Rechtschreibung war für mich nie ein Problem, ebenso wenig wie  Lesen und Schreiben. Deshalb habe ich in „Deutsch“  immer beste Zensuren. Für Sieglinde dagegen ist Rechtschreibung ein Buch nicht mit sieben, eher mit zehn Siegeln.  Bei jedem Diktat rückt sie mir derart auf die Pelle, dass sie eher auf meinem Schoß als auf ihrem Stuhl sitzt. Permanent flüstert sie mir zu: „Schreibt man das groß oder klein? Wie trennt man das?“ Und ich Einfaltspinsel  gebe auch jedes Mal bereitwillig zurück flüsternd Auskunft.  Das wiederum hat zur Folge, dass ausschließlich  i c h von meiner Lieblingslehrerin, Fräulein Mäusezahn dabei erwischt werde. Sieglinde ist raffiniert genug, mich mit ihrer Fragerei  nur dann zu attackieren, wenn unsere Lehrerin mit dem Rücken zu uns steht.  Natürlich werde dann auch nur ich ermahnt, was ich jedes Mal als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfinde:
 „Anna, bist du schon w i e d e r am Schwätzen?“
Dass dabei aller Augen auf mich gerichtet sind, erhöht den Schamfaktor enorm und trägt nicht unbedingt dazu bei, mein ohnehin unterentwickeltes Selbstbewusstsein zu stärken. Die Chance, dass sich zwischen Sieglinde und mir  irgendwann einmal eine Freundschaft entwickeln würde, schrumpelt wie ein Lederapfel im Keller dahin.
Wir haben überhaupt  nicht viel gemeinsam. Ich komme aus dem Teil unseres Dorfes, wo sich die Bauernhöfe befanden, Sieglinde wohnt in dem entgegengesetzten, neu entstandenen Ortsteil, dem sogenannten „Arbeiterviertel“ und schon allein deshalb schenken wir Bauernkindern „denen von drüben“ keine große Beachtung und anders herum  verhält es sich genauso. Die Mädel von dort  tragen Halbschuhe und meist weiße Kniestrümpfe, während man uns nur mit Mühe begreiflich machen kann, dass man nicht  barfuß in die Schule kommt, sondern zumindest Sandalen anzieht.  Trotz aller Geringschätzung den Arbeiterkindern gegenüber, so weiße Kniestrümpfe würden mir aber schon sehr gefallen! Ich habe das ein einziges Mal meiner Mutter gegenüber geäußert.
 Schlagartig verfinsterte sich ihr Gesicht und zornig meinte sie:
„Das ist typisch Stadterer! Angeben wie eine Steig’n voller Affen und nix dahinter! Außen hui, innen pfui!  Sich mordsauftakeln und dann schlaf’n sie im Kohl‘nkeller,  weil s’ich koa Bett mehr leist’n könna!“
Ich war schwer beeindruckt von dem, was meine Mama alles weiß und für eine Millisekunde taten mir die Stadtkinder sogar leid. Mein Kopfkissen ist wenigstens mit Stroh gefüllt und pickst jedes Mal beim Umdrehen.  Die Matratzen sind mit Rosshaar gepolstert und steinhart, die Bettdecke, die mit den Federn unserer Gänse gefüllt ist, sauschwer. Aber im Vergleich zu einer Bettstatt aus Kohlen fühlte ich mich jetzt doch privilegiert und gebettet  wie eine Prinzessin.  Am nächsten Tag habe ich Sieglinde von der Seite neugierig begutachtet und nach Rückständen ihres Nachtlagers gesucht.
Heute stellte uns Fräulein Mäusezahn eine neue Mitschülerin vor. Anhand der Schleifen, die ihre beiden Zöpfe zierten, den weißen Kniestrümpfen und den Halbschuhen, waren wir sofort im Bilde:
 „ Aha! Eine vo‘ de‘ Stadterern“. Fräulein Mäusezahn fragte das Mädchen nach ihrem Namen und diese antwortete: „Maria-Luise Baumgart“.
Fräulein Mäusezahn: „Schön, dass du da bist, Maria, schau mal, dort neben der Irmgard ist ein Platz frei, da darfst du dich gleich hinsetzen.“
Daraufhin geschah zeitgleich folgendes:
Mit einem Satz schwang sich Sieglinde, parallel Schulranzen, Heft und Stifte mitreißend, aus unserer Bank nach vorne auf den freien Platz neben ihrer Freundin Irmgard. Ich bemerkte das wieder einmal nicht, weil ich immer noch damit beschäftigt war, den Neuankömmling zu fixieren und registrierte nur, dass der ausgestreckte Arm mit dem  zu Irmgard weisenden Zeigefinger von Fräulein Mäusezahn sich wieder senkte. Ihr Unterkiefer klappte herab und ihr lächelnder Gesichtsausdruck verabschiedete sich. Sie fasste sich aber sehr schnell und meinte, wieder lächelnd,  zu Maria-Luise:  „Na gut, dann setzt du dich halt neben die Anna!“
Während  der Zeit, in der Sieglinde ihren Standort wechselte, drehte die neue Klassenkameradin ihren Kopf langsam zur Seite und schaute mit starren Augen und hoch gezogenen Augenbrauen zu Fräulein Mäusezahn hinauf.  Ihre Stirn schlug zwei, drei Querfalten und ohne die Miene zu verziehen, wies sie mit fester Stimme, die sehr ungewöhnlich für ein Mädchen ihres Alters ist, „unser“ Fräulein zurecht:  „Ich heiße Maria L u i s e. Bitte nennen Sie mich auch so!“ Das „i“ von Luise zog sie dabei mindestens drei Oktaven bergan, dass es fast zu einem hysterischen Quietschen mutierte. Wir hielten alle den Atem an. Das hatte noch keiner gewagt: dem Fräulein Mäusezahn zu widersprechen.  Im Klassenzimmer war es schlagartig so mucksmäuschenstill, dass man hätte hören können, wenn eine Fliege die Wand hoch gekrabbelt wäre. Unser aller Augen waren auf Fräulein Mäusezahn gerichtet. Wie wird sie reagieren?  Für uns vom Dorf stand aber die Meinung über „Marie-Luiise“ bereits fest:
1. Der müßte Fräulein Mäusezahn ordentlich den Hintern versohlen und
2. „D i e gehört nicht zu uns!“
Erst in dem Moment, als mein Name fiel,  war ich wieder in der Gegenwart angekommen und bemerkte völlig verdattert den leeren Platz neben mir. „Wie? Wo ist denn die Sieglinde?“ dachte ich noch, bevor ich bemerkte, dass diese in der Bank vor mir und neben ihrer ach so besten Freundin Irmgard ihren angestammten Platz  wieder bezogen hatte.  Sie blickte über ihre linke Schulter, die sie so hoch zog, dass ich nur ihre tückisch leuchtenden Augen sah, zu mir nach hinten. Jede Wette, dass sie ihren Mund zu einem hämischen Grinsen verzogen hatte, die blöde Gans, die.  Im Gegensatz zu mir  hatte s i e  angesichts des Neuzugangs sofort umrissen, dass sich der einzige freie Platz für die Neue neben Irmgard befand.  Ebenso schnell hatte sie umrissen, dass sich dann zwischen den beiden neuen Nachbarinnen gar eine  Freundschaft entwickeln könnte und sie, Sieglinde, vielleicht sogar von der Pool-Position verdrängt werden würde. Deutschnote hin oder her, hier galt es, das Revier zu verteidigen. Am liebsten hätte ich solange an ihren beiden Zöpfen gezerrt, bis sich ihr Skalp von der  Hirnhaut lösen würde. Dieses hinterhältige Luder! Jetzt saß ich alleine da und fühlte mich wie unser Hauskater, wenn man ihm die frischgefangene Maus  wieder aus dem Maul reißt.
Schon begann sich „Maria-Luise“ in meine Richtung in Bewegung zu setzen. Sie stolzierte durch das Klassenzimmer und ganz klar war ihr bewusst, dass sie im Mittelpunkt des Interesses stand. An meiner Bank angekommen, setzte sie sich aber nicht sofort. Sie musterte mich und ließ dazu ihren Blick ganz langsam von oben nach unten gleiten. Für einen Augenblick hakten sich ihre Augen an meinem grauen Strickrock fest mit den braunen, springenden Hirschen, den meine Mama selbst gestrickt hat. Mir schien, als würde sie sich ein Lachen verkneifen? „Wenn die auch nur irgendwas über die Hirschen sagt, dann spring‘ ich ihr aber mit dem nackerten Arsch ins Gesicht“ denke ich, zur sofortigen Umsetzung wild entschlossen. Den Eindruck der Hirschen schienen aber meine nackten, zugegebenermaßen nicht ganz sauberen, Füße zu toppen. Na und? Die Sandalen sind für „schön“, also nur für  die Schule. Vor dem Unterricht laufe ich barfuß und zwar bis zum Eingangsportal der Schule!  Angewidert  verzog Maria-Luise ihre Mundwinkel und schob sich auf unsere Sitzbank neben mich, bedächtig auf genügend Abstand achtend. Trotzdem strömte mir sofort ein beißender  Geruch in die Nase:  Kernseife! Die setzt  meine Oma ausschließlich zum Einweichen der abartig schmutzigen Wäsche unseres Knechtes Sepp und meines Onkels Willi ein, wenn sie vom Acker oder aus dem Kuhstall kommen. Sie sagt immer: „Das ist die billigste Seife, aber mit keiner anderen kriegst du die Wäsche so sauber“.  Für mich stand angesichts der „Stadterin“ sofort fest: „Anders kriegt sie wahrscheinlich den Kohlenstaub nicht ab“.  Wie das stinkt! Vorsichtig rutschte ich nun meinerseits auf unserer Bank Millimeter um Millimeter  weiter von ihr weg und dehnte den Abstand zwischen uns noch ein bisschen aus. Dann sollten wir unser Lesebuch aufschlagen, auf Seite dreiundsechzig. Offensichtlich hatte „Maria-Luise“ nicht aufgepasst und flüsterte: „Welche Seite hat sie gesagt?“ Ich beugte meinen Kopf dicht über die Bank-Oberfläche, um ja nicht wieder des Schwätzens bezichtigt
 Werden zu können,  und flüsterte zurück: „Seite dreiundsechzig“. Im selben Augenblick gab es  direkt neben meinem Ohr einen Riesenknall. Wenn ein Luftballon explodiert wäre, hätte ich nicht besser erschrecken können.  Fräulein Mäusezahn hatte ihr Lineal auf unsere Bank geschnalzt. Sie stand direkt neben mir und starrte zornig auf mich herunter. Ich hatte meine kauernde Stellung noch nicht aufgegeben und starrte mit weit aufgerissenen Augen zurück. Von dieser Position aus sah sie noch viel größer aus, als sie in Wirklichkeit war und ich sah ihr direkt in die Nasenlöcher.
„So, Anna, jetzt reicht es! Jetzt bringst Du die Maria-Luiiiise gleich in der ersten Stunde zum Schwätzen! Wie oft habe ich dich schon deswegen geschimpft? Scheinbar willst du es nicht lernen! Und jetzt legst du deine Finger auf die Bank, los!“
Ich sah sie erschrocken an. Das konnte sie doch nicht ernst meinen? Ich weiß genau, was mir jetzt blühte, schließlich  habe ich es oft erlebt, wenn der Franzl, der frechste von den Buben, seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und als Züchtigung Tatzen bekommen hat. Der hat sie wenigstens verdient, aber i c h hab doch gar nichts gemacht!  Ich sah sie flehentlich an und versteckte meine Hände hinter meinem Rücken.
„Bitte, Fräulein Mäusezahn, ich hab doch gar nicht geschwätzt! Ich hab doch bloß…“
Weiter kam ich nicht. Fräulein Mäusezahn griff sich meinen linken Arm, zog ihn hinter meinem Rücken hervor und peitschte das  Lineal einmal über meine Fingerspitzen. Ich presste die Lippen ganz fest aufeinander, damit mir ja kein Laut entfleuchen konnte. Ich bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Sieglinde das Ganze mit einem diabolischen Grinsen verfolgte und ihre Freundin vielsagend ansah. Ich massierte die Knöchel meiner Finger, es tat so verdammt weh!  Ich sah zu Maria-Luise hinüber in der Hoffnung, sie würde die Situation klarstellen. Aber die starrte nur auf ihr Buch und tat, als hätte die Situation nichts mit ihr zu tun.  Meine Tränenkanäle drohten zu platzen,  entledigten sich gussartig und  Tränen rannen wie Sturzbäche über meine schamgeröteten Wangen. Ich  presste die Augenlider zusammen und senkte ganz schnell meinen Kopf, niemand sollte sehen, dass ich heule: schon gar nicht die beiden blöden Weiber in der Bank vor mir.
„So!“ schloss Fräulein Mäusezahn. „Hoffentlich merkst du dir das jetzt endlich und zur Strafe schreibst du bis morgen in deinem Schreibheft eine Seite voll mit: ich darf nicht schwätzen!“. Vielleicht kapierst du es dann!“  Sie stapfte zurück an ihr Pult.
Alle Schüler schwiegen betreten, denn es kam sehr selten vor, dass Fräulein Mäusezahn so laut wurde und zu diesen drastischen Erziehungsmaßnahmen griff.

Und deshalb sitze ich jetzt da und kritzele diesen blöden Text in mein Heft.  Die Seite füllt sich nur langsam. Bis jetzt ist noch nicht einmal das halbe Blatt voll. Ich kaue auf meinem Bleistift herum und schaue sehnsüchtig  aus dem Fenster.  Ich denke an die appetitlichen Birnen und spüre schon, wie sich vor Lust das Wasser im Mund sammelt. Mein Onkel Willi kommt herein. Ich merke es sofort am Geruch seiner Gummistiefel, mit denen er direkt vom Kuhstall in die Wohnküche getrampelt kommt.  Genau genommen rieche ich ihn, bevor ich ihn sehe. Deutliche Spuren der Exkremente unserer Kühe kleben noch an seinen Schuhsohlen, verziert mit Strohhalmen von der Streu der Boxen. Angeekelt schaue ich auf seine stinkende Fußbekleidung:
 „Oma wenn das sieht, schmeisst sie dich naus!“
„Des bißl Scheißdreck wird s‘ net glei umbringen!“ grinst er.
„Aber die Oma regt sich wieder auf, weil die ganze Küche nach Kuahdreck stinkt!“
„Ach geh, des tritt sich schnell fest“ meint er  unbeeindruckt mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Er gießt sich eine Tasse Kaffee ein und stellt sich, mit dieser in der Hand, neben mich und schaut mir über die Schulter.
„Was machst’n da?“
Ich halte mir mit zwei Fingern die Nase zu und murmle „dsissstrffgb“ in der Hoffnung, er hakt nicht nach, weil er mich sowieso nicht versteht. Pustekuchen.
„Red‘ gscheit, wennst mit mir redst! Was hast gsagt?“
Einen halben Ton lauter flüstere ich:  „Des is‘ a Strafaufgabe.“
„A Strafaufgab‘? Du?Warum?“
Ich rolle mit den Augen. Meine Hausaufgaben interessieren ihn doch sonst auch nicht! Hat er heute nichts mehr auf dem Hof zu tun?
„Wlgschzthb“ versuche ich es noch einmal. Onkel Willi wird unwirsch.
„Herrschaftszeitn! Moanst, du redst jetzt endlich vernünftig?!“
„Na, gschwätzt hab ich halt!“ brause ich patzig auf und verschränke meine Arme. Er lacht auf.
„Gschwätzt? Du? Wos host du den schon wichtigs zum Sagn? Kriagst ja sonst auch dei Mäu net auf!“
Ja, vielen Dank! Hau mir noch eine Kerbe mehr in mein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein. Die Strafaufgabe war schon Hohn genug, da brauche ich solche überflüssigen Kommentare sicher nicht auch noch obendrauf! Vor Wut kommen mir die Tränen. Das erweicht offenbar das Herz von Onkel Willi.
„Zeig amal, was musst denn überhaupt schreiben?“
Ich erkläre ihm, dass ich „ich darf nicht schwätzen“ so oft schreiben muss, bis die Seite voll ist. Er stemmt die ebenfalls nach Stall stinkenden Fäuste in die Hüfte. Dabei muss ich mich immer wieder wundern, dass er bei seiner Leibesfülle überhaupt Hüften findet. Er betrachtet mich kopfschüttelnd:
„Dir ist doch wirklich nicht zum Helfen! Warum schreibst dann auch noch so klein? Da sitzt du ja heit ab’nd immer no do! Mach die Buachstab’n größer, dann bist schneller fertig.“ Damit zieht er von dannen. Ich denke nach. Manchmal ist er wirklich genial. Ich, mit meiner „Bäfähl is Bäfähl“-Mentalität  wäre niemals auf diesen raffinierten Ausweg gekommen. Sofort  gewinnt meine Schrift sehr schnell an Höhe. Auf die zweite Hälfte der Heftseite passen in eine Zeile nur noch zwei Wörter und mit zwei Sätzen „ich darf nicht schwätzen“ ist alles erledigt. Endlich! Ich nehme mir nicht einmal mehr die Zeit, die Schulsachen wegzuräumen, sondern stürme sofort hinaus auf den Flur, in Gedanken schon bei den heißbegehrten Birnen. Wusch! Schon knalle ich mit meinem Allerwertesten so hart auf die Steinfließen, dass ich auch noch mit dem Rücken aufpralle und der Kopf auf den steinigen Boden aufschlägt. Ich spüre keinen Schmerz, sondern bin in erster Linie  erschrocken. Ich richte mich wieder auf, taste meinen Kopf ab und stelle erleichtert fest: bluten tut nichts. Ein unangenehmer Geruch, den ich im ersten Moment nicht zuordnen kann, gräbt  sich in meine Nasenschleimhäute. Aber warum liege ich hier? Worauf bin ich ausgerutscht? Ich sehe nach vorne, den Hausflur entlang, der einigen wenigen Sonnenstrahlen noch erlaubt, einzutreten. Im Gegenlicht sehe ich sie: die Hinterlassenschaften  von Onkel Willis Stiefel. „Scheiße“! schreie ich. Wie wahr, wie wahr!

Fortsetzung folgt.



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