Wer wachsam auf verborgnes Treiben schaut

[davidmuc]

1.
Wer wachsam auf verborgnes Treiben schaut,
der ahnt, was dort im Dunkeln lauern mag,
was man sich hinter Fensterscheiben traut:
Wer einmal jenseits aller Mauern lag,
nachts über Dächer auf den Schrägen lief,
wer nicht die lange Zeit im Regen schlief!

2.
Wer nicht die lange Zeit im Regen schlief,
wo Reden Sprüche bei Faschisten leihn,
weiß längst, wer unter Not und Schlägen rief
und wer erstrahlt im Populistenschein.
Schaut unters Kleid der androgynen Braut!
Wer sieht, wo man den Zaun im Grünen baut?

3.
Wer sieht, wo man den Zaun im Grünen baut,
wo sie Migranten erst mit Reden jagen
bis Unheil bald von allen Bühnen graut,
der wird vielleicht nicht über jeden ragen,
doch blickt auf jede Menschentraube schief
Wer lauschte, wer vor Not im Staube rief?

4.
Wer lauschte, wer vor Not im Staube rief,
wenn er die Bilder sah von Gas und Blut,
und spürt, es sitzt im Fleisch die Schraube tief,
nicht hofft: Es heilt die Wunde, blas, und gut!
Wer das Orakel kennt, das Greise lasen,
hört nachts die Schreie über Gleise rasen.

5.
Hört nachts die Schreie über Gleise rasen!
Wo jedes Raubtier, was es fresse, packt
wie Heuschrecken gefräßig leise grasen
vermischt sich Täuschung, Fake und Presse-Fakt.
Ach, sprecht mir nicht von Zwängen, Rollen, Phasen
Lasst mich in Ruh mit euren ollen Phrasen

6.
Lasst mich in Ruh mit euren ollen Phrasen
wie wird mir doch bei dem Geseier fad!
Da kotz ich schonmal auf den vollen Rasen,
wie ihr schon bei der letzten Feier saht.
Doch glaubt nicht, dass das Eis beim Schreiben taut,
wer wachsam auf verborgnes Treiben schaut.

M.
Wer wachsam auf verborgnes Treiben schaut,
wer nicht die lange Zeit im Regen schlief,
wer sieht, wo man den Zaun im Grünen baut
wer lauschte, wer vor Not im Staube rief,
hört nachts die Schreie über Gleise rasen -
Lasst mich in Ruh mit euren ollen Phrasen!

[Anoa]

Imposant! Ich denke noch darüber nach.

Anoa

[menetekel]

Hallo David,

warum steht dieses großArtige Werk im Trashbereich? Das finde ich nicht angemessen.

Was ich an deinen Gedichten immer wieder bewundere, ist das ausgeprägte Gefühl für Rhythmus. - Warst oder bist du (auch) Musiker?

[firstoffertio]

Das ist eine, etwas freie, Sestine, nicht?
Du kannst Formen.
Und inhaltlich beeindruckt das auch.

[davidmuc]

Hi Anoa, danke Dir!

  Und hallo menetekel,
Dir natürlich auch ganzganz besonders für die einfühlsame Betrachtug
& wie schön du das formuliert hast
& das große Lob! Ich war mir, so direkt nach dem Schreiben, noch etwas unsicher - ob es nicht zu pathetisch rüberkommt? Der Trashbereich war reine Vorsicht, mit etwas Abstand: wohl unnötig. Und ja - ich spiele jede Menge Musikinstrumente.   Hab ein ganzes Zimmer voll davon...  

     Guten Abend auch, firstoffertio,
mit Dank & Gruß! Formell wollte ich das "Sonettkranz"-Konzept verkürzt erproben. Wenn man das schüttelnd versucht, braucht man immer eine DreiReimEinheit - eine echte Herausforderung... Freut mich, wenn das Experiment gelungen ist!

 

[poetnick]

Hallo David,

das finde ich ganz kunstvoll verwoben.
Die Schüttelreime greifen irgendwie treibend bei der Zuspitzung
dieser sehr aktuell wirkenden Verdichtung von Befindlichkeiten, Empfindungen und Zumutungen.

Inhalt und Form beschleunigen sich scheinbar atemlos.

Grüße - Poetnick