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Charlie Rose Kane Leseratte
Alter: 47 Beiträge: 197 Wohnort: Leipzig
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07.07.2018 08:25 Der Fantasiefreund von Charlie Rose Kane
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Der Fantasiefreund
Die hochbetagte, körperlich rüstige Margerite Heidenreich saß nackt auf der Butter und versuchte, sich diese noch immer nicht vom ihrem Brot nehmen zu lassen. Sie hatte sich vor dem Orchester ihrer Erinnerungen und dessen Dirigenten bis auf ihre letzte Seelenfaser entblößt.
In der linken Hand hielt sie einen roten Regenschirm mit weißen Punkten obendrauf. Dieser war zur vollen Größe aufgespannt. Margerite richtete ihn aber nicht über ihren eigenen Kopf aus, sondern über den scheinbar leeren Platz neben sich. Irgendwer hatte sie von oben bis unten mit grüner Farbe übergossen und mit Papageiendaunen gefedert. Sie sah gar nicht glücklich aus.
Der augenscheinlich für alle unsichtbare Rumpel saß neben Margerite, unter dem Schirm. Nur sie konnte ihn sehen und hören. Seit ihren jüngsten Kindertagen war er ihr heimlicher Fantasiefreund, mit dem sie schon allerlei Abenteuer durchgestanden hatte.
Aus einer seltsamen Laune heraus, war sie nach Jahrzehnten des einander-aus-den-Augen-und-aus-den-Sinn-Verlierens vor einigen Monaten irgendwo in ihren Gehirnwindungen wieder über ihn gestolpert. Jetzt allerdings fiel er dem langsam endgültigen Vergessen ihrerseits anheim, verblasste allmählich und löste sich peu a peu in seine Einzelbestandteile auf.
Noch konnte Margerite in der Tat recht gut erkennen, dass Rumpel ein gefilzter Hasi-Affe-der-Gi-Frischlingsfrosch war. Der froschgrüne Leib eines Frischlings sah zwar schon ganz durchscheinend und verwischt aus, dafür spielte Margerites Erinnerungsorchester aber umso deutlicher den Giraffenhals mit dem aufgepfropften Hasenkopf ihrem inneren Auge vor, so dass sie diesen Teil ihres Fantasiefreundes klar umrissen unter der Käseglocke ihrer gemeinsamen Vergangenheit sah. Und die Besteckohren des Hasi-Affe-der-Gi-Frischlingsfrosches blitzten im Licht ihrer Gehirnscheinwerfer grell auf …
Margerite Heidenreich schaute nicht glücklich drein. Ständig suchte sie nach Dingen in ihrem Kopf, die das Vergessen in seiner Gier schon halb bis fast vollends verschlungen hatte. Oft waren in ihrem schwarzen Nebel nur noch kleine Inseln leuchtender Lichtkegel ihrer noch funktionierenden Scheinwerferspots des Gehirns übrig. Aber sie musste so manches Mal lange Zeit umherirren, bis sie zu eine jener Gedächtnisinseln angelangte. Hinzu kam, dass ihr Orchester der Erinnerungen oft nicht mehr richtig zusammenspielte, weil der Dirigent jenes Ensembles eben nicht mehr auf der Höhe gewesen war. Und es waren auch Misstöne von dem einen oder anderen Musiker zu hören.
Im Moment allerdings saß Margerite Heidenreich neben ihrem Rumpel auf eben einer ihrer Erinnerungsinseln, hielt seine Hufschale und schwieg vor sich hin. Irgendwann, vermutlich eher alsbald als zu irgendeinem Zeitpunkt später wird ihr Phantasiefreund vollends vergessen und verschwunden sein, und Margerite wird mutterseelenallein in ihrem schwarzen Nebel umherwandern. Das Orchester ihrer Erinnerungen wird nur noch wirre Töne von sich geben. Der Dirigent wird total überfordert sein, und die Gedächtnisinseln mit ihren Gehirnscheinwerfern werden immer rarer werden.
Aber einige Dinge werden so bleiben wie bisher auch:
Ihre Hausdame wird ihr auch weiterhin jeden Morgen einen Strauß Blumen auf den Frühstückstisch stellen. Am liebsten Margeriten. Und sie wird ihr jeden Tag, bis zu jenem Moment, wo sie diese Welt verlässt, um in eine andere hinüberzuwechseln, ihre Lieblingsspeisen kochen. Es wird auch weiterhin geherzt, gescherzt und gelacht in diesem lebendigen Haus.
Und irgendwann wird eine große brennende Kerze auf dem Fensterbrett vor dem offen stehenden Fenster des Schlafzimmers von Margerite Heidenreich stehen.
© Rose Kane, Le., 07/2018
Weitere Werke von Charlie Rose Kane:
_________________ ~c.r.k. ~ |
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Catalina Eselsohr
Alter: 51 Beiträge: 427 Wohnort: Kehdingen
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07.07.2018 09:11
von Catalina
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Hallo Rose Kane,
ich mag Deinen Text, erzählt aus der Sicht einer F0.
Erst stolperte ich über den Namen bzw. die Bezeichnung des Fantasiefreundes, weil sie mit dem "Hasi" so sehr kindlich ist. Es ist für mich im Lesen ein Bruch - aber beim nochmaligen Nachdenken finde ich die (klein)kindliche Komponente gar nicht schlecht, vermisse dann aber noch ein paar Ankerpunkte mehr dafür im gesamten Text.
Ganz klar kann ich aber sagen: Der Text würde mir ohne den letzten Abschnitt besser gefallen. Dieser Bruch - sicherlich von Dir gewollt - gefällt mir persönlich nicht. Er wirkt für mich so, als möchtest Du etwas auflösen, was dem aufmerksamen Leser schon lange klar ist...
Viele Grüße, Catalina
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Charlie Rose Kane Leseratte
Alter: 47 Beiträge: 197 Wohnort: Leipzig
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07.07.2018 09:33
von Charlie Rose Kane
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danke, catalina.
was die bezeichnung des fantasiefreundes angeht, soetwas ist mein "markenzeichen". soll heißen: ich spiele ganz oft mit der sprache, kreiere neue worte und schreibe mitunter auch nonsens ...
und insbesondere bei dieser story wollte ich den zwiespalt verdeutlichen, dass ein an demenz erkrankter sich ganz oft an seine kindheit erinnert und sich vielleicht auch "kindlich" verhält, aber ja gar kein kind ist, sondern ein erwachsener mensch.
für mich ist dieser fantasiefreund hier sehr wichtig. ein symbol.
auch der letzte abschnitt ist mir sehr wichtig. wobei ich überlege, ob ich die brennende kerze mit dem offenen fenster auch weglassen könnte.
aber in summe stellt mir diese abschnitt für margerite die innere sicherheit und beständigkeit dar, die demenzkranke menschen benötigen.
ich mag da nicht darauf verzichten.
hinzukommt, dass der text für eine bestimmte person geschrieben ist, und dieser abschnitt, der in seiner zeitform wechselt, symbolisiert sozusagen sie ... er steht für ihr wesen, ihr tun, ihr dortsein, ...
aber wie gesagt, die kerze und das offene fenster, das könnte ich durchaus weglassen.
danke für dein schnelles feedback.
p.s. f0 ist mir nicht geläufig. musste ich ersteinmal googeln. du meinst den icd-schlüssel?
_________________ ~c.r.k. ~ |
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Charlie Rose Kane Leseratte
Alter: 47 Beiträge: 197 Wohnort: Leipzig
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07.07.2018 12:14
von Charlie Rose Kane
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wobei, mir die nähere bezeichung des fantasiefreundes jetzt doch ein bisschen sperrig vorkommt. ich gehe mal beim spazieren gehen darüber nachdenken. evtl. überarbeite ich das ja auch noch einmal. mal sehen.
_________________ ~c.r.k. ~ |
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Catalina Eselsohr
Alter: 51 Beiträge: 427 Wohnort: Kehdingen
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07.07.2018 12:26
von Catalina
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Rose Kane hat Folgendes geschrieben: | wobei, mir die nähere bezeichung des fantasiefreundes jetzt doch ein bisschen sperrig vorkommt. ich gehe mal beim spazieren gehen darüber nachdenken. evtl. überarbeite ich das ja auch noch einmal. mal sehen. |
Ich stolpere vor allem über das "Hasi"... Ein Ausdruck, den man weit, weit vor dem Spracherwerb der restlichen Wörter benutzt.
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Charlie Rose Kane Leseratte
Alter: 47 Beiträge: 197 Wohnort: Leipzig
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07.07.2018 15:44
von Charlie Rose Kane
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Der Fantasiefreund
Die hochbetagte, körperlich rüstige Margerite Heidenreich saß nackt auf der Butter und versuchte, sich diese noch immer nicht vom ihrem Brot nehmen zu lassen. Sie hatte sich vor dem Orchester ihrer Erinnerungen und dessen Dirigenten bis auf ihre letzte Seelenfaser entblößt.
In der linken Hand hielt sie einen roten Regenschirm mit weißen Punkten obendrauf. Dieser war zur vollen Größe aufgespannt. Margerite richtete ihn aber nicht über ihren eigenen Kopf aus, sondern über den scheinbar leeren Platz neben sich. Irgendwer hatte sie von oben bis unten mit grüner Farbe übergossen und mit Papageiendaunen gefedert. Sie sah gar nicht glücklich aus.
Der augenscheinlich für alle unsichtbare Rumpel saß neben Margerite, unter dem Schirm. Nur sie konnte ihn sehen und hören. Seit ihren jüngsten Kindertagen war er ihr heimlicher Fantasiefreund, mit dem sie schon allerlei Abenteuer durchgestanden hatte.
Aus einer seltsamen Laune heraus, war sie nach Jahrzehnten des einander-aus-den-Augen-und-aus-den-Sinn-Verlierens vor einigen Monaten irgendwo in ihren Gehirnwindungen wieder über ihn gestolpert. Jetzt allerdings fiel er dem langsam endgültigen Vergessen ihrerseits anheim, verblasste allmählich und löste sich peu a peu in seine Einzelbestandteile auf.
Noch konnte Margerite in der Tat recht gut erkennen, dass Rumpel ein aus gefärbter Schurwolle gefilztes Quatterwesen war. Sein Hals sowie die Vorder- und Hinterläufe ähnelten denen einer Affe-der-Gi. Wohingegen sein Leib - vor allem dessen Zeichnung - dem eines Zebras glich. Und der Kopf sah aus wie der einer getigerten Grinsekatze mit langen Hasenohren aus metallenem Essbesteck.
Rumpels Leib und die Beine wirkten schon ganz durchscheinend, löchrig und verwischt. Dafür spielte Margerites Erinnerungsorchester aber umso deutlicher den langen Affe-der-Gi-Hals mit dem aufgepfropften Katzenkopf ihrem inneren Auge vor, so dass sie diesen Teil ihres Fantasiefreundes klar umrissen unter der Käseglocke ihrer gemeinsamen Vergangenheit sah. Und die Besteckohren des Quatterwesens blitzten im Licht ihrer Gehirnscheinwerfer grell auf …
Margerite Heidenreich schaute nicht glücklich drein.
Ständig suchte sie nach Dingen in ihrem Kopf, die das Vergessen in seiner Gier schon halb bis fast vollends verschlungen hatte. Oft waren in ihrem schwarzen Nebel nur noch kleine Inseln leuchtender Lichtkegel ihrer noch funktionierenden Scheinwerferspots des Gehirns übrig. Aber sie musste so manches Mal lange Zeit umherirren, bis sie zu eine jener Gedächtnisinseln angelangte. Hinzu kam, dass ihr Orchester der Erinnerungen oft nicht mehr richtig zusammenspielte, weil der Dirigent jenes Ensembles eben nicht mehr auf der Höhe gewesen war. Und es waren auch Misstöne von dem einen oder anderen Musiker zu hören.
Im Moment allerdings saß Margerite Heidenreich neben ihrem Rumpel auf eben einer ihrer Erinnerungsinseln, hielt seine rechte Hufe in der rechten Hand und schwieg vor sich hin. Irgendwann, vermutlich eher alsbald als zu irgendeinem Zeitpunkt später wird ihr Phantasiefreund vollends vergessen und verschwunden sein, und Margerite wird mutterseelenallein in ihrem schwarzen Nebel umherwandern. Das Orchester ihrer Erinnerungen wird nur noch wirre Töne von sich geben. Der Dirigent wird total überfordert sein, und die Gedächtnisinseln mit ihren Gehirnscheinwerfern werden immer rarer werden.
Aber einige Dinge werden so bleiben wie bisher auch:
Ihre Hausdame wird ihr auch weiterhin jeden Morgen einen Strauß Blumen auf den Frühstückstisch stellen. Am liebsten Margeriten. Und sie wird ihr jeden Tag, bis zu jenem Moment, wo sie diese Welt verlässt, um in eine andere hinüberzuwechseln, ihre Lieblingsspeisen kochen. Es wird aber auch weiterhin geherzt, gescherzt und gelacht werden in diesem lebendigen Haus.
Und irgendwann wird eine große brennende Kerze auf dem Fensterbrett vor dem offen stehenden Fenster des Schlafzimmers von Margerite Heidenreich stehen.
© Rose Kane, Le., 07/2018
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