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Der Hauptmann vom Grenzübergang


 
 
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PhilipS
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 109



Beitrag05.02.2018 12:08
Der Hauptmann vom Grenzübergang
von PhilipS
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo zusammen,
ich bin ein großer Bewunderer von Carl Zuckmayer und würde seine Autobiographie ohne Zögern zu meinen Lieblingsbüchern rechnen. Darin gibt es eine Episode, die in einer Hinsicht ausgesprochen skurril und komisch wirkt, gleichzeitig aber sehr dramatisch ist, weil es für Zuckmayer um Leben und Tod geht. Es handelt sich um die Geschichte seiner Flucht aus Österreich nach dem Anschluss an Deutschland 1938.  Ich habe unter Verwendung des Originaltextes eine Bühnenfassung davon geschrieben, die ich vielleicht mit meiner Amateurgruppe inszenieren werde. Bisher ist mir das Stück aber noch ein bisschen zu mager. Meine drängendsten Fragen wären daher, was Ihr von der Komposition haltet, und ob Ihr Ideen habt, welche Szenen sich noch in und um diese Rumpffassung einarbeiten lassen. Auch Carls Meinungswechsel in der ersten Szene ist mir zu abrupt, aber sein Bericht gibt nicht viel mehr her. (Um die rechtlichen Fragen, kümmere ich mich, wenn ich einen Text habe, mit dem ich zufrieden sein kann und weiß, ob ich überhaupt Zeit und Gelegenheit zum Regieführen habe.)

Der Hauptmann am Grenzübergang

Figuren
- Carl Zuckmayer (als Erzähler)
- Carl Zuckmayer, 42, Schriftsteller
- Alice Herdan-Zuckmayer, 37, Schriftstellerin

In Salzburg:
- NS-Funktionär aus Deutschland
- Österreichischer Grenzpolizist
- Österreichischer Sozialdemokrat
- SA-Männer
- Reisende

Im Zug:
- Baldur, 18, Fußballer
- Rebekka, 18, seine Freundin
- Professor
- Geschäftsmann
- Alte Dame
- Reisende
- SS/SA-Männer

Am Grenzübergang:
- SS-Sturmführer
- SS/SA-Männer
- Reisende




Zeit: März 1938.




Prolog
Carl sitzt an einem Schreibtisch, vor sich eine Schreibmaschine. Auf dem Tisch ein Aschenbecher mit einer Pfeife, eine angebrochene Flasche Wein, ein Glas.

Carl/Erzähler: Wo ist man daheim? Wo man geboren wurde oder wo man zu sterben wünscht? Da­mals glaubte ich mit einer Stecknadel auf Globus den winzigen Punkt bestimmen zu können, der mir selbstgeschaffene, selbstgewählte Heimat war: es war der Ort Henndorf bei Salz­burg, genau ge­sagt Haus Wiesmühl.
Wenn man mich damals gefragt hätte, wo das Paradies gelegen sei, so hätte ich ohne Zögern geant­wortet: in Österreich, sechzehn Kilometer östlich von Salzburg an der Reichsstraße, dicht beim Wallersee. Es war keine Stätte der Wunschlosigkeit, doch barg es den Kern des Glücks: denn die einzige dauerhafte Form irdischer Glückseligkeit liegt im Bewusstsein der eigenen Produktivität. Heute arbeite ich, in anderer Landschaft, wieder an dem gleichen Tisch, liege nachts im gleichen Bett. Aber wenn man mich fragt, wo ich zu sterben wünsche, so muss ich sagen: ich weiß es nicht. Ich weiß nur: wir lebten einmal im Paradies, und es macht keinen Unterschied, ob es zwölfeinhalb Jahre dauerte oder so lang wie man braucht, um die Augen zu schließen und wieder aufzuschlagen.

Szene 1
Das Wohnzimmer der Wiesmühl in Henndorf. Die Einrichtung ist ländlich-rustikal und bequem. Ein wuchtiger Esstisch aus Holz mit vielen Stühlen, Kachelofen, Sessel. Alice sitzt mit einer Zeitung im Sessel.

Auftritt Carl.
Alice: Gott sei Dank, Carl! Ich habe mir solche Sorgen gemacht.

Carl: Es ist schlimmer, als ich dachte. Auf dem Weg zur Wohnung haben sie Horch und mich für Ju­den gehalten – weil wir in einem Taxi saßen! Sie wollten uns zusammenschlagen.

Alice: Der arme Horch, er war doch schon seit Wochen so verstört.

Carl: Danach war er das reinste Wrack. Er hat am ganzen Leib gezittert und konnte gerade die Trä­nen zurückhalten.

Alice: Wie seid ihr ihnen entkommen?

Carl bitter: Wie wohl? Ich habe den rechten Arm aus dem Fenster gehalten und etwas gerufen, das wie „Heil Hitler“ klang. Wenn man nur militärisch deutsch genug klingt, hat dieser Mob sofort Re­spekt.

Alice: Und wie steht es sonst?

Carl: In Wien ist die Hölle los. Die Luft war erfüllt von einem unablässig gellenden, wüsten, hyste­rischen Gekreische erfüllt. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem hasserfülltem Triumph. Ich habe im Ersten Weltkrieg ein Dutzend Schlachten mitgemacht, die Unruhen der Nachkriegszeit miterlebt. Ich war beim Münchner Hitler-Putsch ’23 mitten unter den Leuten auf der Straße. Nichts davon ist mit die­sen Tagen in Wien zu vergleichen.

Alice: Und was habt ihr besprochen? Was sagen die anderen?

Carl: Die Stimmung ist eindeutig, alle wollen sie fliehen. Sie können sich nur nicht einigen, wohin. Csokor meint, die Westgrenzen seien besser bewacht, also nach Osten. Horváth will nach Bu­dapest und von dort aus mit dem Flugzeug in eine der westlichen Hauptstädte. Joseph will nach Italien. Ei­nige von ihnen haben sich gleich auf den Weg gemacht.

Alice: Dann sage ich den Mädchen Bescheid. Wir packen das Nötigste und heute Abend können wir  in einem Zug nach Prag sitzen. Oder doch besser Zürich? Was denkst du?

Carl: Ich steige in keinen Flüchtlingszug.

Alice: Was?

Carl: Ich habe ein Anrecht auf meine Heimat! Wir bleiben.

Alice: Aber du hast selbst gesagt, in Wien ist die Hölle los. Bald wird es im ganzen Land so ausse­hen. Und was tun wir dann?

Carl: Die Nazis werden mich schon in Ruhe lassen. Ich habe nichts getan.

Alice: Aber du warst doch in der „Eisernen Front“, dem demokratischen Bündnis gegen die Nazis.

Carl: Aber das war alles legal! Ich habe nichts verbrochen.

Alice: Und du hast Goebbels in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht.

Carl: Er wollte „Im Westen nichts Neues“ verbieten lassen. Weil er neidisch war!

Alice: Neidisch? Auf wen? Warum?

Carl: Weil er den Krieg mit seinem Klumpfuß nicht mitmachen konnte, während wir verändert und voll neuen Antriebs heimgekehrt sind. So war er schon in Heidelberg: der Nachtalb zwischen Göttern und Narren, Peripatetikern und Dionysiern, Nymphen und Vestalinnen.

Alice: Und jetzt seid ihr die ersten Opfer seine Verfolgung. Carl! Diese Verfolgung geschieht vielleicht unter dem Deckmantel von Recht und Ordnung, dabei aber blindwütig, barbarisch. Das Recht zählt doch nichts mehr. Über die politischen und rassi­schen Prinzipien hinaus reicht es doch einfach, wenn dieser Bande nicht passt. In dem Augenblick ist man vogelfrei.

Carl geht im Zimmer auf und ab, öffnet Schränke und Schubladen, bis er findet, was er gesucht hat.
Triumphierend: Ha! Wusste ich doch, dass er irgendwo geblieben sein muss!

Alice: Was hast du da?

Carl: Meinen alten Armeerevolver. Er überprüft die Trommel nach Munition, spannt den Hahn und zielt probehalber.

Alice verängstigt: Was hast du damit vor?

Carl: Wenn sie mich holen wollen, nur zu. Aber einige werde ich mitnehmen.

Alice: Carl, was redest du? Du bist doch nicht bei Sinnen.

Carl: Ich sage dir eins: lebend kriegen sie mich nicht von hier fort.

Alice: Und was ist mit mir? Und den Mädchen? Bitte, Carl, lass uns gehen.

Carl: Ja, wir gehen.

Alice erleichtert: Ich hole die Koffer.

Carl: Nach Deutschland.

Alice: Nach Deutschland?

Carl: Ja, wir gehen in den Untergrund. Wir nehmen Kontakt zum Widerstand auf und bereiten einen Aufstand gegen Hitler vor. In einem Jahr ist der Spuk vorbei, du wirst schon sehen.

Alice: Ich habe jetzt eine Bitte an dich. Schenke mir ein Jahr deines Lebens. Versuche durchzukomm­en und dieses Jahr im Ausland abzuwarten. Wenn du dann immer noch so denkst wie heute, dann geh zurück und tue, was du glaubst tun zu müssen. Ich verspreche, mich dann nicht zu wider­setzen, auch mitzugehn, wenn die Kinder in Sicherheit sind. Aber um dieses Jahr bitte ich dich.

Stille. Carl gießt sich Cognac ein und trinkt.

Carl: Danke, Alice. Du hast mir die Augen geöffnet. Du hattest, recht, ich war wirklich nicht bei mir. Das war kein Heroismus, das waren Angstzustände wie Horch sie hatte – nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Das Leben jetzt wegzuwerfen, das wäre die größte Feigheit. Aber es mit Mühsal und Geduld für eine vielleicht noch kommende bessere Stunde zu bewahren, darin liegt der echte Mut. Es gibt keine größere Entschlossenheit als zu überleben.

Alice: Wir sollten getrennt reisen. Eine ausreisende Familie sieht nach Landesflucht aus.

Carl: Woran denkst du?

Alice: Wir fliegen nach Berlin. Suhrkamp und Gründgens können uns helfen. Wir warten ab, bis du sicher bist, und kommen dann nach. Aber wie kommst du außer Landes?

Carl: Das lässt sich schon einrichten. Alexander Korda hat mir ein Telegramm geschickt, ich möch­te zur Vorbesprechung für einen neuen Film nach London kommen. Wenn es wie eine kurze Ge­schäftsreise aussieht, lassen sie mich bestimmt über die Grenze. Und dann treffen wir uns in Zürich.

Alice: Meinst du?

Carl: Ich habe meinen österreichischen Pass gar nicht abgeholt, nachdem ich die Staatsbürgerschaft erhalten habe. Das heißt, ich habe einen deutschen Pass statt eines brandneuen österreichischen.  Und ich habe kein „J“ darin, trotz der Großeltern Goldschmidt. Weiß der Himmel, warum. Anderer­seits weiß man ja nie, welche Namen auf den Steckbriefen stehen.

Alice: Sei ehrlich, Carl, wie schätzt du deine Aussichten ein?

Carl: Halb und halb.

Alice: Es ist das Schlimmste. Das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Aber wir müssen es- Ihre Stimme versagt.

Zwischenspiel 1
Carl/Erzähler: In jeder menschlichen Existenz ereignet sich, früher oder später, die Katastrophe der Austreibung, oder Verstoßung, mit der in der biblischen Geschichte alle irdische Mühsal beginnt.

Im Hintergrund laufen Soldaten in Kolonnen herum. Zivilisten machen ihnen eilig Platz, einige ver­suchen, die Soldaten nicht weiter zu beachten, andere bleiben stehen und zeigen den Hitlergruß. Carl läuft mit einem Koffer durch die Menge.

Carl/Erzähler: Als wir Henndorf verlassen mussten, glaubten wir, alles verloren zu haben, was das Leben lebenswert machte: denn es bedeutete den Verlust der natürlichen Zugehörigkeit, wie sie Tra­dition, Arbeitsgemeinschaft, aber auch Stil und Gewohnheit des täglichen Lebens in uns gegründet hat. Mehr noch – den Verlust der Sprache, für jeden Menschen die eigentliche Substanz, Quelle und Wurzel aller Erkenntnis, Erfahrung, Kommunikation – des Humanen schlechthin.
Wir wussten noch nicht, dass man in Wahrheit nichts verlieren kann, was man je wesentlich erfasst und besessen hat, weder Glück noch Schmerz.

Carl steigt in einen Zug und findet ein Abteil mit einigen freien Plätzen. Er verstaut seinen Koffer und setzt sich.

Carl/Erzähler: Die Strecke von Wien zur Schweizer Grenze führt durch das ganze mittlere und westliche Österreich. Es war ein strahlender Vorfrühlingstag, selten hatte ich das Land schöner ge­sehen. Gegen Mittag fuhr der Zug am Wallersee entlang, auf dessen anderer Seite Henndorf lag. Der blaue Himmel spiegelte sich im See. Ich sah meine Badehütte, die in einer Waldlichtung lag.
Schließlich erreichten wir Innsbruck, bis zur Grenze waren es nur noch drei Stunden.

Szene 2
Figuren: Carl, Grenzpolizist, NS-Funktionär, Sozialdemokrat, SA-Männer, Reisen­de.
Der Bahnhof von Innsbruck. Der Zug hält. NS-Funktionär in Zivil mit Hakenkreuzbinde und zwei SA-Männer betreten das Abteil.

NS-Funktionär: Pass zeigen!

Carl überreicht seinen Pass.

NS-Funktionär: Reichsdeutscher, gut, gut. Er blättert durch den Pass, hält inne. Dann: Schriftstel­ler, so, so. Steigen Sie aus mit Gepäck!

Carl: Warum?

NS-Funktionär: Unser Führer liebt die Presse nicht.

Carl: Ich bin nicht von der Presse.

NS-Funktionär: Das wird sich herausstellen. Steigen Sie aus.

Carl: Ich werde in London erwartet, ich kann den Anschluss nicht versäumen. Ich-

NS-Funktionär brüllt: Steigen Sie aus!

Carl nimmt seinen Koffer und folgt dem Beamten. Die SA-Männer gehen seitlich hinter ihm. Mit ei­nigen anderen Frauen und Männern wird er aus dem Bahnhof heraus zur Polizeiwache gebracht. Während einzelne zum Verhör geholt werden, müssen die übrigen warten.

Ein Mann wird unter Protest von Wachen abgeführt.
Wache: Schuschnigg ist abgemeldet. Hier weht jetzt ein anderer Wind. Mitkommen!

Ein älterer Herr, der neben Carl steht, beugt sich zu ihm hinüber.

Mann: Helfen Sie mir.

Carl: Ich kenne Sie. Sie waren Nationalratsabgeordneter der Sozialdemokraten, nicht?

Der Mann nickt. Mit gesenkter Stimmte: A-16023. Falls Sie herauskommen, rufen Sie dort an. Sa­gen, Sie, dass ich verhaftet bin. Man sucht nach mir. A-16023!

Carl: A-16023. Ich merke es mir.

Nach und nach werden weitere der Anwesenden aufgerufen. Schließlich ist Carl an der Reihe. Eine Wache winkt ihm, in eines der Büros zu kommen.
Im Büro sitzt ein Grenzpolizist in normaler Uniform am Schreibtisch.

Carl: Das ist unerhört! Ich protestiere entschieden gegen diese Behandlung!

Polizist mit schwachem österreichischem Akzent: Bitte der Herr, beruhigen‘S sich.

Carl: Beruhigen? Ich werde mich bei ihrer übergeordneten Dienststelle beschweren! So können Sie mit mir nicht umspringen!

Polizist: Ich versichere Ihnen, es handelt sich um eine harmlose Passkontrolle.

Carl: Wenn‘s weiter nichts ist! Wirft seinen Pass auf den Tisch. Überzeugen Sie sich selbst, ob et­was gegen mich vorliegt.

Polizist: Das müssen‘S verstehen. Diese Maßnahme ist außergewöhnlich, ja, aber die Umstände-

Carl: Die Umstände interessieren mich nicht! Mich interessiert nur, wie ich nach London kommen soll, nachdem ich Ihretwegen den Anschluss versäumt habe!

Polizist: Das ist sicher bedauerlich, aber der nächste Zug-

Carl: - fährt zu spät. Ich sollte morgen Abend ankommen. Er nimmt das Telegramm von Korda aus der Manteltasche und wirft es auf den Schreibtisch.

Der Polizist entfaltet das Telegramm und starrt verwirrt auf den Zettel. Was ist das?

Carl: Können Sie kein Englisch, Mann? Mich erwarten wichtige Geschäfte, zu denen ich nicht rechtzeitig eintreffen kann, weil ich hier ohne Grund festgehalten werde. Den Schaden wird man mir ersetzen müssen!

Polizist: Ich bitt‘ das Durcheinander zu entschuldigen, der Herr. Aber wir müssen nun einmal sicher gehen, dass politisch unzuverlässige Elemente sich nicht einfach ins Ausland absetzen. Sobald wir ihren Pass überprüft und mit unseren Listen abgeglichen haben, können Sie ihre Reise fortsetzen.

Carl versöhnlicher: Ich verstehe ja, dass Sie auf der Suche nach… politisch unzuverlässigen Ele­menten besonders gründlich sein müssen. Ich bitte doch nur darum, meinen Pass entsprechend der Ihnen vorliegenden Anweisungen zu überprüfen, damit ich die Reise fortsetzen kann. Sie werden sehen, dass ich ein gewöhnlicher Reisender bin. In meinem Fall besteht keinerlei Grund zu… be­sonderen Maßnahmen.

NS-Funktionär: Er ist Schriftsteller. Das ist verdächtig. Unser Führer liebt die Presse nicht.

Carl: Aber ich schreibe für den Film. Den liebt der Führer.

Polizist: Ja, den liebt er. Zögert kurz. Dann, zu Carl: Ich kenne Ihr Haus in Henndorf. Ich habe dort im See gebadet. Ein schöner Fleck Erde.

Carl: Das stimmt. Was wollen Sie jetzt von mir?

Polizist: In solchen Tagen kommen Irrtümer vor. Wir tun ja nur unsere Pflicht. Gehen Sie rasch – aber durch die Hintertür. Die da draußen kommen nicht so leicht weg. Dös san Jud‘n. Heil Hitler!

Carl nickt unverbindlich und verlässt das Büro. Ein SA-Mann geht ihm nach, tritt von hinten an ihn heran und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Erschrocken dreht Carl sich um. Der SA-Mann nimmt ein schmales Büchlein aus seiner Tasche und reicht es Carl, der es entgegennimmt und in den Händen wendet.

Carl: Ein Sommer in Österreich…

SA-Mann: Das habe ich gerade gelesen. Ist doch von Ihnen oder? Er reicht Carl einen Füller. Wür­den‘S mir Ihren Namen reinschreiben?

Carl signiert das Buch und gibt es samt Füller zurück.

SA-Mann: Schönen Dank auch. Mit gesenkter Stimme: Jetzt gibt‘s kein Sommer in Österreich mehr. Leben Sie wohl und kommen Sie ja nicht wieder. Passen‘S auf an der Grenze.

Carl geht zum Bahnsteig. Es dauert lang, bis der nächste Zug kommt. Carl steigt ein und findet ein Abteil. Der stellt seinen Koffer ab und zieht den Mantel aus. Die anderen Fahrgäste, die sich bisher normal verhalten haben, starren ihn an. Sie stoßen einander an und nicken in seine Richtung. Angst und Anspannung treten in ihre Gesichter.

Zwischenspiel 2
Carl/Erzähler: Es trug nämlich in diesen Tagen jedermann in Österreich, der sich keinen Unan­nehmlichkeiten auf der Straße aussetzen wollte, das Hakenkreuz im Knopfloch. Wer keines trug, musste darauf gefasst sein, angepöbelt zu werden – oder Schlimmeres. Jeder starrte dem andern zu­erst aufs Knopfloch. Ein Hakenkreuz konnte und wollte ich selbstverständlich nicht tragen, auch nicht zum Schein. Ich hatte aber die Schnalle mit meinen Kriegsauszeichnungen am Rockaufschlag befestigt. Man mag das als veraltete Romantik bezeichnen, aber ich hatte diese Dinge aufbewahrt; für mich bedeuteten sie eine Erinnerung an ernste, schwere, an der Seite unvergesslicher Kamera­den durchlebte und überstandene Jahre – ohne zu ahnen, dass sie mir noch einmal das Leben retten sollten.
Jetzt aber hatte ich ganz vergessen, dass ich diese Dekorationen, die wir im Krieg respektlos als Klempnerladen bezeichnet hatten, unter dem Mantel trug, und bemerkte erst an den ängstlich ver­störten Augen meiner Mitreisenden die Wirkung: als Österreicher wussten sie nicht genau, was das war, aber sie sahen etwas Schwarz-Weiß-Rotes.

Szene 3
Figuren: Carl, Rebekka, Baldur, Geschäftsmann, Professor, Ältere Dame, SS-Männer, SA-Männer, Reisende.
Abteil im Zug nach Zürich. Professor steht auf. Zu Carl: Bitteschön, wollen der Herr nicht Platz nehmen?

Carl: Aber das ist doch Ihr Platz. Behalten Sie ihn doch bitte!

Professor: Nein, bitte. Es macht mir nichts aus, zu stehen.

Die anderen Reisenden schaffen Platz, indem sie zusammenrücken oder das Gepäck auf den Schoß nehmen.

Carl: Das ist nicht nötig, wirklich…

Professor: Es sind keine Umstände, bitte.

Carl zieht seinen Koffer heran und setzt sich darauf. So, jetzt haben wir alle einen Platz.
Stille. Der Geschäftsmann reicht Carl eine Feldflasche aus Blech.

Geschäftsmann: Darf ich Ihnen ein Schluck anbieten? Das beruhigt die Nerven.

Carl: Vielen Dank. Nimmt einen Schluck. Ein wenig Beruhigung kann uns allen nicht schaden. Er gibt die Flasche zurück, der Geschäftsmann trinkt ebenfalls und schraubt den Deckel auf.

Carl: Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle. Carl Zuckmayer aus Salzburg. Ich bin Schriftsteller.

Baldur: Baldur Schneider. Ich bin… war Mittelstürmer beim SC Wien ’97.

Geschäftsmann: Ein tüchtiger Fußballer und dann noch dieser Name? Warum willst du das Land verlassen, Junge? Du hast doch nichts zu befürchten.

Baldur: Ich nicht, aber-

Rebekka nimmt seine Hand: Es ist meinetwegen. Wir gehen gemeinsam fort.

Baldur: Rassenschande nennen sie es. Dabei haben Rebekka und ich doch gar nicht… Also, ich meine…

Schweigen.

Professor: Ich war Professor für Alte Geschichte an der Universität in Graz. Aber jetzt…

Rebekka: Was ist das für ein Lärm im Gang?

Professor: Kontrollen. Sie suchen nach Devisen.

Baldur: Devisen?

Carl: Es ist nicht erlaubt, mehr als zehn Reichsmark oder zwanzig Schilling mit sich zu führen. Wenn ihr diesen Betrag nicht überschreitet, können sie euch nichts anhaben. - Nun, jedenfalls nicht deswegen.

Geschäftsmann nimmt einen Schluck aus der Feldflasche: Mein Vater war ein kommandierender General. Was kann mir schon passieren.

Professor: Beim letzten Halt habe ich gesehen, wie sie einige erwischt haben, die mehr dabei hatten. Schon auf kleinste Abweichungen stehen harte Strafen. Auf schwere Überschreitungen sogar der Tod. Und sie sind besonders gründlich, weil es Prämien gibt, für jeden Verstoß, den sie aufdecken.

Geschäftsmann: Mir können sie nichts tun. Mein Vater war kommandierender General. Ich habe Beziehungen.

Rebekka: Aber warum kontrollieren sie denn jetzt schon? Müssen wir uns dann an der Grenze nicht mehr durchsuchen lassen?

Carl: Die Durchsuchungen im Zug sind eigentlich unnötig. Es ist im kleinen das Abbild des ganzen Systems. Jeder einzelne soll das Gefühl haben, in jedem Augenblick beobachtet zu sein und erfasst werden zu können.

Baldur: Was sollen wir denn an der Grenze sagen? Dass wir auf Verwandtenbesuch fahren? Oder in die Ferien?

Rebekka: Und was sollen wir sagen, wenn sie nach uns fragen? Du könntest mich als deine Cousine ausgeben, Baldur. Dann halten sie mich vielleicht nicht für eine Jüdin.

Carl: Sagt am besten gar nichts. Auf jeden Fall nicht mehr, als ihr müsst. Und wenn sie nach Eurer Beziehung fragen, sagt einfach, ihr seid euch noch nie begegnet, bevor ihr in dieses Abteil gestiegen seid. Ihr seid zufällige Reisebekannte, weiter nichts.

Baldur: Vielleicht haben Sie recht. Damit bleiben wir unauffällig.

Ein SS-Mann kommt ins Abteil. Kontrolle zur Stichprobe. Führen Sie Bargeld mit sich und in wel­cher Höhe?

Geschäftsmann eilig: Zehn Reichsmark.

Nacheinander nennen alle anderen Reisenden Beträge von zwanzig Schilling oder knapp darunter. Baldur und Rebekka versuchen, sich durch Blicke und verstohlenes Nicken auszutauschen, stellen sich dabei aber ungeschickt an.

SS-Mann zu Rebekka: Kennen Sie diesen Herrn?

Rebekka: J-ja. Das ist mein Verlobter.

SS-Mann: Ihr Verlobter also. Die Pässe!

Eingeschüchtert übergeben die beiden ihre Pässe. Der SS-Mann nimmt sie und verlässt das Abteil. Auf dem Gang zündet er sich eine Zigarette an, bevor er außer Sicht geht.

Baldur: Verlobter…
Rebekka: Ich… Du…

Baldur: Mein Verlobter! Das ist mir ein Rätsel. Wir sind doch gar nicht…

Rebekka: Also…

Baldur: Wir haben doch sonst nie das Wort gebraucht… Wir sind halt zusammen. Und jetzt sagt sie plötzlich: mein Verlobter! Und dann zu dem Kerl!

Rebekka: Ich kann ihm doch nicht sagen, dass wir Lebensgefährten sind… Unsere Beziehung ist ja mehr seelischer Natur- Sie bricht verlegen ab.

Stille. Der SS-Mann kommt zurück und übergibt die Pässe. Ihre Papiere sind in Ordnung. Er geht.

Carl steht auf. Entschuldigen Sie mich kurz, ich muss mich ein wenig bewegen.

Er verlässt das Abteil und geht auf dem Gang auf und ab, sieht aus dem Fenster. Eine ältere Dame kommt aus einem Nachbarabteil. Herr Zuckmayer!

Carl: Entschuldigen Sie, kennen wir uns?

Ältere Dame: Ich habe Sie einmal in Wien bei einer Premiere gesehen. Was war es noch gleich… Hoffmansthal? Was für eine Freude, sie hier zu sehen.

Carl: Hoffmansthal? Gut möglich.

Dame: Jedenfalls kenne ich Ihr Gesicht auch aus den Illustrierten. Wohin sind Sie denn unterwegs?

Carl: Nach London. Zu einer Besprechung für einen Film.

Dame: Film! Ah ja. Ich gehe ja manchmal auch gern ins Kino, aber es bleibt doch irgendwie leblos verglichen mit dem Theater. Aber sagen Sie mal, sie kennen doch Max Reinhardt, nicht?

Carl: Durchaus.

Dame: Und wissen Sie, was er plant? Vielleicht Schiller? Die Maria Stuart in der Josefstadt war ja wunderbar!

Carl: Das ist vier Jahre her.

Dame: Schrecklich nicht? Aber vielleicht in Salzburg? Diese Faust-Inszenierung letzten Sommer… großartig! Wird denn der „Jedermann“ nächstes Jahr wieder gespielt?

Carl: Ich glaube nicht, dass Reinhardt unter diesen neuen Umständen noch weiter die Festspiele lei­ten wird.

Dame: Ach, wie Schade! Aber Toscanini wird doch wiederkommen? Er ist so ein guter Dirigent! Diese Wucht gibt es kein zweites Mal.

Carl: Ja, er ist ein Gigant.

Dame: Obwohl Bruno Walter…
Carl: Der ist in Lugano. Oder Frankreich? Ich verliere langsam den Überblick. Wir werden langsamer. Ich glaube, wir kommen gleich an die Grenze. Entschuldigen Sie mich, ich sollte meine Sachen holen.

Dame: Gute Reise!

Carl geht zurück ins Abteil. Wir kommen gleich an den Grenzübergang in Feldkirch. Der Zug bremst schon ab.

Alle ziehen Mäntel an und greifen nach Gepäckstücken.

Geschäftsmann: Mein Vater war ein kommandierender General, sie können mir nichts tun…

Plötzlich springt er auf, geht zum Fenster und schiebt es nach unten. Aus einer Tasche zieht er ein dickes Bündel Geldscheine und wirft es aus dem Fenster. Dann nimmt er seinen Koffer und verlässt das Abteil. Der Zug kommt zum Stehen. Draußen ruft ein SA-Mann: Alles raus, mit Gepäck! Der Zug wird geräumt.

Carl aus dem Fenster: Träger!

SA-Mann: Selber schleppen! Gibt keine Träger für Euch.

Zwischenspiel 3
Carl/Erzähler: Man war, als Insasse dieses Zugs, bereits nur noch in der Mehrzahl vorhanden. So er­griff ich meine zwei Koffer, in denen alles verstaut war, was ich hatte mitnehmen können: das Not­wendigste für kurze Zeit. Ich empfand eigentlich nichts und dachte in dem Augenblick auch nichts. Eine kalte Spannung hatte mich erfüllt. Aber alle Instinkte waren auf die Rettung konzentriert. Ich denke heute: ob es dem Fuchs so zumute ist, wenn er die Meute hört?

Alle verlassen den Zug. Auf dem Bahnsteig herrscht Chaos. Reisende stehen ängstlich zusammen­gedrängt, während SA und SS ihnen die Koffer entreißen, auf Tischen ausleeren und den Inhalt durchwühlen.

Carl/Erzähler: Ich sah zu meinem Schrecken, dass der Grenzdienst fast auschließlich von Hitler-Truppen in brauner und schwarzer Uniform ausgeübt wurde. Und das bei Hunderten von Passagie­ren, von denen dann noch jeder einzelne körperlich visitiert und sozusagen selbst wie ein Koffer umgestülpt wurde. Ich sagte mir, dass dieses Beispiel deutscher Gründlichkeit viele Stunden lang dauern müsse, und machte mich auf eine lange Folter gefasst.

Zwei SS-Männer treten heran. Der eine greift einen Koffer von Carl, öffnet und durchsucht ihn, der andere streckt die Hand aus. Carl übergibt seinen Pass.

SS-Mann blättert durch den Pass, hält inne: Zuckmayer?

Carl nickt.

SS-Mann: Der Zuckmayer?

Carl: Was meinen Sie damit?

SS-Mann: Ich meine: der berüchtigte.
Carl: Ob ich berüchtigt bin, weiß ich nicht. Aber es gibt wohl keinen anderen Schriftsteller meines Namens.

SS-Mann: Kommen Sie mit.

Carl: Ich muss bei meinem Gepäck bleiben.

SS-Mann: Das müssen Sie nicht.

Gefolgt von Carl geht der SS-Mann in eine Baracke am Ende des Bahnsteigs. Dort sitzt an einem Schreibtisch ein weiterer SS-Sturmführer, vor ihm steht ein Reisender.

Sturmführer (hochdeutsch ohne österreichische Färbung): Ins Revier zum Abtrans­port. Wenn überfüllt, ins Ortsgefängnis. Der nächste Herr, bitte.

Der SS-Mann, der Carl gebracht hat, geht zum Schreibtisch, flüstert seinem Kollegen etwas zu, gibt ihm Carls Pass und nimmt den Reisenden mit.

Sturmführer: Carl Zuckmayer. Aha. Er blättert durch den Pass, stutzt. Merkwürdig. Der dürfte doch eigentlich nur noch sechs Monate gültig sein… Er greift nach einem Stoß zu­sammengehefteten Papiers, blättert durch die Liste. Welamowitz… Zaaler… Zweig… Hm…
Zu Carl: Komisch, ich habe doch mal irgendwas über Sie gehört, aber ich weiß nicht mehr genau. Sie sind also gar kein Hebräer. Blickt wieder in den Pass. Katholisch. Na ja. Die Pfaffen werden wir auch noch drankriegen.

Carl: Ich lebe nicht im Zölibat. Der Sturmführer lacht, Carl stimmt etwas gezwungen ein.

Der Sturmführer steht auf und kommt um den Tisch herum. Wo fahren Sie hin?

Carl: Nach London, um einen Film zu schreiben.

Sturmführer: Film? Das ist interessant. Haben Sie schon mehr Filme geschrieben? Solche, die man kennt?

Carl: Der letzte hieß „Rembrandt“.

Sturmführer: Oh – den habe ich gesehen. Der war politisch einwandfrei. Er ist ist in Wien gelaufen, als ich letzten Winter zum SS-Schulungskurs abkommandiert war. Verschwörerisch: Illegal natürlich. Sind sie Parteige­nosse? Haben Sie einen Parteiausweis mit?

Carl: Nein, ich bin kein Parteigenosse.

Sturmführer: So, ein deutscher Schriftsteller und nicht Parteigenosse? Aber Sie sind doch Mitglied der Reichsschrifttumskammer?

Carl: Nein. Auch das nicht.

Sturmführer: Und weshalb nicht?

Carl: Ich kann nicht Parteigenosse sein, weil meine Werke in Deutschland verboten sind. Sie stim­men nicht mit der nationalsozialistischen Weltanschauung überein. Deshalb arbeite ich ja auch in London, wo ich auch den Rembrandt-Film gemacht habe. Dass ich beliebig ins Ausland reisen kann, sehen Sie aus meinem Pass, sonst hätte ich ihn nicht. Das muss Ihnen doch genügen.

Sturmführer: Fabelhaft! Diese offene Aussage! Diese Ehrlichkeit!

Carl: Glauben Sie denn, jeder, der hier hereinkommt, ist ein Lügner?

Sturmführer: Die meisten schon, aber Sie – Sie sind halt ein deutscher Mann! Das hätt‘ ich nie ge­glaubt, dass am heutigen Tag einer offen zugibt, er ist kein PG, er ist verboten! Sie – aus Ihnen wird noch ein Parteigenosse, das garantier ich Ihnen! Hält Carl den Pass hin.

Carl: Dankeschön. Kann ich jetzt zu meinem Gepäck?

Sturmführer: Ich komme mit. Ich brauche auch mal eine Ablösung. Fabelhaft. Vor Ihnen hab ich Re­spekt. Ihr Gepäck ist ja einwandfrei, hoffe ich?

Carl: Würden Sie es mir glauben, wenn ich Ja sagte?

Sturmführer: Da hätten Sie mich beinahe drangekriegt, was? Ich soll einem Schriftsteller, noch dazu einem verbotenen Glauben! Aber Sie gefallen mir. Sicher, dass Sie gehen wollen? Die Bewegung könnte einen wie Sie gut gebrauchen.

Carl: Abwarten, wie es in London läuft. Vielleicht komme ich schon in einer Woche zurück. Ich darf doch rauchen?

Sturmführer: Bitte!

Carl schlägt seinen Mantel auf und nimmt Zigarettenetui aus der Innentasche. Dabei werden seine Auszeichnungen sichtbar.
Der SS-Mann bemerkt sie sofort. Sie waren an der Front?

Carl: Natürlich. Fast vier Jahre lang.

Sturmführer: Offizier gewesen?

Carl nickt.

Sturmführer: Ist das nicht das Eiserne Kreuz Erster Klasse?

Carl: Ja.

Sturmführer: Und das?

Carl: Die hessische Tapferkeitsmedaille. Ich stamme aus Mainz. Die bekam jeder, wenn er eine Zeit lang dabei war.

Sturmführer: Aber das hier – mit den Schwertern…

Carl: Der „Zähringer Löwe“ mit Eichenlaub und Schwertern. Eine Auszeichnung für Offiziere, die bei einer badischen Formation standen und sich dort verdient gemacht haben.

Sturmführer: Dann sind Sie ja ein Held!

Carl: Das nicht. Aber immerhin kann man sich die Dinger nicht für zehn Groschen auf der Straße kaufen.

Sturmführer lacht: Prachtvoll! Sie meinen die Mitläufer! Die Opportunisten! Das ist deutscher Humor. Großartig! Kurze Pause. Wir von der jüngeren Generation, die wir nicht mehr das Glück hatten, am Krieg teilzunehmen, wissen trotzdem, was wir unseren Helden schuldig sind. Geht zur Tür.  Achtung! SA und SS angetreten!

Er geht auf den Bahnsteig hinaus, Carl folgt ihm. Die Männer, die damit beschäftigt waren, Gepäck zu durchsuchen kommen heran, stellen sich in einer Reihe auf und stehen stramm.
Sturmführer: Wir ehren einen Helden des Weltkriegs 14-18! Heil Hitler!

Die angetretenen Männer wiederholen den Hitlergruß synchron.

Carl/Erzähler: Ich war plötzlich der große Mann der Grenzstation und kam mir vor wie der Hauptmann von Köpenick in meinem eigenen Theaterstück.

Sturmführer: Wo ist das Gepäck dieses Herrn? Zuschließen. In den Schweizer Zug bringen!

SA-Mann: Der Herr war noch nicht bei der Leibesvisitation.

Sturmführer: Der Herr braucht nicht zur Leibesvisitation, der Herr ist abgefertigt. Zu Carl: Sie können in die Bahnhofswirtschaft gehen. Mit den anderen haben wir noch stundenlang zu tun.

Einige SA-Leute bringen Carls Gepäck in den Zug Richtung Schweiz, die übrigen setzen die Durchsuchungen fort. Der SS-Mann geht zum Bahnhofsrestaurant hinüber und winkt Carl, ihm zu folgen. Ein Reisender hält Carl fest.

Reisender: Ich bin mit Ihrer Frau damals ins Ferienheim der Schwarzwaldschule gegangen, sie kennt mich gut. Meine Frau liegt mit gebrochenem Bein noch im anderen Zug, ich weiß nicht, wie wir hier wegkommen, sie ist Jüdin. Vielleicht können sie mir helfen!

Carl zu Sturmführer: Ich kenne diesen Herrn, er ist politisch einwandfrei. Seine Frau hat ein Bein gebrochen und kann nicht zur Kontrolle. Würden Sie mir den Gefallen tun, den Herrschaften behilflich zu sein?

Sturmführer: Wenn Sie für die Leute gutsagen, dann geht das in Ordnung. Winkt einen SA-Mann herbei. Gehen Sie mit diesem Herrn und helfen Sie ihm, seine Frau in den Schweizer Zug zu bringen.

SA-Mann: Aber wir haben sie noch nicht überprüft. Ihre Papiere-

Sturmführer: Ruhe, Mann! Die Herrschaften müssen nicht kontrolliert werden. Gehen sie, aber ein bisschen plötzlich!

SA-Mann und Reisender gehen zum Zug.
Sturmführer zu Carl: Keinen Respekt vor Vorgesetzten. Wo kommen wir hin, wenn wir jeden Befehl rechtfertigen müssen?

Er und Carl gehen ins Bahnhofsrestaurant. Der Sturmführer bestellt eine Flasche Wein und zwei Gläser. Er gießt ein und hebt das Glas. Widerwillig stößt Carl an.

Sturmführer: Und ich sage Ihnen, Sie sind doch ein Held. Diese Orden beweisen es.

Carl: Wenn Sie meinen.

Sturmführer: Wenn die Juden und Sozialisten damals nicht gewesen wären, hätten wir den Krieg gewonnen und heute würde ganz Europa auf uns hören. Ein Jammer, dass ich damals zu jung zum Kämpfen war und mich nicht im Krieg bewähren konnte.

Carl: Es wird schon noch einen geben.

Sturmführer: Meinen Sie?

Carl: Bestimmt. Und dann schlägt Ihre Stunde. Sie werden sehen.

Sturmführer: Ja! Trinken wir darauf! Wieder stoßen sie an.

Epilog
Carl/Erzähler: Ich sah ihn plötzlich, ohne Hass, aber auch ohne Mitleid, in einer Blutlache liegen, mit fahlem Gesicht, wie ich so viele gesehen hatte.
Die Stunden schlichen. Mein Puls klopfte mit dem Ticken der Uhr. Wenn man nur schon raus wäre.  Jede Sekunde kann irgendeine neue Wendung bringen, jede neue Ablösung eines Grenzbeamten eine neue Verdächtigung, und die ganze Komödie war umsonst. Jetzt, wo ich schon fast gerettet war, spürte ich Todesangst.

Carl steht auf. Der Sturmführer schüttelt ihm die Hand, Carl steigt in den Zug.

Carl/Erzähler: Der Himmel war glasgrün und wolkenlos, die Sonne flimmerte auf dem Firnschnee, als der Zug die Grenze passierte. Alles war vorbei. Ich saß in einem Zug und er ging nicht Richtung Dachau.

Ende.



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V.K.B.
Geschlecht:männlich[Error C7: not in list]

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Beiträge: 6155
Wohnort: Nullraum
Das goldene Rampenlicht Das silberne Boot
Goldenes Licht Weltrettung in Silber


Beitrag05.02.2018 23:50

von V.K.B.
Antworten mit Zitat

Sehr interessiert gelesen. Eigentlich wollte ich nur mal reinschauen, dann bin ich hängengeblieben. Ich hab keine großen Erfahrungen mit Theater, also kann ich nur sagen, was mir beim Lesen aufgefallen ist:

- ich weiß, du willst möglichst viele Dinge der Biographie in den Dialogen unterbringen, aber gerade am Anfang mit der Frau wirkt das arg künstlich. Ich kann mir die Szene auch nicht gesprochen/gespielt vorstellen, bzw. glaube nicht, dass ich sie nicht unfreiwillig komisch finden würde. Zu viel zu konzentrierter Infodump, so redet doch niemand.

- die Zwischenspiele bzw der ganze Erzähler wirft mich raus. Das Stück würde für mich auch ohne dessen Kommentare wirken, ich denke sogar besser. Ich mag nicht vorgesetzt bekommen, was ich denken soll.

- historische Frage / gerade Unsicherheit meinerseits: Die SA ist bei den Kontrollen dabei, in 1938? War diese nicht nach der Zerschlagung ihrer Führungsspitze 34 quasi  bedeutungslos geworden und hat sich nur noch mit der Ausbildung seiner Mitglieder (und später Pogromen) befasst, statt aktiv bei irgendwas sicherheitsrelevantem wie Grenzkontrollen mitmachen zu dürfen?

auf jeden Fall gern und interessiert gelesen,
Veith


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Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills …
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Murmel
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Beitrag06.02.2018 00:20

von Murmel
Antworten mit Zitat

Ich habe mich auch drangewagt, ein bisschen gestärkt durch Robert McKees Story, durch das mir erst die Unterschiede Buch / Theaterstück / Film bewusst wurden (und ich jetzt auch verstehe, warum der Film anders als das Buch werden muss).

Die Forderung, dass ein Theaterstück zu 80% die Informationen trägt, hast du überfüllt, da es praktisch nur Dialog ist. Mir ist auch nicht ganz klar, wie du die Szenen als Bühnenfassung darstellen willst, denn da ist viel Wechsel drin Zug / Bahnsteig / Büro ...

Der erste Akt hängt noch etwas durch, sein Umschwung ist nicht ganz nachvollziehbar und es riecht nach Infodump.

Aber ansonsten finde ich das ist auf dem richtigen Weg. Würde mir gefallen.
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