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Schreiben über das Schreiben


 
 
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PhilipS
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 109



Beitrag24.01.2018 19:32
Schreiben über das Schreiben
von PhilipS
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Meinen Einstand gebe ich mit einer Kurzgeschichte, die ich vor drei Jahren geschrieben habe, um eine Frau zu beeindrucken. Das hat zwar nicht funktioniert, aber dabei ist ein Text entstanden, den ich ganz gerne mag. Weil ich die Foren-Bleiwüste nicht sehr leserfreundlich finde, hänge ich die Datei an. (Ich hoffe, das ist in Ordnung.) Über Rückmeldungen würde ich mich freuen, auch weil ich überlege, die Geschichte einigen Zeitschriften anzubieten.

Auf gute Zusammenarbeit
Philip



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Bananenfischin
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Beitrag24.01.2018 20:12

von Bananenfischin
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Hallo Philip,

bitte stelle deine Texte direkt ins Textfeld ein, nicht als Anhang. Unter anderem wird Textarbeit so überhaupt erst wirklich möglich.

Danke und liebe Grüße
Bananenfischin


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

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I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
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PhilipS
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Beiträge: 109



Beitrag24.01.2018 20:14

von PhilipS
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Kein Problem. Dachte, es wäre bequemer zu lesen. Dann kommt hier der Text:

Unerwarteter Besuch

Der Cursor blinkt vorwurfsvoll auf dem weißen Hintergrund. In seinem unermüdlichen Rhythmus ist er wie eine Sirene, die stumm schreit: „Schreib! Schreib! Schreib!“ Ein leeres Papier dagegen heißt einen willkommen. Es drängt nicht, sondern wartet. Papier ist geduldig, und Andreas will sich nicht mehr anschreien lassen. Vielleicht sollte er dazu zurückkehren, mit der Hand zu schreiben.
Aber nicht mehr heute. Er schließt das Textprogramm und ruft aus seiner Musiksammlung die zweite Sym­phonie von Schumann auf. Während die ersten Takte den Raum erfüllen, erhebt Andreas sich vom Schreibtisch. Er geht zur Balkontür, öffnet sie und lehnt sich an den Rahmen. Er blickt auf die dunkle, leere Straße hinab und atmet die kalte Novemberluft ein. Er spürt eine tiefsitzende Erschöp­fung, als sei jede Zelle seines Körpers ausgelaugt. Andreas Hoffmann ist dreiunddreißig Jahre alt. Er hat vier mäßig erfolgreiche Romane und eine Reihe Kurzgeschichten verfasst, und es kommt ihm vor, als habe er seine beste Zeit hinter sich. Als er sein neues Projekt konzipierte, kam ihm die Idee wirklich gut vor, aber jetzt scheint es ihm nicht mehr lohnenswert, überhaupt mit der Arbeit zu beginnen.
Andreas sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Ein paar Straßen weiter ist eine Bar. Er könnte hinge­hen, sich an die Theke setzen und unter Leuten sein. Fröhliche Leute, die lärmen und lachen und kei­ne Sorgen haben, oder jedenfalls nur solche, die ihm klein und lächerlich erscheinen. Viel­leicht säße je­mand auf dem benachbarten Hocker. Sie würden einander zuprosten und ein paar Bemer­kungen austau­schen. Über das Wetter vielleicht. Oder über das Fußballspiel, das man im Fernseher über dem Fla­schenregal sehen kann. Gibt es heute ein Spiel? Bestimmt. Es gibt doch fast jeden Abend eins.
Vielleicht säße auch eine Frau an der Bar. Sie würde eine Weile lang mit verträumten Gesichtsausdruck in ihrem Cocktailglas rühren und sich dann zu Andreas herüberbeugen, um nach Feuer zu fragen. Er würde ihr die Zigarette anzünden und ihr dabei in die Augen sehen, über die Flamme hinweg. Dabei würde er irgendetwas Beiläufiges sagen. Sie würde sich lächelnd bedanken und ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln betrachten. Und irgendwann später würde er fragen, ob er ihr ein Getränk ausgeben könnte ... Er durfte nicht vergessen, Streichhölzer einzustecken.
Aber er ist so müde, sein nächster Roman wäre genauso mittelmäßig wie die anderen, oder sogar noch schlechter, und wenn eine Frau ihn nach Feuer fragt, würde ihm nichts einfallen. Warum soll er ver­suchen, sich etwas vorzumachen, wenn ihm das nicht einmal bei seinen Lesern gelingt?
Andreas entscheidet, den Fernseher einzuschalten und einen Krimi zu sehen. Es gibt ja fast jeden Abend einen. Er schließt die Balkontür und durchquert das Wohnzimmer seiner Zweiraumwohnung, um sich etwas zu trinken zu holen. Er hat gerade ein Glas aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klin­gelt. Kurz erwägt Andreas, es zu ignorieren. Er ist nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, und erwartet auch keinen. Aber dann siegt die Neugier. Er will zumindest wissen, wer da  unerwartet vor der Tür steht. Er betätigt den Türöffner und tritt hinaus auf den Treppenab­satz. Er hört, wie im Erdgeschoss die Haustür ins Schloss fällt, beugt sich über das Geländer und ruft: „Hallo?“
Anstatt einer Antwort vernimmt er aber nur Schritte, die die Treppe heraufkommen. Nach kurzer Zeit sieht Andreas den Besucher dann auch. Es ist ein Mann, vielleicht Ende zwanzig mit rotblondem Haar und randloser Brille. Er trägt einen Mantel aus dunkler Wolle über einem silbrig-grauen Anzug, dazu ein blaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Andreas hat vage das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, könnte aber beim besten Willen nicht sagen, wann oder wo.
Der Besucher bringt die letzten Stufen hinter sich, sagt freundlich „Guten Abend“ und geht an An­dreas vorbei in die Wohnung. Dieser ist so überrascht, dass er noch einige Augenblicke lang vor der Tür stehen bleibt, bevor er sich dann ruckartig umdreht und dem anderen folgt. Der hat inzwischen seinen Mantel an die Garderobe gehängt und sich auf das Sofa gesetzt. Andreas zieht die Wohnungstür hinter sich zu und steht dann ein wenig verloren im Raum herum. Da tauchte dieser Fremde plötzlich auf und machte es sich wie selbstverständlich bequem, mit dem Ergebnis, dass er selbst sich in den eigenen vier Wänden unbehaglich fühlt. Er will diesen Eindringling packen und ihn anschnauzen, was er verdammt nochmal hier zu suchen hätte, aber er ist immer noch überrumpelt und so müde...
Er muss irgendetwas tun, um über seine Verunsicherung hinwegzugehen, also nimmt er die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkt sich ein. Er will gerade einen Schluck nehmen, da sag­t der Mann auf dem Sofa: „Ich möchte Ihre Gastfreundschaft ja nicht überstrapazieren, aber hätten Sie vielleicht ein Glas davon für mich übrig?“ Zu seiner eigenen Verwunderung hört Andreas sich antwor­ten: „Aber sicher. Augenblick.“ Er füllt ein zweites Glas und geht zur Sitzecke hinüber. Er setzt sich in den Sessel, während sein Gegenüber an dem Wein riecht, einen Schluck nimmt und anerkennend nick­t. Andreas hält es nicht mehr aus. Er stellt sein Glas auf den Couchtisch, beugt sich vor und fragt: „Entschuldigen Sie, aber woher kennen wir uns? Waren Sie bei meiner Lesung in der Buchhandlung Kampe?“
Der Mann wirft ihm einen Blick zu, in dem sich Verwunderung und Enttäuschung mischen. „Ich bin Benedikt Vomwald“, erklärt er, als sei damit alles klar. Andreas erstarrt, als er den Namen hört. So heißt die Hauptfigur seines zweiten Romans. Was geht hier vor?
„Benedikt Vomwald“, wiederholt er.
„Ganz genau“, bestätigt dieser. Andreas fährt fort: „Ihre Eltern sind Klaus und Friederike Vomwald?“
„Die müssten Sie doch kennen.“
„Sie sind Anwalt für Steuerrecht und arbeiten bei der Kanzlei Wolters und de Jong?“
Der Mann, der sich als Benedikt vorgestellt hat, verzieht das Gesicht. „Das tue ich, wenn auch nicht gerne. Warum fragen Sie das alles, das wissen Sie doch.“ Andreas antwortet nicht, sondern lehnt sich im Sessel zurück und trinkt einen Schluck, während er sein Gegenüber betrachtet. Dieser Mann sieht tatsächlich so aus, wie er sich Benedikt immer vorstellte. Bevor er etwas sagen kann, klingelt es erneut an der Haustür. Das Geräusch geht Andreas durch Mark und Bein. Er traut sich kaum, aufzu­stehen und den Summer zu drücken. Wer käme als nächstes die Treppe herauf?
Wie es sich herausstellt, sind es zwei auf einmal. Der eine Besucher ist ein Mann um die siebzig mit weißer Mähne. Er trägt einen dreiteiligen Anzug mit Fliege und hat einen schwarz la­ckierten Stock. In seiner Begleitung befindet sich eine Frau, die höchstens halb so alt war wie er. Mit ei­ner Hand stützt sie den älteren, in der anderen hält sie einen Stoffbeutel. Der Mann schüttelt Andreas die Hand. „Georg Theißen“, stellt er sich vor. „Ich nehme an, Sie sind Andreas? Freut mich, dass wir ein­ander einmal persönlich begegnen.“ Dann geht er hinein. Die Frau streckt Andreas ebenfalls die Hand entgegen. Er weiß ihren Namen bereits, bevor sie ihn sagt. Es kann sich nur um Rebekkah Meh­ring handeln. Georg Theißen ist der alte Komponist, der zurückgezogen in einem Leuchtturm leb­t, und sie die Violinistin, die eine Partitur von ihm entdeckt und sich auf die Suche nach ihm mach­t. Diese Erzählung hat Andreas vor einigen Jahren geschrieben.
Er bittet sie herein, nimmt ihr den Mantel ab und macht sie mit Benedikt bekannt. Georg setzt sich.
Vom Esstisch her lässt sich Rebekkah vernehmen. „Herr Hoffmann? Könnten Sie mir kurz helfen?“ Er geht zu ihr, derweil Theißen und Vomwald ein Gespräch über die Musik des 19. Jahrhunderts begin­nen. Die Violinistin hat die Stofftasche auf den Tisch gestellt und entnimmt ihr nun zwei Flaschen Wein, Graubrot, verschiedene Sorten Käse und Trauben. „Ich dachte, wenn wir schon unangemeldet hereinplatzen, sollten wir wenigstens nicht mit leeren Händen erscheinen.“ Andreas gibt ihr ein Brett und das Brotmesser. Während sie das Brot aufschneidet, entkorkt er eine der Flaschen und gießt den In­halt in den Dekanter. Als er gerade dabei ist, den Käse auf einem Teller zu arrangieren, sagt Re­bekkah mit gesenkter Stimme: „Er hat sich so sehr darauf gefreut, Sie kennen zu lernen, wissen Sie? Tagelang hat er von nichts Anderem gesprochen, er war wie ein Kind vor Weihnachten.“ Ihre Stimme ist zärtlich, ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, doch dann atmet sie tief ein und fragt: „Ist er krank? Ich habe so einen Verdacht, aber er weicht mir immer aus, wenn ich versuche, die Sprache darauf zu bringen. Sie kennen ihn besser als irgendjemand sonst. Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sa­gen, bitte!“
In der Erzählung hat Andreas tatsächlich angedeutet, dass Theißen an einer tödlichen Krankheit leidet, es letztlich aber offen gelassen. Also zuckt er mit den Schultern und erklärt: „Tut mir Leid. Was das betrifft, weiß ich auch nicht mehr als Sie.“ Sie nickt mit versteinerter Miene und bringt Brot und Käse zu den anderen hinüber. Andreas folgt ihr mit dem Dekanter und Weingläsern. Er setzt sich und fragt Theißen: „Komponieren Sie noch, Georg? Dürfen wir auf ein fulminantes Spätwerk von Ihnen hoffen?“ Der Gefragte schüttelt den Kopf. „Ich befürchte, meine Schaffenskraft ist erschöpft, aber Re­bekkah hört nicht auf, auf mich einzureden, dass ich es noch einmal versuchen soll. Zweifelsohne hofft sie darauf, bei der Uraufführung ein Solo zu spielen.“ Sie lachen alle und bedienen sich dann an Brot und Käse.
Wieder klingelt es. Benedikt sagt rasch: „Bleib sitzen, Andreas.“ Er geht seinerseits zur Tür, um zu öffnen. Draußen stehen Herbert Semmering und Bruno Reuters. Ersterer ist ein siebzigjähriger Fami­lienvater, der nach dem Tod seiner Frau der übertrieben Fürsorglichkeit seiner Verwandten entflieht und nach Australien reist, wo er von einer Gruppe Biker aufgenommen wurde. Diese Geschichte stellt An­dreas' Versuch dar, etwas Humoristisches mit ernsthaften Untertönen zu schreiben. Er findet nicht, dass es ihm gelungen ist. Reuters ist Kriminalpolizist und versucht, in einem kleinen Ort in der Eifel den Tod eines achtzehnjährigen Schülers aufzuklären. Es ist eines der frühesten Werke von Andreas und eines, das er am wenigsten misslungen findet.
Semmering stellt eine Flasche Whiskey auf den Tisch und grinst verschwörerisch. Reuters nickt in die Runde. „Setzen Sie sich!“, fordert Theißen ihn auf. „Wir sprachen gerade über Wagner.“ Der Poli­zist lächelt entschuldigend. „Davon verstehe ich nichts.“ „Umso besser!“, ruft der Komponist und hält ihm ein Glas hin. „Dann hören Sie zu und lernen Sie.“
Andreas beteiligt sich nicht an der Unterhaltung. Er sitzt auf dem Teppich vor dem Couchtisch, weil das Sofa und die Sessel belegt sind, trinkt von dem Wein und hört zu. Ein Teil von ihm spürt immer noch die bleischwere Müdigkeit hinter den Augen und wünscht sich nichts sehnlicher, als allein zu sein. Er fängt Rebekkahs Blick auf, die ihn über den Rand ihres Glases hinweg anlächelt.
Nach und nach erscheinen weitere Figuren aus Andreas' Geschichten, auch aus solchen, die nicht veröf­fentlicht wurden. Sie treten einfach ein, ohne zu klingeln. Da sind zum Beispiel Anja, die sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt retten zu müssen, und sich dabei verzettelt, und Julia, die Briefe in die Vergangenheit schick­t. Die Protagonisten einer Superhelden-Parodie, die Andreas einmal geschrieben hat, erscheinen alle gemeinsam und begrüßen ihn begeistert. Allmählich wird es voll. Er steht inmitten all der Leute und beobachtet, wie sie reden und lachen. Jemand tippt ihn an. Als er sich umdreht, steht Georg Theißen hinter ihm. „Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mit Ihnen zu reden“, beginnt der alte Komponist. „Jetzt komme ich endlich dazu und weiß überhaupt nicht recht, was ich eigentlich sagen soll. Ich bin einfach so begeistert davon, Ihnen zu begegnen.“ Andreas ist so überrascht, dass er nur fragt: „Warum?“
„Warum?“, wiederholt Theißen. „Sie sind Andreas Hoffmann! Das ist doch Grund genug. Und jetzt hören Sie auf, herumzustehen, als gehörten Sie nicht hierher. Das ist Ihre Party. Wir sind alle nur hier, um Sie zu treffen.“ Semmering erscheint an Andreas' Seite, drückt ihm ein Glas Whiskey in die Hand und klopft ihm auf die Schultern. Verwirrt nimmt er einen Schluck. Die Wohnungstür geht ein weiteres Mal, und eine helle Stimme ruft: „Hallo!“
Andreas dreht sich um. Er glaubte, es seien alle da. Wie hat er das denken können? Wie hat er ausgerechnet sie vergessen können? Laura ist da. Sie stammt aus seinem besten Roman. Nicht der erfolgreichste, aber der kraftvollste, den er geschrieben hat. Er handelt von einem jungen Dramatiker voller Hoffnungen und Selbstzweifel, der Laura immer wieder begegnet. Sie umkreisen einander in wechselnden Abständen, schaffen es aber nicht, einander wirklich nahe zu kommen.
Selbstverständlich ist dieser Dramatiker ein Alter Ego von Andreas, und Laura die Frau, die er gerne getroffen hätte. Sie am Ende wieder getrennte Wege gehen zu lassen, ist das Schwerste, was er je ge­tan hat, aber die Geschichte verlangte es, und er hat gehorcht. Und jetzt ist Laura hier. Sie sieht genauso aus, wie Andreas sie sich immer vorstellte, und hat etwas an sich, das die Aufmerk­samkeit der Anwesenden auf sie lenkt. Sie nimmt sich etwas zu trinken und begrüßte alle einzeln. Zu Andreas kommt sie als letztes. „Andreas, richtig? Freut mich, dich zu treffen. Ich bin...“ „Laura“, unter­bricht er sie. Sie ist erstaunt. Ihre Augen, blaugrau wie das Meer an einem bewölkten Tag, weiten sich, und sie fragt: „Sind wir uns denn schon einmal begegnet?“
„Nein“, will Andreas antworten, „das sind wir nicht, aber ich weiß alles über dich. Du warst über ein Jahr lang ein Teil meines Lebens, und ich kann einfach nicht glauben, dass du jetzt hier vor mir stehst“, aber er bringt einfach nichts heraus. Sie lacht. „Wird nicht einfach, dich näher kennen zu lernen, wenn du den Mund nicht aufkriegst. Warte.“ Sie dreht sich zum Tisch um, greift nach dem Whiskey und füllt das Glas nach, das Andreas in der Hand hielt. Sie trinken beide. Laura sagt: „Du bist Schriftsteller, oder?“ Er nickt nur.
„Ich habe immer gedacht, dass gerade die nicht um eine Antwort verlegen sein sollten. Andererseits kannte ich mal einen anderen Schriftsteller, der auch nie viel gesagt hat. Zum Glück kenne ich die ma­gischen Worte, mit denen man euch zum Reden bringen kann.“ Sie grinst und fragt: „Woran schreibst du gerade?“
Er seufzt und winkt ab. „Lohnt sich nicht, darüber zu reden. Es ist schlecht, und ich werde daran wohl nicht weiterarbeiten.“ Sie zieht die Luft scharf durch die Zähne ein und meint: „Dann muss es wirklich schlimm sein. Üblicherweise folgt auf diese Frage ein langer Monolog, eine Aufzählung von Ideen, Figuren und Handlungssträngen.“
Andreas nimmt einen weiteren Schluck und erklärt: „Diese Aufzählung könnte ich auch liefern, aber nichts davon ist der Rede wert.“
Laura schenkt ihm nach und will wissen: „Genau wie Mathias. Warum glaubt ihr das immer?“
Er erklärt: „Weil es banal ist. Ich will nichts Banales schreiben. Meine Bücher sollen die Leute nachts wachhalten, weil sie nicht aufhören können, zu lesen. Ich will Geschichten schreiben, die wirklich et­was zu sagen haben über das Leben, über...“ Er bricht ab. Es ist das erste Mal, dass er das laut aus­spricht. Er hat immer gewusst, dass es sich so verhält. Er hat es nie gesagt, weil er nicht lächerlich klingen wollte. Jetzt ist es heraus. Er leert sein Glas in einem Zug. Laura sieht ihn mitfühlend an und schüttelt langsam den Kopf. „Du bist wirklich genauso wie Mathias.“ Nein, denkt er, Mathias ist wie ich. Sie fährt fort: „Mach die Augen auf. Sieh dich um. Sie sind alle hier, die Geschichten, die einen nachts wachhalten.“ Sie deutet auf Reuters. „Ist seine Geschichte etwa banal?“ Sie zeigt auf Anja, die sich mit Paul Palmer und Herbert Semmering unterhält. „Sagt ihre Geschichte nichts über das Leben? Glaubst du, dass noch niemand eine Nacht lang wachgeblieben ist, weil er so gebannt von meiner Ge­schichte war?“
Andreas sagt nichts. Laura schüttelt ein weiteres Mal den Kopf und füllt ihm sein Glas nach. „Ihr sucht immer nach Geschichten, die ihr erzählen könnt und beobachtet das Leben an­derer, bis ihr euer eigenes vergesst. Du hast etwas geschafft, auf das viele nicht einmal hoffen.“
Andreas lässt seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Sie ist voller Leute; Leute deren Geschich­ten er erzählt hat. Geschichten, die gelesen werden, die gemocht werden. Und, was viel wichtiger ist, Geschichten, die er selber mag.
Laura grinst ihn breit an. „Jetzt hast du es verstanden. Ich gehe eine rauchen. Kommst du mit?“
Sie gehen auf den Balkon. Laura nimmt einen Zigarillo aus einer Blechschachtel. Sie durchsucht ihre Taschen und verdreht dann entnervt die Augen. „Hast du Feuer?“ Zu sei­ner Überraschung findet Andreas in seiner Hosentasche eine Schachtel Streichhölzer. Er reißt eines an und hält es ihr hin. Sie sieht ihn über die Flamme hinweg an und entzündet ihren Zigarillo. Sie stößt eine Rauchwolke aus, und das Streichholz erlischt. „Auch einen?“, fragt sie. „Gerne“, antwortet er. Dieses Mal gibt sie ihm Feuer. Als er sich über die Flamme beugt, fragt sie: „Und jetzt noch einmal: Woran arbeitest du gerade?“
Also erzählt er es ihr. Er führt die Grundidee aus, skizziert die Figuren und den Handlungsverlauf. Als er endet, merkt er, dass Julia, Rebekkah, Theißen und Vomwald zwischenzeitlich dazugekommen sind. Anscheinend haben sie zugehört. Semmering zieht an seiner Pfeife und nickt Andreas anerken­nend zu. Laura sagt: „Das klingt toll. Ich würde es gerne lesen, wenn es fertig ist.“ „Ich auch“, lässt sich Vomwald vernehmen. Sie rauchen auf und gehen wieder hinein. Laura fragt: „Was hast du noch für Ideen?“ Andreas überlegt kurz und sagte: „Na ja, es gibt da diese Kurzgeschichte, die ich gerne schreiben würde...“
Und dann sprudelt es nur so aus ihm heraus. Es ist eine Idee, die er schon länger im Kopf gehabt hat­, ohne zu wissen, wie er anfangen soll. Jetzt entsteht der Text, indem er davon erzählt. Die ande­ren unterbrechen ihre Gespräche, um ihm zuzuhören. Laura hat ein Fass ohne Boden angestochen. Er redet und redet, entwirft Romane, Novellen und Drehbücher. Er wirft mit Ideen nur so um sich. Der Whiskey, den ihm immer irgendwer nachfüllt, tut sein Übriges. Bald verabschieden die ersten Gäste sich. Einer nach dem anderen gehen sie, und er redet weiter. Laura hört zu und stellt gelegentlich Fragen, die weitere Kaskaden von Ideen in Gang setzen.
Irgendwann hält er inne und sieht sich um. Wo... Wo sind alle?“ „Gegangen“, erklärt Laura. „Gegan­gen?“, wiederholt er überrascht. Sie sieht ihn an und prustet los. Er muss ebenfalls lachen und nach­dem er einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören. Er lacht, bis ihm die Tränen kommen, und seine Rippen schmerzen.
„Du hättest dein Gesicht sehen sollen“, ruft Laura. „Rebekkah und Georg waren die letzten, vor einer Viertelstunde. Du hast ihnen Tschüss gesagt, erinnerst du dich nicht?“ Er schüttelt den Kopf und greift sich an die Stirn. „Ich... bin mir nicht sicher.“ Sie bricht erneut in Gelächter aus. Dann erhebt sie sich nicht ohne Mühe aus dem Sessel. Andreas steht auch auf. Er schwankt. „Ich werde dann auch mal ge­hen. Ich muss morgen früh einen Zug kriegen“, erklärt sie. „Oh, ja. Klar doch.“, stottert er. Sie sagt: „Ich würde gerne bleiben, wirklich. Aber ich muss morgen Nachmittag in Paris sein.“ Paris, natürlich. Sie ist alle paar Tage woanders, um dann unerwartet wieder aufzutauchen.
Er wartet, während sie sich Schuhe und Mantel anzieht. Er hält ihr die Tür auf. Dann stehen sie auf dem Treppenabsatz. „Also dann“, sagt er. „Mach's gut.“ Sie nickt. Einige Augenblicke lang stehen sie schweigend vor der Wohnungstür. Plötzlich geht das Licht im Treppenhaus aus. Andreas tastet nach dem Lichtschalter, aber bevor er ihn findet, nimmt Laura seine Hände in ihre. In der Dunkelheit kann er spüren, wie sie an ihn herantritt. Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Mach's gut, Andreas. Bleib bei deinen Geschichten. Sie sind gut.“

Als Andreas am nächsten Morgen aufwacht, kann er sich nicht mehr an den ganzen Abend erinnern. Einiges ist verschwommen, an Anderes erinnert er sich überhaupt nicht. Umso mehr erstaunt es ihn, dass er keinen Kater spürt, dabei müssen er und Laura den Großteil des Whiskeys im Alleingang vernichtet ha­ben. Seufzend steht er auf. Er muss aufräumen. Nach gestern muss ein ziemliches Durcheinander herrschen.
Aber der Rest der Wohnung ist in bestem Zustand. Keine Batterie leerer Flaschen, keine Gläser auf dem Tisch, keine Chipskrümel auf dem Teppich, und doch hat er mit all dem gerechnet. Haben Thei­ßen und Rebekkah noch aufgeräumt, während er mit Laura redete? Er kannt sich nicht erinnern.
Und dann versteht er. Es war ein Traum. Natürlich war es das. Er hat Besuch bekommen von Figuren, die er sich ausgedacht hat, gar nicht so abwegig für einen Schriftsteller.
Er geht zur Küchenzeile und setzt Kaffee auf. Zu der Müdigkeit gesellt sich die Enttäuschung. Wie konnte er so dumm sein? Eine Weile lang glaubte er, es wäre tatsächlich passiert, aber jetzt ist er umso sicherer, dass es ein Traum war. Das erklärt die lückenhaften Erinnerungen und den fehlenden Kater.
Der Kaffee ist fertig. Andreas geht zum Schrank und nimmt eine Tasse heraus. Da bemerkt er die es. Neben der Spüle stehen zwei benutzte Gläser. Er nimmt eines und hält es gegen das Licht. Am Rand sind Spuren von Lippenstift. Kurz erstarrt er. Dann lacht er. Es ist ein befreites Lachen, und während er lacht, verfliegen Müdigkeit und Enttäuschung. Er gießt Kaffee ein und nimmt die Tasse mit zum Schreibtisch. Aus der Schublade holt er ein Notizbuch. Sein Füller liegt griffbereit. Er schlägt das Notizbuch auf und beginnt, zu schreiben.


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Telica
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Beitrag24.01.2018 21:50

von Telica
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Fantastische Geschichte, hat mich gleich gepackt! Zum Einen, weil man sich sehr gut in den Protagonisten hineinversetzen kann, mäßig erfolgreicher Schriftsteller, müde und ausgelaugt. Zum Anderen ist es so nachvollziehbar, die Personen, die man in seinen Geschichten erfindet, wirklich zu vermenschlichlichen, man verbringt schließlich viel Zeit mit ihnen.
Sehr gerne gelesen!
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Gast







Beitrag25.01.2018 15:31

von Gast
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Nun, was soll ich sagen.
Ich habe in den letzten Jahren vieles gelesen. Selfpublishing oder Schreibversuche. Man quält sich so durch. Man will schließlich den Gefallen tun. Lass eine Rezension da - vielleicht hilft sie weiter. Deine Geschichte ist - anders. Vielleicht sogar das Beste, was ich seit langem gelesen habe. Ich weiß auch warum: Ich identifiziere mich mit einem lebenden, atmenden Charakter, der meine Gefühle anspricht. Etwas, das leider von den meisten Schreibern gnadenlos vernachlässigt wird. Und keine Geschichte kann entzücken, wenn der Charakter blass bleibt.

Klar, sie ist nicht überragend. Sehr gemächlich im Tempo (was zum Prota aber passt und die Stimmung einfängt), stellenweise ein wenig zu langatmig. Aber sie brachte in mir eine Saite zum klingen und ich verstehe, warum du sie gern magst. Ich habe sie auch gern gelesen.

Was mich störte (und darum nenne ich das hier) war die Sirene (gleich am Anfang). Sirenen sind nicht stumm. Das Bild ist daher für mich ein wenig schief.

Stilistisch geschmeidig zu lesen. Da kennt jemand das Handwerk. Auch das ist erfrischend und (leider) nicht selbstverständlich.

Andreas ist ein Mensch, der sich mit typischen Autorenproblemen herumplagt. Und sei es nur die Frage: Lieber am PC oder doch auf Papier? Vielleicht wächst er mir deshalb auch gleich ans Herz.
Als er aus dem Fenster guckt und seine Gedanken dort hinausschickt in die Nacht wird klar, er ist einsam. Er ist gefangen in seiner kleinen Welt und wäre gern dort draußen jemand anderes - groß und mutig, der sich die Dinge traut, die sich Andreas nie trauen würde. Er spricht mich an. Ich fühle mit ihm.

Dann - welch eine Wendung?
Es klingelt, obwohl er keinen Besuch erwartet. Und zusammen mit Andreas schaue ich gebannt ins Treppenhaus und runzle die Stirn. Wer mag denn da kommen? Ich bin mitten im Erlebnis! Und dann - spaziert dieser Kerl einfach an mir vorbei wie selbstverständlich in die Wohnung? Ääääh. In dem Moment sprang der Funke endgültig über. Du hast mich für deine Geschichte vereinnahmt und bereitwillig trottete ich Andreas hinterher, zurück ins Haus und verfolgte die sonderbare Szene.

Die Pointe gefällt mir. Wirf die Flinte nicht ins Korn. So schlecht ist dein Geschreibsel doch gar nicht.

Nein wirklich - mein Glückwunsch. Eine gelungene Geschichte mit ein paar Schwächen aber ganz viel Herz.
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PhilipS
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Beitrag26.01.2018 13:34

von PhilipS
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Zitat:
Nun, was soll ich sagen.
Ich habe in den letzten Jahren vieles gelesen. Selfpublishing oder Schreibversuche. Man quält sich so durch. Man will schließlich den Gefallen tun. Lass eine Rezension da - vielleicht hilft sie weiter. Deine Geschichte ist - anders. Vielleicht sogar das Beste, was ich seit langem gelesen habe.


Vielen Dank dafür! Embarassed

Zitat:
Sehr gemächlich im Tempo (was zum Prota aber passt und die Stimmung einfängt), stellenweise ein wenig zu langatmig.


Welche Stellen meinst Du denn? Vielleicht kann ich daran noch ein bisschen feilen.

Zitat:
Was mich störte (und darum nenne ich das hier) war die Sirene (gleich am Anfang). Sirenen sind nicht stumm. Das Bild ist daher für mich ein wenig schief.


Ich wollte das Blinken des Cursors mit dem an- und abschwellenden Rhythmus einer Sirene gleichsetzen, um die Aufdringlichkeit und den Druck zum Handeln klarzumachen. Hast Du vielleicht eine Idee, wie ich das mehr herausarbeiten kann?


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Selanna
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Beitrag27.01.2018 01:42

von Selanna
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Hallo Philip,
auch ein paar Anmerkungen von mir wink

Zitat:
Der Cursor blinkt vorwurfsvoll auf dem weißen Hintergrund. Dumme Frage. Kann man etwas auf einem Hintergrund machen? Oder kann man etwas nur vor einem und im Hintergrund machen? In seinem unermüdlichen Rhythmus ist er wie eine Sirene, die stumm schreit: „Schreib! Schreib! Schreib!“ Ich würde hier einen Punkt setzen, um den Satz ab „In“ zu beenden Ein leeres Papier dagegen heißt einen willkommen. Es drängt nicht, sondern wartet. Papier ist geduldig, und Andreas will sich nicht mehr anschreien lassen. Vielleicht sollte er dazu zurückkehren Es ist absolut korrekt, aber „dazu zurückkehren“ lässt mich irgendwie stolpern, es liest sich nicht ganz so eingängig. Was hältst Du von“ Vielleicht sollte er wieder mit der Hand schreiben“? Aber es drückt das zurückkehren nicht so stark aus, ich weiß es nicht , mit der Hand zu schreiben.
Aber nicht mehr heute. Er schließt das Textprogramm und ruft aus seiner Musiksammlung die zweite Symphonie von Schumann auf. Während die ersten Takte den Raum erfüllen, erhebt Andreas sich vom Schreibtisch. Er geht zur Balkontür, öffnet sie und lehnt sich an den Rahmen. Er blickt auf die dunkle, leere Straße hinab und atmet die kalte Novemberluft ein. Er spürt eine tiefsitzende Erschöpfung, als sei jede Zelle seines Körpers ausgelaugt. Andreas Hoffmann ist dreiunddreißig Jahre alt. Er hat vier mäßig erfolgreiche Romane und eine Reihe Kurzgeschichten verfasst, und es kommt ihm vor, als habe er seine beste Zeit hinter sich.

Ab „Er geht zur…“ beginnst Du jeden Satz mit „Er“, mit Ausnahme des Satzes, der mit „Andreas“ beginnt, also quasi ebenfalls derselben Satzbau. Würde ich ändern, selbst wenn es ein gewolltes Stilmittel ist. Fast alle diese Sätze wirken sehr simpel vom Satzbau, wenig geschliffen, sondern ermüdend und nicht gekonnt. Sie stören mich beim Lesen, die klingen ein bisschen nach Aufsatz und weniger nach Literatur wink
Zitat:
Als er sein neues Projekt konzipierte, kam ihm die Idee wirklich gut vor, aber jetzt scheint es ihm nicht mehr lohnenswert, überhaupt mit der Arbeit zu beginnen.
Andreas sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Ein paar Straßen weiter ist eine Bar. Er könnte hinge-hen, sich an die Theke setzen und unter Leuten sein. Fröhliche Leute, die lärmen und lachen und kei¬ne Sorgen haben, oder jedenfalls nur solche, die ihm klein und lächerlich erscheinen. Vielleicht säße jemand auf dem benachbarten Hocker. Sie würden einander zuprosten und ein paar Bemerkungen austauschen. Über das Wetter vielleicht. Oder über das Fußballspiel, das man im Fernseher über dem Flaschenregal sehen kann. Gibt es heute ein Spiel? Bestimmt. Es gibt doch fast jeden Abend eins.

Den Absatz beginnst Du mit sehr kurzen Parataxen, danach werden die Sätze länger und ich vermute, es ist wieder ein bewusstes Stilmittel, aber - vielleicht liegt es an mir generell, vielleicht an meiner Stimmung - es gefällt mir nicht. Das Abgehackte in seinen Gedanken und Gesten assoziiere ich nicht mit tiefer Erschöpfung, sondern mit reger Tätigkeit, Hektik.

Zitat:
Vielleicht säße auch eine Frau an der Bar. Sie würde eine Weile lang mit verträumten verträumtem Gesichtsausdruck in ihrem Cocktailglas rühren und sich dann zu Andreas herüberbeugen, um nach Feuer zu fragen. Er würde ihr die wie wär es mit „ihre“ Zigarette anzünden und ihr dabei WW in die Augen sehen, über die Flamme hinweg. Dabei WW würde er irgendetwas Beiläufiges sagen. Sie würde sich lächelnd bedanken und ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln betrachten. Und irgendwann später würde er fragen, ob er ihr ein Getränk ausgeben könnte ... Er durfte nicht vergessen, Streichhölzer einzustecken.
Aber er ist so müde, Wo ist hier die Verbindung zum nachfolgenden Satzteil? Wenn Du viele Gedankenfragmente einsetzen würdest, wäre der Gedanken-/Gefühlssprung legitim. Aber Du nutzt diesen „stream of consciousness“ bisher sonst nirgends sein nächster Roman wäre genauso mittelmäßig wie die anderen, oder sogar noch schlechter, und wenn eine Frau ihn nach Feuer fragt, würde ihm nichts einfallen. Warum soll er versuchen, sich etwas vorzumachen, wenn ihm das nicht einmal bei seinen Lesern gelingt?
Andreas entscheidet sich?, den Fernseher einzuschalten und einen Krimi anzusehen. Es gibt ja fast jeden Abend einen Ist das eine gewollte Wiederholung? Es gibt fast jeden Abend ein Fußballspiel und fast jeden Abend einen Krimi?. Er schließt die Balkontür und durchquert das Wohnzimmer seiner Zweiraumwohnung, um sich etwas zu trinken zu holen. Er hat gerade ein Glas aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klingelt.

Das ist sehr, sehr detailliert erzählt. Geht es nicht im Endeffekt darum: Andreas geht in die Küche und nimmt ein Glas aus dem Schrank, er möchte sich vor dem Krimi noch etwas zu trinken holen. - Dass er den Balkon verlässt, um ein Glas zu holen, ist logisch. Ob er die Balkontür schließt oder offen lässt, ist (bislang?) irrelevant. Ob er das Wohnzimmer durchqueren muss, um vom Balkon zur Küche zu kommen, ist mE auch nicht so wichtig. … Lass ein paar Details weg, sonst wird es langweilig. Der Leser weiß gut, wie man sich ein Glas holt wink
Zitat:
Kurz erwägt Andreas, es zu ignorieren. Er ist nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, und erwartet auch keinen. Aber dann siegt die Neugier. Er will zumindest wissen, wer da  unerwartet vor der Tür steht. Er betätigt den Türöffner und tritt hinaus auf den Treppenabsatz. Er hört, wie im Erdgeschoss die Haustür ins Schloss fällt, beugt sich über das Geländer und ruft: „Hallo?“
Anstatt einer Antwort vernimmt er aber nur Schritte, die die Treppe heraufkommen. Nach kurzer Zeit sieht Andreas den Besucher dann auch. der vorangehende Satz ist ungelenk formuliert Es ist ein Mann, vielleicht Ende zwanzig mit rotblondem Haar und randloser Brille. Er trägt einen Mantel aus dunkler Wolle über einem silbrig-grauen Anzug, dazu ein blaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Andreas hat vage das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, könnte aber beim besten Willen nicht sagen, wann oder wo.
Der Besucher bringt die letzten Stufen hinter sich, sagt freundlich „Guten Abend“ und geht an Andreas vorbei in die Wohnung. Dieser ist so überrascht, dass er noch einige Augenblicke lang vor der Tür stehen bleibt, bevor er sich dann ruckartig umdreht und dem anderen folgt. Der hat inzwischen seinen Mantel an die Garderobe gehängt und sich auf das Sofa gesetzt. Andreas zieht die Wohnungstür hinter sich zu und steht dann ein wenig verloren im Raum herum.

Du hast das Auftauchen und Eintreten des Fremden und das Erstaunen von Andreas so detailliert beschrieben, dass Du das nicht auf noch im Nachhinein reflektieren solltest, sonst wird es zu redundant und langweilig:
Zitat:
Da tauchte dieser Fremde plötzlich auf und machte es sich wie selbstverständlich bequem, mit dem Ergebnis, dass er selbst sich in den eigenen vier Wänden unbehaglich fühlt. Er will diesen Eindringling packen und ihn anschnauzen, was er verdammt nochmal hier zu suchen hätte, aber er ist immer noch überrumpelt und so müde...
Er muss irgendetwas tun, um über seine Verunsicherung hinwegzugehen hinwegzukommen, also nimmt er die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkt sich ein. Er will gerade einen Schluck nehmen, da sagt der Mann auf dem Sofa: „Ich möchte Ihre Gastfreundschaft ja nicht überstrapazieren, aber hätten Sie vielleicht ein Glas davon für mich übrig aber könnte ich vielleicht auch ein Glas bekommen?“ Neue Zeile, da jetzt ein anderer spricht Zu seiner eigenen Verwunderung hört Andreas sich antworten: „Aber sicher. Augenblick.“ Er füllt ein zweites Glas und geht zur Sitzecke hinüber. Er setzt sich in den Sessel, während sein Gegenüber an dem Wein riecht, einen Schluck nimmt und anerkennend nickt. Andreas hält es nicht mehr aus. Er stellt sein Glas auf den Couchtisch, beugt sich vor und fragt: „Entschuldigen Sie, aber woher kennen wir uns? Waren Sie bei meiner Lesung in der Buchhandlung Kampe?“

Das ist wieder extrem kleinschrittig erzählt. Er geht zur Sitzecke, er setzt sich in einen Sessel … ist wirklich jedes Detail so wichtig? Vorschlag: Um seine Verunsicherung zu überwinden, schenkt er sich ein Glas Weißwein aus dem Kühlschrank ein. Gerade als er einen Schluck nehmen will, sagt der Mann auf dem Sofa: „Ich möchte Ihre Gastfreundschaft ja nicht überstrapazieren, aber könnte ich vielleicht auch ein Glas bekommen?“
Zu seiner eigenen Verwunderung hört Andreas sich antworten: „Aber sicher. Augenblick.“ Er füllt ein zweites Glas und setzt sich in den Sessel, während sein Gegenüber mit Kennermiene den ersten Schluck genießt. Andreas stellt abrupt sein Glas auf den Couchtisch und beugt sich vor. „Entschuldigen Sie, aber woher kennen wir uns? Waren Sie bei meiner Lesung in der Buchhandlung Kampe?“
Zitat:
Der Mann wirft ihm einen Blick zu, in dem sich Verwunderung und Enttäuschung mischen. „Ich bin Benedikt Vomwald“, erklärt er, als sei damit alles klar. Neue Zeile Andreas erstarrt, als er den Namen hört. So heißt die Hauptfigur seines zweiten Romans. Was geht hier vor? hier nicht unbedingt ein Absatz
„Benedikt Vomwald“, wiederholt er.
„Ganz genau“, bestätigt dieser.neue Zeile Andreas fährt fort: „Ihre Eltern sind Klaus und Friederike Vomwald?“
„Die müssten Sie doch kennen.“
„Sie sind Anwalt für Steuerrecht und arbeiten bei der Kanzlei Wolters und de Jong?“

Entschuldige, ich muss aufhören, ich sollte ins Bett, darum nur bis hierher Embarassed
Vom Ausdruck her finde ich die Geschichte gut. Du hast wenig Wortwiederholungen, manchmal gleichen sich viele Sätze hintereinander vom Aufbau, aber an anderen Stellen zeigst Du, dass Du sehr wohl über ein großes Repertoire an Satzgestaltungsmöglichkeiten verfügst.
Du beschreibst eine depressive Situation und deshalb gehst Du langsam vor. Allerdings hältst Du das an manchen Stellen nicht durch, wirst mit kurzen Sätzen zu schnell; oder Du wirst zu langsam, indem Du sehr kleinschrittig jede kleine Bewegung wiedergibst. Es ist sicher nicht leicht, hier das richtige Maß zu finden, aber ich denke, wenn Du bewusst nach Redundanzen und übermäßige Detailverliebtheit suchst und selbst streichst, kann der Text noch viel gewinnen.
Natürlich sind alles nur subjektive Anregungen, alle hilfreich gemeint. Such Dir raus, was Du brauchen kannst. Ich wünsch Dir viel Erfolg beim Überdenken und Überarbeiten!

Liebe Grüße
Selanna


_________________
Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform. - William Somerset Maugham
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Gast







Beitrag29.01.2018 10:52

von Gast
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Hallo nochmal.

Zitat:
Ich wollte das Blinken des Cursors mit dem an- und abschwellenden Rhythmus einer Sirene gleichsetzen, um die Aufdringlichkeit und den Druck zum Handeln klarzumachen. Hast Du vielleicht eine Idee, wie ich das mehr herausarbeiten kann?


Japp, das Bild wird mir klar.
Du könntest das "stumm" streichen. Damit würde mir dann aber etwas fehlen. Oder du gehst weg vom Ton (der Sirene) und hin zum optischen (Warn)Signal.

Zu den langatmigen Stellen:
Ein paar Sachen hat Selenna schon gebracht.
Ich versuch's nochmal. In einer separaten Antwort, gleich im Anschluss.
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Gast







Beitrag29.01.2018 12:41

von Gast
Antworten mit Zitat

Hier also dein Text.
Ich male ein wenig drin rum.
Anfangs find ich den Text gut. Es macht Spaß, sich darauf einzulassen. Hinten raus wird es dann immer dünner.

Die Passagen, in denen es mir zu ausschweifend wird (das sind vor allem Wiederholungen) markiere ich rot.
Die Passagen, die ins Auge springen und Neugier erzeugen markiere ich grün.
Sonstige Anmerkungen zum Text setz ich in Klammer direkt dahinter.
Ok?
Dann los.


Der Cursor blinkt vorwurfsvoll auf dem weißen Hintergrund. In seinem unermüdlichen Rhythmus ist er wie eine Sirene, die stumm schreit: „Schreib! Schreib! Schreib!“ Ein leeres Papier dagegen heißt einen willkommen. Es drängt nicht, sondern wartet. Papier ist geduldig, und Andreas will sich nicht mehr anschreien lassen. Vielleicht sollte er dazu zurückkehren, mit der Hand zu schreiben.
(er fühlt sich beim Schreiben bedrängt. Die Fragen, die er sich stellt, wirken mir typisch, wenn man gerade nicht weiter kommt. Sollte ich vielleicht lieber...?)
Aber nicht mehr heute.
(ok. Typisches Ausweichmanöver bei einer Schreibblockade.)
Er schließt das Textprogramm und ruft aus seiner Musiksammlung die zweite Sym­phonie von Schumann auf. Während die ersten Takte den Raum erfüllen, erhebt Andreas sich vom Schreibtisch. Er geht zur Balkontür, öffnet sie und lehnt sich an den Rahmen. Er blickt auf die dunkle, leere Straße hinab und atmet die kalte Novemberluft ein. Er spürt eine tiefsitzende Erschöp­fung, als sei jede Zelle seines Körpers ausgelaugt. Monotoner Satzbau. Du beginnst drei mal mit "Er".
Andreas Hoffmann ist dreiunddreißig Jahre alt. Er hat vier mäßig erfolgreiche Romane und eine Reihe Kurzgeschichten verfasst, und es kommt ihm vor, als habe er seine beste Zeit hinter sich. Als er sein neues Projekt konzipierte, kam ihm die Idee wirklich gut vor, aber jetzt scheint es ihm nicht mehr lohnenswert, überhaupt mit der Arbeit zu beginnen. (Ist mir ein wenig zu lang und hat den unangenehmen Beiklang von Erklärbär-Text. Nackte Dreigabe von Informationen. Vielleicht kannst du das geschickt in die Handlung einflechten.)

Andreas sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Ein paar Straßen weiter ist eine Bar. Er könnte hinge­hen, sich an die Theke setzen und unter Leuten sein. Fröhliche Leute, die lärmen und lachen und kei­ne Sorgen haben, oder jedenfalls nur solche, die ihm klein und lächerlich erscheinen. Viel­leicht säße je­mand auf dem benachbarten Hocker. Sie würden einander zuprosten und ein paar Bemer­kungen austau­schen. Über das Wetter vielleicht. Oder über das Fußballspiel, das man im Fernseher über dem Fla­schenregal sehen kann. Gibt es heute ein Spiel? Bestimmt. Es gibt doch fast jeden Abend eins.
Vielleicht säße auch eine Frau an der Bar. Sie würde eine Weile lang mit verträumten Gesichtsausdruck in ihrem Cocktailglas rühren und sich dann zu Andreas herüberbeugen, um nach Feuer zu fragen. Er würde ihr die Zigarette anzünden und ihr dabei in die Augen sehen, über die Flamme hinweg. Dabei würde er irgendetwas Beiläufiges sagen. Sie würde sich lächelnd bedanken und ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln betrachten. Und irgendwann später würde er fragen, ob er ihr ein Getränk ausgeben könnte ...
(Das ist lang. Aber nicht statisch. Du durchbrichst mit vielen optischen Elementen. Ich denke, du brauchst auch diese Länge, um eben jenes Szenario von Einsamkeit zu zaubern, in das du den Leser einlullst. Das verstärkt für mich den Effekt der später folgenden Wendung. Klar wird auch: Die Anmache an der Bar ist reiner Wunschgedanke. Das ist nicht ER. Das wäre er nur gern. Wink )
Er durfte nicht vergessen, Streichhölzer einzustecken.
(Überraschung. Hat er etwa vor, da raus zu gehen? Echt jetzt?)
Aber er ist so müde,
(war ja klar. Natürlich geht er nicht raus. Hätt ich auch nicht erwartet. Ein wenig Verdrängung ist aber ok. Tun wir doch alle hin und wieder.)
sein nächster Roman wäre genauso mittelmäßig wie die anderen, oder sogar noch schlechter, und wenn eine Frau ihn nach Feuer fragt, würde ihm nichts einfallen. Warum soll er ver­suchen, sich etwas vorzumachen, wenn ihm das nicht einmal bei seinen Lesern gelingt? (Selbstmitleid ist immer so ne Sache... Er wird mir gerade ein wenig unsympathisch. Ein wenig verlierst du mich dadurch. Es kommt aber auch eine Menge Offenheit durch. Ich glaube, das fängt das Ganze wieder auf. Spiel mit der Offenheit und eliminiere das Selbstmitleid - der fett markierte Part hat mich gestört.)

Andreas entscheidet, den Fernseher einzuschalten und einen Krimi zu sehen. Es gibt ja fast jeden Abend einen. Er schließt die Balkontür und durchquert das Wohnzimmer seiner Zweiraumwohnung, um sich etwas zu trinken zu holen. (so wie es fast jeden Abend ein Fußballspiel gibt? Die Eintönigkeit seines Lebens und des Fernsehprogramms hast du inzwischen für meinen Geschmack ausreichend ausgeführt. Ich habe einen guten Einblick über sein Leben gewonnen. An der Stelle wird es für mich eintönig. Ich denke, der Text würde gewinnen, wenn du diesen Part streichen würdest und gleich zum Wendepunkt (Türklingeln) kommst.)

Er hat gerade ein Glas aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klin­gelt.
(Wendung der Ereignisse. Ein Spannungselement)
Kurz erwägt Andreas, es zu ignorieren. Er ist nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, und erwartet auch keinen. Aber dann siegt die Neugier. Er will zumindest wissen, wer da  unerwartet vor der Tür steht.
(das gefällt mir nicht zu hundert Prozent. Wenn er keinen Besuch erwartet: Wie kommt er dann zu er Erkenntnis, dass es sich überhaupt um Besuch handelt und nicht um den Nachbarn, der sich zwei Eier borgen will? Auch die Frage, wer zum Teufel um diese Zeit überhaupt noch klingelt, bleibt auf der Strecke. Wäre aber eine berechtigte Frage. Immerhin haben Vertreter und Zeugen Jehovas längst Feierabend.
Du nimmst das Wort "Neugier" in den Mund. Zeige mir seine Neugier stattdessen. Vielleicht gepaart mit einer gesunden Portion Misstrauen.)
Er betätigt den Türöffner und tritt hinaus auf den Treppenab­satz. Er hört, wie im Erdgeschoss die Haustür ins Schloss fällt, beugt sich über das Geländer und ruft: „Hallo?“
Anstatt einer Antwort vernimmt er aber nur Schritte, die die Treppe heraufkommen. Nach kurzer Zeit sieht Andreas den Besucher dann auch. Es ist ein Mann, vielleicht Ende zwanzig mit rotblondem Haar und randloser Brille. Er trägt einen Mantel aus dunkler Wolle über einem silbrig-grauen Anzug, dazu ein blaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Andreas hat vage das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, könnte aber beim besten Willen nicht sagen, wann oder wo.
Der Besucher bringt die letzten Stufen hinter sich, sagt freundlich „Guten Abend“ und geht an An­dreas vorbei in die Wohnung.
(Die Situation, wie der Besucher die Treppe hochkommt, finde ich gut gelungen. Der fett markierte Part ist der beste in der ganzen Geschichte! An dieser Stelle schlägt die Spannung Funken und in mir macht es klick. Jetzt gehöre ich ganz dir!)
Dieser ist so überrascht, dass er noch einige Augenblicke lang vor der Tür stehen bleibt, bevor er sich dann ruckartig umdreht und dem anderen folgt. (Der Satz ist mir zu behäbig an der Stelle. Vorschlag: Kurze, knackige Sätze fände ich jetzt angesagt. Mit Subjekt und Prädikat beginnen und nur Hauptsätze verwenden.)

Der hat inzwischen seinen Mantel an die Garderobe gehängt und sich auf das Sofa gesetzt.
Andreas zieht die Wohnungstür hinter sich zu
(Das funktioniert nicht. Er ist dem Besucher doch längst in die Wohnung gefolgt. Dann kann er jetzt nicht im Nachhinein die Haustür zumachen.)

und steht dann ein wenig verloren im Raum herum.
Da tauchte dieser Fremde plötzlich auf und machte es sich wie selbstverständlich bequem, mit dem Ergebnis, dass er selbst sich in den eigenen vier Wänden unbehaglich fühlt.

(das ist eine leere Formulierung. Ich schlage vor, du lässt ihn herumstehen und ihn bei der ein oder anderen Handlung zusehen. Lass den Besucher hier den Mantel aufhängen, ihn aufs Sofa setzen, ihn sich häuslich einrichten, den Fernseher anschalten, sich an den Getränken bedienen und eine Tüte Chips aufmachen. wink Das zeigt Andreas  Verlorenheit angesichts der Situation und auch, dass sich der Fremde hier häuslich einrichtet. Eine spannungsgeladene Situation, voller Fragen, die es sich lohnt, in die Länge zu ziehen)

Er will diesen Eindringling packen und ihn anschnauzen, was er verdammt nochmal hier zu suchen hätte, aber er ist immer noch überrumpelt und so müde...
(Wie kann er jetzt noch müde sein? Das passt nicht. Die Frage ist eher: Wie geht er mit dieser Situation nun um? Und an der Stelle schwächelt dein Text.)

Er muss irgendetwas tun, um über seine Verunsicherung hinwegzugehen,
(ich denke eher, er muss sich jetzt überlegen, wie er mit diesem ungebetenen Gast umgehen soll. Deshalb überzeugt mich der im folgenden rot markierte Part nicht.)
also nimmt er die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkt sich ein. Er will gerade einen Schluck nehmen, da sag­t der Mann auf dem Sofa: „Ich möchte Ihre Gastfreundschaft ja nicht überstrapazieren, aber hätten Sie vielleicht ein Glas davon für mich übrig?“ Zu seiner eigenen Verwunderung hört Andreas sich antwor­ten: „Aber sicher. Augenblick.“ Er füllt ein zweites Glas und geht zur Sitzecke hinüber. Er setzt sich in den Sessel, während sein Gegenüber an dem Wein riecht, einen Schluck nimmt und anerkennend nick­t. Andreas hält es nicht mehr aus. Er stellt sein Glas auf den Couchtisch, beugt sich vor und fragt: „Entschuldigen Sie, aber woher kennen wir uns? Waren Sie bei meiner Lesung in der Buchhandlung Kampe?“
(Ich sehe das so (Vorschlag): Situation: Andreas hat sich gerade einen ungebetenen Gast eingefangen, der ihn durch Anwesenheit und Benehmen überfordert. Was also tun? Gemäß seinem Naturell bleibt Andreas nur eine eher passive Rolle, um mit dieser Sache umzugehen (und auch wegen der Dominanz seines Gegenübers.) Also fällt die aktive Rolle dem Besucher zu. Was du in Ansätzen ja auch so darstellst. Dass Andreas nichts besseres einfällt, als sich nen Weißwein zu holen, überzeugt mich nicht.
Warum also bedient sich der Besucher nicht selbst? Übernimmt die führende Rolle? Während Andreas noch überlegt, was er tun soll, bietet ihm der Besucher auch ein Gläschen an. Was das Sonderbare an der Situation unterstreicht. Andreas lässt sich einschenken - was seine Überforderung unterstreicht. Währenddessen versucht er fieberhaft, einzuordnen, woher er den Mann kennt. Und fragt ihn danach.)

Der Mann wirft ihm einen Blick zu, in dem sich Verwunderung und Enttäuschung mischen.
(Ein einfaches "Erkennst du mich nicht?" würde dir bessere Dienste leisten. Es verwandelt eine statische Beschreibung in eine direkte (Dialog)-Handlung)
 „Ich bin Benedikt Vomwald“, erklärt er, als sei damit alles klar. Andreas erstarrt, als er den Namen hört. So heißt die Hauptfigur seines zweiten Romans. Was geht hier vor?
(Auch hier würde dir ein Dialogpart besser Dienste leisten. Benedikt VomWald? Das kann nicht sein! Warum nicht? Das ist unmöglich. Den gibts gar nicht! Doch, siehst du doch. Kneif mich. Bin ich eingeschlafen? Das gibts doch nicht.
Beachte auch, dass ein kontrovers geführter Dialog mit kurzen Dialogzeilen das Tempo enorm steigert! In den Schlagabtausch kannst du auch Andreas ganze ungläubige Verwunderung und Überforderung perfekt einpacken!)

„Benedikt Vomwald“, wiederholt er.
„Ganz genau“, bestätigt dieser. Andreas fährt fort: „Ihre Eltern sind Klaus und Friederike Vomwald?“
„Die müssten Sie doch kennen.“
„Sie sind Anwalt für Steuerrecht und arbeiten bei der Kanzlei Wolters und de Jong?“
Der Mann, der sich als Benedikt vorgestellt hat, verzieht das Gesicht. „Das tue ich, wenn auch nicht gerne. Warum fragen Sie das alles, das wissen Sie doch.“ Andreas antwortet nicht, sondern lehnt sich im Sessel zurück und trinkt einen Schluck, während er sein Gegenüber betrachtet. Dieser Mann sieht tatsächlich so aus, wie er sich Benedikt immer vorstellte. Bevor er etwas sagen kann, klingelt es erneut an der Haustür.


(Zu lahm! Und wo ist Andreas Verwunderung hin?)

Das Geräusch geht Andreas durch Mark und Bein. Er traut sich kaum, aufzu­stehen und den Summer zu drücken. Wer käme als nächstes die Treppe herauf?

(Dass es ihm durch Mark und Bein geht solltest du hier nicht erwähnen müssen. Das sollte der Siuation geschuldet sein. Während Andreas noch versucht, das Gehörte einzuordnen und gedanklich zu verarbeiten, wie es sein kann, dass seine Romanschöpfung vor ihm auf dem Sofa hockt klingelt es wieder. Andreas rührt sich nicht. Er schaut unsicher zu Benedikt Der meint nur: Wollen Sie denn nicht aufmachen?)

Wie es sich herausstellt, sind es zwei auf einmal. Der eine Besucher ist ein Mann um die siebzig mit weißer Mähne. Er trägt einen dreiteiligen Anzug mit Fliege und hat einen schwarz la­ckierten Stock. In seiner Begleitung befindet sich eine Frau, die höchstens halb so alt war wie er. Mit ei­ner Hand stützt sie den älteren, in der anderen hält sie einen Stoffbeutel. Der Mann schüttelt Andreas die Hand. „Georg Theißen“, stellt er sich vor. „Ich nehme an, Sie sind Andreas? Freut mich, dass wir ein­ander einmal persönlich begegnen.“ Dann geht er hinein. Die Frau streckt Andreas ebenfalls die Hand entgegen. Er weiß ihren Namen bereits, bevor sie ihn sagt. Es kann sich nur um Rebekkah Meh­ring handeln. Georg Theißen ist der alte Komponist, der zurückgezogen in einem Leuchtturm leb­t, und sie die Violinistin, die eine Partitur von ihm entdeckt und sich auf die Suche nach ihm mach­t. Diese Erzählung hat Andreas vor einigen Jahren geschrieben.
Er bittet sie herein, nimmt ihr den Mantel ab und macht sie mit Benedikt bekannt. Georg setzt sich.

(Das erreicht mich alles nicht. Wo ist Andreas Verwunderung und seine Überforderung? Er nimmt das alles so wahnsinnig gelassen hin. Außerdem ist mir der Part einfach zu lang.)


Vom Esstisch her lässt sich Rebekkah vernehmen. „Herr Hoffmann? Könnten Sie mir kurz helfen?“ Er geht zu ihr, derweil Theißen und Vomwald ein Gespräch über die Musik des 19. Jahrhunderts begin­nen. Die Violinistin hat die Stofftasche auf den Tisch gestellt und entnimmt ihr nun zwei Flaschen Wein, Graubrot, verschiedene Sorten Käse und Trauben. „Ich dachte, wenn wir schon unangemeldet hereinplatzen, sollten wir wenigstens nicht mit leeren Händen erscheinen.“ Andreas gibt ihr ein Brett und das Brotmesser. Während sie das Brot aufschneidet, entkorkt er eine der Flaschen und gießt den In­halt in den Dekanter. Als er gerade dabei ist, den Käse auf einem Teller zu arrangieren,

(Auch hier viel zu lang. Und fehlende Verwirrung. Ich frage mich, ob es Andreas Zustand und seinen Handlungsspielraum nicht eher widerspiegelt, wenn man ihn herum kommandiert. Wo sind denn hier die Messer? Kannst du das mal rausbringen? Andreas agiert. Da du offenbar ohnehin vorhattest, ihn hier bei dieser Party als "Nebensache" zu präsentieren, wäre das deine Gelegenheit, es zu zeigen. Indem er nicht AGIERT sondern lediglich REAGIERT)


„Er hat sich so sehr darauf gefreut, Sie kennen zu lernen, wissen Sie? Tagelang hat er von nichts Anderem gesprochen, er war wie ein Kind vor Weihnachten.“ Ihre Stimme ist zärtlich, ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, doch dann atmet sie tief ein und fragt: „Ist er krank? Ich habe so einen Verdacht, aber er weicht mir immer aus, wenn ich versuche, die Sprache darauf zu bringen. Sie kennen ihn besser als irgendjemand sonst. Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sa­gen, bitte!“

(Dieser Part hat mich beim Lesen überfordert. Von wem spricht sie jetzt plötzlich? Ah, von ihrem Begleiter. Wieso sollte er krank sein? Wie kommt sie so plötzlich darauf? Hier passiert zu viel auf einmal. Sie ruft ihn weg. Sie schneiden Häppchen auf, entkorken Flaschen und ohne Überleitung wird das Gespräch plötzlich heikel. So schnell kann ich mich darauf gar nicht einstellen.
Du könntest das vielleicht ein wenig besser einleiten. Könnte sie ihn am Ärmel zupfen und verstohlen ein vertrauliches Thema anschneiden und das vorher ankündigen? "Kann ich dich etwas Vertrauliches fragen?")


Den ganzen Rest der Party habe ich jetzt weggeschnitten. Viel Belangloses. Eigentlich hauptsächlich Belangloses. Lädt zum Überfliegen oder Überlesen ein. Hier würde ich radikal den Rotstift ansetzen. Reduziere den Text auf die Parts, die letztlich zur Pointe führen. Die Parts, die eine Erkenntnis auslösen. Das sollten dann wohl nicht mehr sein als ein paar Zeilen.
In meinen Augen ist es unschädlich, wenn er weiter passiv bleibt.
Eine aktive Rolle übernimmt er wieder, wenn er am nächsten Morgen wieder anfängt, die Dinge in die Hand zu nehmen.

Ich hoffe, meine Einschätzung hilft dir weiter.
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PhilipS
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Beitrag29.01.2018 14:32

von PhilipS
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Vielen Dank für die Anmerkungen! Ich habe aktuell keine Zeit, ich Eurer Vorschläge anzunehmen und den Text zu bearbeiten. Ich habe aber eine Vorstellung davon bekommen, warum und an welchen Stellen der Text langatmig und repetitiv wird. Sobald bei mir ein bisschen Ruhe eingekehrt ist, setze ich mich an eine neue Fassung. Ihr habt mir wirklich geholfen.

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Constantine
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Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag29.01.2018 22:57

von Constantine
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Hallo PhilipS,

eine nette Idee, deinen schreibblockaden_Protagonisten durch seine eigenen Kurzgeschichten- und Roman-Protagonisten Besuch erhalten zu lassen und ihn dadurch kurzzeitig quasi vergessen lassen, dass ihn eine Blockade plagt.

Was die Interaktion zwischen Andreas und seinen Protagonisten angeht, finde ich, verschenkst du einiges an Potenzial. Abgesehen davon, dass du mir als Leser einen kurzen Überblick gibst, wo die jeweilige Figur in den Geschichten zu verorten ist, bleiben sie mir doch leider zu oberflächlich, weil du mMn an den weiterführenden, interessanten Stellen den Dialog zwischen Andreas und seinen Figuren verkürzt oder überspringst.

Zitat:
„Wir sprachen gerade über Wagner."

Hier eine Möglichkeit, den Figuren um Theißen & Co mehr Tiefe zu geben, aber das verpufft recht schnell wieder.

Zitat:
„Dann hören Sie zu und lernen Sie.“

sagt der Komponist zum Polizisten und eigentlich trifft dies auch auf Andreas zu, aber statt zu erfahren, wovon genau gesprochen wird, folgen
Zitat:
Andreas beteiligt sich nicht an der Unterhaltung. Er sitzt auf dem Teppich vor dem Couchtisch, weil das Sofa und die Sessel belegt sind, trinkt von dem Wein und hört zu.

[...]
Zitat:
Er steht inmitten all der Leute und beobachtet, wie sie reden und lachen.

[...]
Zitat:
„Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mit Ihnen zu reden“, beginnt der alte Komponist. „Jetzt komme ich endlich dazu und weiß überhaupt nicht recht, was ich eigentlich sagen soll.

Statt zu reden, wird viel getrunken.
Ich frage mich, wozu sind die ganzen Figuren da, wenn es nichts Konkretes mit Andreas zu bereden gibt, außer Party, Trinken und größtenteils Small-talk?
Schließlich wird von Theißen erklärt:
Zitat:
Das ist Ihre Party. Wir sind alle nur hier, um Sie zu treffen.

Die Protagonisten sind wegen ihm hier und haben evtl. eine "Mission"/Intention.

Dann erscheint Laura und ihren Auftritt empfinde ich als Widerspruch.
Zitat:
Zu Andreas kommt sie als letztes. „Andreas, richtig? Freut mich, dich zu treffen. Ich bin...“ „Laura“, unter­bricht er sie. Sie ist erstaunt. Ihre Augen, blaugrau wie das Meer an einem bewölkten Tag, weiten sich, und sie fragt: „Sind wir uns denn schon einmal begegnet?“
„Nein“, will Andreas antworten, „das sind wir nicht, aber ich weiß alles über dich. Du warst über ein Jahr lang ein Teil meines Lebens, und ich kann einfach nicht glauben, dass du jetzt hier vor mir stehst“, aber er bringt einfach nichts heraus. Sie lacht. „Wird nicht einfach, dich näher kennen zu lernen, wenn du den Mund nicht aufkriegst. Warte.“ Sie dreht sich zum Tisch um, greift nach dem Whiskey und füllt das Glas nach, das Andreas in der Hand hielt. Sie trinken beide. Laura sagt: „Du bist Schriftsteller, oder?“ Er nickt nur.

Alle anderen Protagonisten wissen, dass Andreas ihr "Erschaffer" ist, der Verfasser der Geschichten. Nur Laura nicht! Warum nicht?

Später entwickelt sich Laura als die wichtigste Besucherin. Einerseits füllt sie Andreas weiter gut ab mit Alkohol, er  trinkt gerne weiter und wird gesprächiger und sie ist auch eine Art "Love Interest" für ihn. Die emotionale Beziehung von ihm zu seinen anderen Protagonisten bleibt leider unter "ferner liefen"-Ausarbeitung, was ich sehr schade finde.

Ich denke, du hast einiges an sehr hilfreichem Feedback erhalten.
Vielleicht findest du irgendwann die Muse, Zeit und Lust an deiner Geschichte nochmal Hand an zu legen. Wie gesagt, von der Idee her gefällt mir dein Setting, aber ich finde, du machst es dir bei der Interaktion der Figuren mit Andreas zu leicht, in dem da die Ausarbeitung zu oberflächlich bleibt.

Soweit mein Eindruck deiner Story.

LG
Constantine
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PhilipS
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 109



Beitrag05.09.2018 14:19

von PhilipS
pdf-Datei Antworten mit Zitat

So, nachdem ich in den letzten Monaten zwar viel geschrieben habe, das aber alles für die Uni war, will ich mir jetzt zwischen dem Ende der Masterarbeit und dem Anfang meines Dissertationsexposés den Luxus erlauben, mich um meine künstlerischen Texte zu kümmern. Ich habe diese Kurzgeschichte überarbeitet und dabei versucht, die Anregungen von Moni und Constantine zu berücksichtigen. An dieser Stelle nocheinmal tausend Dank dafür! Das ist das Ergebnis:

Unerwarteter Besuch

Der Cursor blinkt vorwurfsvoll auf dem weißen Hintergrund. In seinem unermüdlichen Rhythmus ist er wie das Blaulicht im Takt einer Sirene, die stumm schreit: „Schreib! Schreib! Schreib!“ Ein leeres Papier dagegen heißt einen willkommen. Es drängt nicht, sondern wartet. Papier ist geduldig, und Andreas will sich nicht mehr anschreien lassen. Vielleicht sollte er dazu zurückkehren, mit der Hand zu schreiben.
Aber nicht mehr heute. Er schließt das Textprogramm und ruft aus seiner Musiksammlung die zweite Sym­phonie von Schumann auf. Während die ersten Takte den Raum erfüllen, erhebt Andreas sich vom Schreibtisch. An den Rahmen der geöffneten Balkontür gelehnt blickt er auf die dunkle, leere Straße hinab und atmet die kalte Novemberluft ein. Er spürt eine tiefsitzende Erschöp­fung, als sei jede Zelle seines Körpers ausgelaugt. Andreas Hoffmann ist dreiunddreißig Jahre alt, und es kommt ihm vor, als habe er seine beste Zeit hinter sich.
Andreas sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Ein paar Straßen weiter ist eine Bar. Er könnte hinge­hen, sich an die Theke setzen und unter Leuten sein. Fröhliche Leute, die lärmen und lachen und kei­ne Sorgen haben, oder jedenfalls nur solche, die ihm klein und lächerlich erscheinen. Viel­leicht säße je­mand auf dem benachbarten Hocker. Sie würden einander zuprosten und ein paar Bemer­kungen austau­schen. Über das Wetter vielleicht. Oder über das Fußballspiel, das man im Fernseher über dem Fla­schenregal sehen kann. Gibt es heute ein Spiel? Bestimmt. Es gibt doch fast jeden Abend eins.
Vielleicht säße auch eine Frau an der Bar. Sie würde eine Weile lang mit verträumten Gesichtsausdruck in ihrem Cocktailglas rühren und sich dann zu Andreas herüberbeugen, um nach Feuer zu fragen. Er würde ihr die Zigarette anzünden und ihr dabei in die Augen sehen, über die Flamme hinweg. Dabei würde er irgendetwas Beiläufiges sagen. Sie würde sich lächelnd bedanken und ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln betrachten. Und irgendwann später würde er fragen, ob er ihr ein Getränk ausgeben könnte ... Er durfte nicht vergessen, Streichhölzer einzustecken.
Aber wird ihm überhaupt etwas Gutes einfallen, wenn eine Frau ihn nach Feuer fragt? Warum soll er ver­suchen, sich etwas vorzumachen, wenn ihm das nicht einmal bei seinen Lesern gelingt?
Andreas entscheidet, den Fernseher einzuschalten und einen Krimi zu sehen. Es gibt ja fast jeden Abend einen. Er schließt die Balkontür und durchquert das Wohnzimmer seiner Zweiraumwohnung, um sich etwas zu trinken zu holen. Er hat gerade ein Glas aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klin­gelt. Kurz erwägt Andreas, es zu ignorieren. Er ist nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, und erwartet auch keinen. Aber dann siegt die Neugier. Er will zumindest wissen, wer da  unerwartet vor der Tür steht. Er betätigt den Türöffner und tritt hinaus auf den Treppenab­satz. Er hört, wie im Erdgeschoss die Haustür ins Schloss fällt, beugt sich über das Geländer und ruft: „Hallo?“
Anstatt einer Antwort vernimmt er aber nur Schritte, die die Treppe heraufkommen, bis einen Treppenabsatz tiefer ein Mann erscheint. Er ist vielleicht Ende zwanzig mit rotblondem Haar und randloser Brille. Unter einem Mantel aus dunkler Wolle trägt er einem silbrig-grauen Anzug, dazu ein blaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Andreas hat vage das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, könnte aber beim besten Willen nicht sagen, wann oder wo.
Der Besucher bringt die letzten Stufen hinter sich, sagt freundlich „Guten Abend“ und geht an An­dreas vorbei in die Wohnung. Dieser bleibt noch einige Augenblicke lang vor der Tür stehen. Dann reißt er sich aus der Überraschungsstarre. Ruckartig dreht er sich um und folgt dem anderen. Der hat inzwischen seinen Mantel an die Garderobe gehängt und sich auf das Sofa gesetzt. Andreas steht ein wenig verloren im Raum herum. Der Eindringling hat unterdessen die Fernbedienung gefunden und schaltet den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm sieht man Fußballspieler ins Stadion einlaufen, während im Off der Kommentator die Zuschauer begrüßt. Der Mann auf dem Sofa wechselt den Kanal. Die gerade am Tatort eingetroffene Kommissarin redet mit dem Kollegen von der Spurensicherung. Ein weiterer Knopfdruck, und der Fernseher geht wieder aus. „Nur Schrott“, sagt der Besucher. Dann scheint ihm die Musik aufzufallen, denn er neigt kurz den Kopf, als lausche er. „Was ist das?“, will er wissen. Andreas antwortet mechanisch: „Schumann.“
„Gefällt mir.“ Der Mann steht auf, geht zur Küchenzeile hinüber und öffnet den Kühlschrank. Er nimmt eine Flasche Weißwein heraus und findet beim zweiten Versuch den Schrank mit den Gläsern. Als er sich einschenkt, bemerkt er den entgeisterten Blick von Andreas.
„Wo sind nur meine Manieren? Möchten Sie auch ein Glas?“
Zu seiner eigenen Verwunderung hört Andreas sich antwor­ten: „Ja, bitte.“ Er nimmt ein Glas entgegen, an dem er sich festhält, während der Besucher sich wieder aufs Sofa setzt. Andreas gibt sich einen Ruck. Er kann doch nicht in seiner eigenen Wohnung herumstehen, wie bestellt und nicht abgeholt! Also geht er auch hinüber zur Sitzecke und lässt sich im Sessel nieder, während sein Gegenüber an dem Wein riecht, einen Schluck nimmt und anerkennend nick­t. Andreas hält es nicht mehr aus. Er stellt sein Glas auf den Couchtisch, beugt sich vor und fragt: „Entschuldigen Sie, aber woher kennen wir uns? Waren Sie bei meiner Lesung in der Buchhandlung Kampe?“
Der Mann wirft ihm über den Rand des Glases einen Blick zu, den Andreas nicht deuten kann. „Erkennen Sie mich nicht?“
„Nein“
„Ich bin Benedikt Vomwald“, erklärt er, als sei damit alles klar. Andreas erstarrt, als er den Namen hört.
„Benedikt Vomwald“, wiederholt er.
„Ganz genau“, bestätigt dieser.
„Das ist doch ein Scherz. Hat Sie jemand geschickt?“
„Niemand hat mich geschickt. Und ich versichere Ihnen, das ist kein Scherz.“
„Zeigen Sie mir Ihren Ausweis!“, verlangt Andreas. Er ist selbst ein wenig erschrocken darüber, wie harsch er klingt.
Der andere lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er holt sein Portemonnaie hervor, entnimmt ihm seinen Personalausweis und reicht ihn Andreas. Nach einem kurzen Blick auf Geburtsdatum und -ort sowie die gegenwärtige Adresse ist alles klar. Die Datei mit den Profilen der Figuren seines zweiten Romans muss er gar nicht aufrufen, um sicherzugehen. Es stimmt alles.
Er lehnt sich im Sessel zurück und trinkt einen Schluck, während er sein Gegenüber betrachtet. Dieser Mann sieht tatsächlich so aus, wie er sich Benedikt immer vorstellte. Bevor er etwas sagen kann, klingelt es erneut an der Haustür. Das Geräusch geht Andreas durch Mark und Bein. Er traut sich kaum, aufzu­stehen und den Summer zu drücken. Wer käme als nächstes die Treppe herauf?
Wie es sich herausstellt, sind es zwei auf einmal. Der eine Besucher ist ein Mann um die siebzig mit weißer Mähne. Er trägt einen dreiteiligen Anzug mit Fliege und hat einen schwarz la­ckierten Stock. In seiner Begleitung befindet sich eine Frau, die höchstens halb so alt war wie er. Mit ei­ner Hand stützt sie den älteren, in der anderen hält sie einen Stoffbeutel. Der Mann schüttelt Andreas die Hand. „Georg Theißen“, stellt er sich vor. „Freut mich, dass wir ein­ander einmal persönlich begegnen.“ Andreas will etwas Passendes antworten, ist aber immer noch damit beschäftigt, den genannten Namen zu verarbeiten. Erst Vomwald, jetzt Theißen. Kann es wirklich sein, dass…? Die Frau streckt Andreas ebenfalls die Hand entgegen. Er weiß bereits, welchen Namen sie nennen wird. Sie kann sich nur las Rebekkah Meh­ring vorstellen. Georg Theißen ist der alte Komponist, der zurückgezogen in einem Leuchtturm leb­t, und sie die Violinistin, die eine Partitur von ihm entdeckt und sich auf die Suche nach ihm mach­t. Diese Erzählung hat Andreas vor einigen Jahren geschrieben.
Drinnen nimmt er ihr den Mantel ab und macht sie mit Benedikt bekannt. Georg setzt sich.
Vom Esstisch her lässt sich Rebekkah vernehmen. „Herr Hoffmann? Könnten Sie mir kurz helfen?“ Er geht zu ihr, derweil Theißen und Vomwald ein Gespräch über die Musik des 19. Jahrhunderts begin­nen. Die Violinistin hat die Stofftasche auf den Tisch gestellt und entnimmt ihr nun zwei Flaschen Wein, Graubrot, verschiedene Sorten Käse und Trauben. „Ich dachte, wenn wir schon unangemeldet hereinplatzen, sollten wir wenigstens nicht mit leeren Händen erscheinen.“ Sie drückt Andreas Brett und Brotmesser in die Hand, die sie auf Anhieb aus seinen Küchenschränken zutage gefördert hat. Während er das Brot aufschneidet, entkorkt sie eine der Flaschen und gießt den In­halt in den Dekanter. Er will sich umdrehen und stößt dabei fast mit Rebekkah zusammen, die offenbar einen Schritt näher gekommen ist. Sie vermeidet es, ihn anzusehen und trommelt mit den Fingern auf die Außenseite ihrer Beine. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagt sie mit gesenkter Stimme: „Er hat sich so sehr darauf gefreut, Sie kennen zu lernen, wissen Sie? Tagelang hat er von nichts Anderem gesprochen, er war wie ein Kind vor Weihnachten.“ Ihre Stimme ist zärtlich, ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, doch dann atmet sie tief ein und fragt: „Ist er krank? Ich habe so einen Verdacht, aber er weicht mir immer aus, wenn ich versuche, die Sprache darauf zu bringen. Sie kennen ihn besser als irgendjemand sonst. Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie es mir sa­gen, bitte!“
In der Erzählung hat Andreas tatsächlich angedeutet, dass Theißen an einer tödlichen Krankheit leidet, es letztlich aber offen gelassen. Also zuckt er mit den Schultern und erklärt: „Tut mir Leid. Was das betrifft, weiß ich auch nicht mehr als Sie.“ Sie nickt mit versteinerter Miene und bringt Brot und Käse zu den anderen hinüber. Andreas folgt ihr mit dem Dekanter und Weingläsern. Er setzt sich und fragt Theißen: „Komponieren Sie noch, Georg? Dürfen wir auf ein fulminantes Spätwerk von Ihnen hoffen?“ Der Gefragte schüttelt den Kopf. „Ich befürchte, meine Schaffenskraft ist erschöpft, aber Re­bekkah hört nicht auf, auf mich einzureden, dass ich es noch einmal versuchen soll. Zweifelsohne hofft sie darauf, bei der Uraufführung ein Solo zu spielen.“ Sie lachen alle und bedienen sich dann an Brot und Käse.
Wieder klingelt es. Benedikt sagt rasch: „Bleib sitzen, Andreas.“ Er geht seinerseits zur Tür, um zu öffnen. Draußen stehen Herbert Semmering und Bruno Reuters. Ersterer ist ein siebzigjähriger Fami­lienvater, der nach dem Tod seiner Frau der übertrieben Fürsorglichkeit seiner Verwandten entflieht und nach Australien reist, wo er von einer Gruppe Biker aufgenommen wird. In seinem zweiten Roman hat An­dreas versucht, etwas Humoristisches mit ernsthaften Untertönen zu schreiben. Er findet nicht, dass es ihm gelungen ist. Reuters ist Kriminalpolizist und versucht, in einem kleinen Ort in der Eifel den Tod eines achtzehnjährigen Schülers aufzuklären. Es ist eines der frühesten Werke von Andreas und eines, das er am wenigsten misslungen findet.
Semmering stellt eine Flasche Whiskey auf den Tisch und grinst verschwörerisch. Reuters nickt in die Runde. „Setzen Sie sich!“, fordert Theißen ihn auf. „Wir sprachen gerade über Wagner.“ Der Poli­zist lächelt entschuldigend. „Davon verstehe ich nichts.“ „Umso besser!“, ruft der Komponist und hält ihm ein Glas hin. „Dann hören Sie zu und lernen Sie. Wussten Sie zum Beispiel, dass Heavy Metal im Grunde in der Tradition der Romantik steht?“ Amüsiert über die ungläubigen Blicke bekräftigt Semmering: „Doch, doch. Das lässt sich sogar recht leicht zeigen. Es gibt sogar eine Band, deren Musik als konsequente Fortführung von Wagners Werk verstanden werden kann.“
Andreas sitzt auf dem Teppich vor dem Couchtisch, weil das Sofa und die Sessel belegt sind, trinkt von dem Wein und hört zu. Theißen erklärt, was Symphonic Metal und die Filmmusik von Star Wars mit Wagneropern zu tun haben. Andreas fängt Rebekkahs Blick auf, die ihn über den Rand ihres Glases hinweg anlächelt.
Nach und nach erscheinen weitere Figuren aus Andreas' Geschichten, auch aus solchen, die nicht veröf­fentlicht wurden. Sie treten einfach ein, ohne zu klingeln. Da sind zum Beispiel Anja, die sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt retten zu müssen, und sich dabei verzettelt, und Julia, die Briefe in die Vergangenheit schick­t. Die Protagonisten einer Superhelden-Parodie, die Andreas einmal geschrieben hat, erscheinen alle gemeinsam und begrüßen ihn begeistert. Allmählich wird es voll. Er steht inmitten all der Leute und beobachtet, wie sie reden und lachen. Jemand tippt ihn an. Als er sich umdreht, steht Georg Theißen hinter ihm. „Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mit Ihnen zu reden“, beginnt der alte Komponist. „Jetzt komme ich endlich dazu und weiß überhaupt nicht recht, was ich eigentlich sagen soll. Ich bin einfach so begeistert davon, Ihnen zu begegnen.“ Andreas ist so überrascht, dass er nur fragt: „Warum?“
„Warum?“, wiederholt Theißen. „Sie sind Andreas Hoffmann! Das ist doch Grund genug. Und jetzt hören Sie auf, herumzustehen, als gehörten Sie nicht hierher. Das ist Ihre Party. Wir sind alle nur hier, um Sie zu treffen. Wir...“ Er wird unterbrochen, als die Wohnungstür ein weiteres Mal geht, und eine helle Stimme ruft: „Hallo!“
Andreas dreht sich um. Er glaubte, es seien alle da. Wie hat er das denken können? Wie hat er ausgerechnet sie vergessen können? Laura ist da. Sie stammt aus seinem besten Roman. Nicht der erfolgreichste, aber der kraftvollste, den er geschrieben hat. Er handelt von einem jungen Dramatiker voller Hoffnungen und Selbstzweifel, der Laura immer wieder begegnet. Sie umkreisen einander in wechselnden Abständen, schaffen es aber nicht, einander wirklich nahe zu kommen.
Selbstverständlich ist dieser Dramatiker ein Alter Ego von Andreas, und Laura die Frau, die er gerne getroffen hätte. Sie am Ende wieder getrennte Wege gehen zu lassen, ist das Schwerste, was er je ge­tan hat, aber die Geschichte verlangte es, und er hat gehorcht. Und jetzt ist Laura hier. Sie sieht genauso aus, wie Andreas sie sich immer vorstellte, und hat etwas an sich, das die Aufmerk­samkeit der Anwesenden auf sie lenkt. Sie nimmt sich etwas zu trinken und begrüßte alle einzeln. Zu Andreas kommt sie als letztes. „Andreas, richtig? Freut mich, dich zu treffen. Ich bin...“ „Laura“, unter­bricht er sie. Ihre Augen, blaugrau wie das Meer an einem bewölkten Tag, sehen ihn an. „Natürlich, das weißt du ja.“
„Stimmt“, will Andreas antworten. „Ich weiß alles über dich. Du warst über ein Jahr lang ein Teil meines Lebens, und ich kann einfach nicht glauben, dass du jetzt hier vor mir stehst“, aber er bringt einfach nichts heraus. Sie lacht. „Wird nicht einfach, dich näher kennen zu lernen, wenn du den Mund nicht aufkriegst. Warte.“ Sie dreht sich zum Tisch um, greift nach dem Whiskey und füllt das Glas nach, das Andreas in der Hand hielt.
„Ich habe immer gedacht, dass gerade ein Schriftsteller nicht um eine Antwort verlegen sein sollte. Andererseits kannte ich mal einen anderen Schriftsteller, der auch nie viel gesagt hat. Zum Glück kenne ich die ma­gischen Worte, mit denen man euch zum Reden bringen kann.“ Sie grinst und fragt: „Woran schreibst du gerade?“
Er seufzt und winkt ab. „Lohnt sich nicht, darüber zu reden. Es ist schlecht, und ich werde daran wohl nicht weiterarbeiten.“ Sie zieht die Luft scharf durch die Zähne ein und meint: „Dann muss es wirklich schlimm sein. Üblicherweise folgt auf diese Frage ein langer Monolog, eine Aufzählung von Ideen, Figuren und Handlungssträngen.“
Andreas nimmt einen weiteren Schluck und erklärt: „Diese Aufzählung könnte ich auch liefern, aber nichts davon ist der Rede wert.“
Laura schenkt ihm nach und will wissen: „Genau wie Mathias. Warum glaubt ihr das immer?“
Er erklärt: „Weil es banal ist. Ich will nichts Banales schreiben. Meine Bücher sollen die Leute nachts wachhalten, weil sie nicht aufhören können, zu lesen. Ich will Geschichten schreiben, die wirklich et­was zu sagen haben über das Leben, über...“ Er bricht ab. Es ist das erste Mal, dass er das laut aus­spricht. Er hat immer gewusst, dass es sich so verhält. Er hat es nie gesagt, weil er nicht lächerlich klingen wollte. Jetzt ist es heraus. Er leert sein Glas in einem Zug. Laura sieht ihn mitfühlend an und schüttelt langsam den Kopf. „Du bist wirklich genauso wie Mathias.“ Nein, denkt er, Mathias ist wie ich. Sie fährt fort: „Mach die Augen auf. Sieh dich um. Sie sind alle hier, die Geschichten, die einen nachts wachhalten.“
Andreas sieht sich um. Die verschiedenen Grüppchen, über die ganze Wohnung verteilt, haben ihre Gespräche unterbrochen und sich zu Andreas umgewandt. Alle sehen ihn an. „Ist meine Geschichte etwa banal?“, fragt Reuters. Anja, die bei Paul Palmer und Herbert Semmering steht, meint: „Sagt meine Geschichte nichts über das Leben?“
„Was macht dich so sicher, dass du mit meinen Abenteuern nicht einen einzigen Leser zum Lachen gebracht hast?“, will Semmering wissen.
„Glaubst du, dass noch niemand eine Nacht lang wachgeblieben ist, weil er so gebannt von meiner Ge­schichte war?“, fragt Laura.
Andreas sagt nichts. Laura schüttelt ein weiteres Mal den Kopf. „Ihr sucht immer nach Geschichten, die ihr erzählen könnt und beobachtet das Leben an­derer, bis ihr euer eigenes vergesst. Du hast etwas geschafft, auf das viele nicht einmal hoffen.“
Andreas lässt seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Sie ist voller Leute; Leute deren Geschich­ten er erzählt hat. Geschichten, die gelesen werden, die gemocht werden. Und, was viel wichtiger ist, Geschichten, die er selber mag.
Laura grinst ihn breit an. „Jetzt hast du es verstanden. Ich gehe eine rauchen. Kommst du mit?“
Sie gehen auf den Balkon. Laura nimmt einen Zigarillo aus einer Blechschachtel. Sie durchsucht ihre Taschen und verdreht dann entnervt die Augen. „Hast du Feuer?“ Zu sei­ner Überraschung findet Andreas in seiner Hosentasche eine Schachtel Streichhölzer. Er reißt eines an und hält es ihr hin. Sie sieht ihn über die Flamme hinweg an und entzündet ihren Zigarillo. Sie stößt eine Rauchwolke aus, und das Streichholz erlischt. „Auch einen?“, fragt sie. „Gerne“, antwortet er. Dieses Mal gibt sie ihm Feuer. Als er sich über die Flamme beugt, fragt sie: „Und jetzt noch einmal: Woran arbeitest du gerade?“
Also erzählt er es ihr. Er führt die Grundidee aus, skizziert die Figuren und den Handlungsverlauf. Als er endet, merkt er, dass Julia, Rebekkah, Theißen und Vomwald zwischenzeitlich dazugekommen sind. Anscheinend haben sie zugehört. Semmering zieht an seiner Pfeife und nickt Andreas anerken­nend zu. Laura sagt: „Das klingt toll. Ich würde es gerne lesen, wenn es fertig ist.“ „Ich auch“, lässt sich Vomwald vernehmen. Sie rauchen auf und gehen wieder hinein. Laura fragt: „Was hast du noch für Ideen?“ Andreas überlegt kurz und sagte: „Na ja, es gibt da diese Kurzgeschichte, die ich gerne schreiben würde...“
Und dann sprudelt es nur so aus ihm heraus. Es ist eine Idee, die er schon länger im Kopf gehabt hat­, ohne zu wissen, wie er anfangen soll. Jetzt entsteht der Text, indem er davon erzählt. Die ande­ren unterbrechen ihre Gespräche, um ihm zuzuhören. Laura hat ein Fass ohne Boden angestochen. Er redet und redet, entwirft Romane, Novellen und Drehbücher. Er wirft mit Ideen nur so um sich. Der Whiskey, den ihm immer irgendwer nachfüllt, tut sein Übriges. Bald verabschieden die ersten Gäste sich. Einer nach dem anderen gehen sie, und er redet weiter. Laura hört zu und stellt gelegentlich Fragen, die weitere Kaskaden von Ideen in Gang setzen.
Irgendwann hält er inne und sieht sich um. Wo... Wo sind alle?“ „Gegangen“, erklärt Laura. „Gegan­gen?“, wiederholt er überrascht. Sie sieht ihn an und prustet los. Er muss ebenfalls lachen und nach­dem er einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören. Er lacht, bis ihm die Tränen kommen, und seine Rippen schmerzen.
„Du hättest dein Gesicht sehen sollen“, ruft Laura. „Rebekkah und Georg waren die letzten, vor einer Viertelstunde. Du hast ihnen Tschüss gesagt, erinnerst du dich nicht?“ Er schüttelt den Kopf und greift sich an die Stirn. „Ich... bin mir nicht sicher.“ Sie bricht erneut in Gelächter aus. Dann erhebt sie sich nicht ohne Mühe aus dem Sessel. Andreas steht auch auf. Er schwankt. „Ich werde dann auch mal ge­hen. Ich muss morgen früh einen Zug kriegen“, erklärt sie. „Oh, ja. Klar doch.“, stottert er. Sie sagt: „Ich würde gerne bleiben, wirklich. Aber ich muss morgen Nachmittag in Paris sein.“ Paris, natürlich. Sie ist alle paar Tage woanders, um dann unerwartet wieder aufzutauchen.
Er wartet, während sie sich Schuhe und Mantel anzieht. Er hält ihr die Tür auf. Dann stehen sie auf dem Treppenabsatz. „Also dann“, sagt er. „Mach's gut.“ Sie nickt. Einige Augenblicke lang stehen sie schweigend vor der Wohnungstür. Plötzlich geht das Licht im Treppenhaus aus. Andreas tastet nach dem Lichtschalter, aber bevor er ihn findet, nimmt Laura seine Hände in ihre. In der Dunkelheit kann er spüren, wie sie an ihn herantritt. Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Mach's gut, Andreas. Bleib bei deinen Geschichten. Sie sind gut.“

Als Andreas am nächsten Morgen aufwacht, kann er sich nicht mehr an den ganzen Abend erinnern. Einiges ist verschwommen, an Anderes erinnert er sich überhaupt nicht. Umso mehr erstaunt es ihn, dass er keinen Kater spürt, dabei müssen er und Laura den Großteil des Whiskeys im Alleingang vernichtet ha­ben. Seufzend steht er auf. Er muss aufräumen. Nach gestern muss ein ziemliches Durcheinander herrschen.
Aber der Rest der Wohnung ist in bestem Zustand. Keine Batterie leerer Flaschen, keine Gläser auf dem Tisch, keine Chipskrümel auf dem Teppich, und doch hat er mit all dem gerechnet. Haben Thei­ßen und Rebekkah noch aufgeräumt, während er mit Laura redete? Er kannt sich nicht erinnern.
Und dann versteht er. Es war ein Traum. Natürlich war es das. Er hat Besuch bekommen von Figuren, die er sich ausgedacht hat, gar nicht so abwegig für einen Schriftsteller.
Er geht zur Küchenzeile und setzt Kaffee auf. Zu der Müdigkeit gesellt sich die Enttäuschung. Wie konnte er so dumm sein? Eine Weile lang glaubte er, es wäre tatsächlich passiert, aber jetzt ist er umso sicherer, dass es ein Traum war. Das erklärt die lückenhaften Erinnerungen und den fehlenden Kater.
Der Kaffee ist fertig. Andreas geht zum Schrank und nimmt eine Tasse heraus. Da bemerkt er die es. Neben der Spüle stehen zwei benutzte Gläser. Er nimmt eines und hält es gegen das Licht. Am Rand sind Spuren von Lippenstift. Kurz erstarrt er. Dann lacht er. Es ist ein befreites Lachen, und während er lacht, verfliegen Müdigkeit und Enttäuschung. Er gießt Kaffee ein und nimmt die Tasse mit zum Schreibtisch. Aus der Schublade holt er ein Notizbuch. Sein Füller liegt griffbereit. Er schlägt das Notizbuch auf und beginnt, zu schreiben.


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schwarzistdiekatz
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Beitrag06.09.2018 04:29

von schwarzistdiekatz
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Lieber PhilipS,

anbei meine Vorschläge für den Anfang des Textes. Ist ja schon nach 4:00 in der Früh, darum erst einmal ein Teil ... Wink

Der Cursor blinkt vorwurfsvoll auf dem weißen Hintergrund. In seinem unermüdlichen Rhythmus ist er wie ein Alarmlicht das Blaulicht im Takt einer Sirene, das stumm schreit: „Schreib! Schreib! Schreib!“ Ein leeres Papier dagegen heißt einen willkommen. Es drängt nicht, sondern wartet. Papier ist geduldig, und Andreas will sich nicht mehr anschreien lassen. Vielleicht sollte er dazu zurückkehren, mit der Hand zu schreiben.
Aber nicht mehr heute. Er schließt das Textprogramm und ruft aus seiner Musiksammlung die zweite Sym­phonie von Schumann auf. Während die ersten Takte den Raum erfüllen, erhebt Andreas sich vom Schreibtisch. An den Rahmen der geöffneten Balkontür gelehnt, blickt er auf die dunkle, leere Straße hinab und atmet die kalte Novemberluft ein. Er spürt eine tiefsitzende Erschöp­fung, als sei jede Zelle seines Körpers ausgelaugt. Andreas Hoffmann ist dreiunddreißig Jahre alt, und Es kommt ihm vor, als habe er seine beste Zeit hinter sich.
Andreas sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Ein paar Straßen weiter ist eine Bar. Er könnte hinge­hen, sich an die Theke setzen und unter Leuten sein. Fröhliche Leute, die lärmen und lachen und kei­ne Sorgen haben, oder jedenfalls nur solche, die ihm klein und lächerlich erscheinen. Viel­leicht sitzt je­mand auf dem benachbarten Hocker. Sie würden einander zuprosten und ein paar Bemer­kungen austau­schen. Über das Wetter vielleicht. Oder über das Fußballspiel, das man im Fernseher über dem Fla­schenregal sehen kann. Gibt es heute ein Spiel? Bestimmt. Es gibt doch fast jeden Abend eins.
Vielleicht sitzt auch eine Frau an der Bar. Sie würde eine Weile lang mit verträumten Gesichtsausdruck in ihrem Cocktailglas rühren und sich dann zu Andreas herüberbeugen, um nach Feuer zu fragen. Er würde ihr die Zigarette anzünden und ihr dabei in die Augen sehen, über die Flamme hinweg. Dabei würde er irgendetwas Beiläufiges sagen. Sie würde sich lächelnd bedanken und ihn hin und wieder aus den Augenwinkeln betrachten. Und irgendwann später würde er fragen, ob er ihr ein Getränk ausgeben könnte ... Er durfte nicht vergessen, Streichhölzer einzustecken.
Aber wird ihm überhaupt etwas Gutes einfallen, wenn sie ihn nach Feuer fragt? Warum soll er ver­suchen versucht er, sich etwas vorzumachen, wenn ihm das nicht einmal bei seinen Lesern gelingt?
Andreas entscheidet, den Fernseher einzuschalten und einen Krimi zu sehen. Es gibt ja fast jeden Abend einen. Er schließt die Balkontür und durchquert das Wohnzimmer seiner Zweiraumwohnung, um sich etwas zu trinken zu holen. Er hat gerade ein Glas aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klin­gelt. Kurz erwägt Andreas, es zu ignorieren Soll er es ignorieren?. Er ist nicht in der Stimmung, Besuch zu empfangen, und erwartet auch niemanden. Aber dann siegt die Neugier. Andreas will zumindest wissen, wer da unerwartet vor der Tür steht. Er betätigt den Türöffner und tritt hinaus auf den Treppenab­satz. Er hört, wie Im Erdgeschoss fällt die Haustür ins Schloss. Andreas beugt sich über das Geländer und ruft: „Hallo?“
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PhilipS
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Beitrag08.09.2018 12:15

von PhilipS
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Hallo schwarzistdiekatz,

danke für Deine Anmerkungen. Was die Sache mit dem Cursor angeht: das war mein Versuch, die optische und akustische Ebene des Vergleichs irgendwie zusammenzubringen (siehe hierzu die erste Antwort von Moni1980 und meine Erwiderung darauf). Vielleicht ist dieser Vergleich grundsätzlich problematisch, ich möchte ihn aber gerne drinlassen. Was die anderen Passagen angeht, hast Du recht. Da kann ich noch ein bisschen die Luft rauslassen, sozusagen. Ich würde mich über Deine Meinung zum gesamten Text freuen, sofern Du die Zeit dafür hast.


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Beitrag13.09.2018 05:33

von schwarzistdiekatz
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sorry, doppelt geschickt.
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schwarzistdiekatz
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Beitrag13.09.2018 05:33

von schwarzistdiekatz
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Hi, also ich hab es jetzt kurz angeschaut. Ist schon spät. Bin etwas müde. Grundsätzlich finde ich die Idee sehr spannend. Allerdings stören mich 2 Dinge. Du schreibst sehr deskriptiv. Du beschreibst und beschreibst. Ich selber bin mehr ein Freund von "Show, dont tell". Zweitens. Es passiert extrem viel in kürzester Zeit. Für mich zu viele Personen/Charaktere. Für mich als Leser ein Supergau. Vielleicht am Anfang nur ein Besucher aus seinem geplanten Roman? Dafür hier tiefer hineingehen, tiefsinnigere Dialoge, Auseinandersetzung. Anteasern, dass vielleicht xy auch noch vorbeischaut? Wünsche dir alles Gute für dein Projekt. Bleib dran! Glg Martin
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