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[KUG] Der Moralische Imperativ

 
 
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Elvis Brucelee
Klammeraffe
E

Alter: 53
Beiträge: 743



E
Beitrag18.12.2007 13:24
[KUG] Der Moralische Imperativ
von Elvis Brucelee
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Gemeinsam mit all diesen fremden Menschen stehe ich unter der Bedachung eines Glühweistandes.
Der Regen fällt auf eine Weise, auf die er an einem Tag des dritten Advents nicht fallen sollte, nämlich nicht in fester und nicht im Entferntesten an Schnee erinnernder, sondern in flüssiger Form und in derartigen Mengen, dass einen das Gefühl beschleicht, der gesamte Himmel sei ein mächtig übelgelaunter Wasserfall.
Obwohl es unter der Bedachung völlig überfüllt ist und die ersten Wassertropfen meine Nasespitze schon ins Kreuzfeuer nehmen, versuchen weitere Menschen unter unserem Glühweinstand Schutz zu suchen.
   Ansätze erster Handgemenge drohen sich wie eine ansteckende Krankheit auszubreiten und ich frage mich wo die vorweihnachtliche Nächstenliebe ist, deren Existent immer wieder von allen möglichen Interessengruppen propagiert wird, insbesondere von Werbeagenturen und wohltätigen Organisationen.
   Nur ein recht rüstiger Rentner inmitten des Gewühls scheint sich dem moralischen Imperativ weihnachtlicher Nächstenliebe exemplarisch zu unterwerfen, jedoch auf eine etwas überzogen enthusiastische Weise, wie man den schroffen Verwünschungen einiger Damen entnehmen kann.
   Dessen ungeachtet ist selbst diese Art der Nächstenliebe in seelenlosen U-Bahnen einiger asiatischer Industriestaaten verbreiteter als hierzulande während der Adventszeit.
   Energisch stemme ich mich gegen die nachrückende Menschenmasse und lande letztendlich doch im Regen.
Schließlich gebe ich auf, drehe mich aufgebracht zu den Dränglern unter der Bedachung und widme ihnen einige nicht sonderlich diplomatische Weihnachtsverwünschungen, die ich an dieser Stelle aus Gründen des Jugendschutzes nicht weiter anführen will. Anschließend eile ich zur nächsten Bedachung, schlittere rücksichtlos in die darunter befindliche Menschenmenge und verdränge mit dieser Aktion einen bärtigen Herren in einem rotem Kostüm aus der vordersten Reihe.
Dieser Herr wiederum verunglimpft mich und den Rest der Schutzsuchenden mit einigen Weihnachtsverwünschungen, die denen ähneln, die ich jüngst meinen Mitmenschen entgegenrief , und die diverse Traumata bei den jüngeren Ohrenzeugen dieses Eklats bewirken.
   Nach einigen Minuten versiegt der gewaltige Wasserstrom endlich und weicht einem diesigen Nieseln. Die Menge unter der Bedachung lichtet sich schon kurz darauf und ich schließe mich jenem Menschenfluss an, der gemächlich in Richtung Einkaufszone zieht.
   Weihnachtsmärkte befinden sich erfahrungsgemäß fast immer in der Nähe einer größeren Einkaufszone, damit Konsum und Weihnachten eine lukrative Symbiose eingehen können.
Der mitreißende Strom all dieser Menschen spendet sehr viel Wärme.
   Nur raubt das dichte Gedränge einem auch den Atem. Es nicht sonderlich kalt an diesem frühen Abend, weshalb ich entscheide, dass Sauerstoff im Augenblick wichtiger sei, als von unmittelbarem Körperkontakt bedingte Wärme.
Leider befinde ich mich mitten im Gewühl und ein Entkommen ist nur mit viel Energieaufwand möglich. So lasse ich mich weiterhin vom Menschenfluss mitreißen und hoffe, dass ich rechtzeitig aus dieser Strömung ausscheren kann.
   Es dämmert allmählich und ich nehme unwillkürlich die Lichter über mir wahr.
   Weil mir die entgegenkommenden Menschen nicht sonderlich freundlich erscheinen, blicke ich schließlich nach oben wo ein Großteil der hellen Weihnachtsdekoration über der Fußgängerzone auf das nahende Fest aufmerksam zu machen versucht.
Es ist eine hübsche Dekoration, der es tatsächlich gelingt einige weihnachtliche Gefühle in mir heraufziehen zu lassen und ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern.
   Nur erntet ein ergriffen in den Himmel starrender Mensch in diesen Breiten für gewöhnlich das Misstrauen seiner Mitmenschen, insbesondere, wenn er zudem noch und glücklich lächelt, weshalb ich versuche mich den hiesigen Gewohnheiten anzupassen.
   Was zur Folge hat, dass ich mich nun ebenfalls grimmig dreinblickend durch die erdrückende Menschenmenge wühle.
   Es funktioniert, plötzlich werde ich wieder nahezu unsichtbar und kann mich unbeschwert einigen rührseligen Gedanken hingeben.
   In erster Linie geht es bei diesen Überlegungen immer noch um die vorweihnachtliche Nächstenliebe, die ich nirgendwo in meiner Nähe zu entdecken vermag.
   Zwar ist es recht warm für diese Jahreszeit, die Kälte in den Gesichtern all dieser Menschen lässt mich dennoch schaudern. Es sind Gesichter von Menschen, die nur an sich denken.
   Das verdirbt einem wirklich die vorweihnachtliche Stimmung.
   Wie können mir diese Egoisten so etwas antun?
Inmitten dieser Ansammlung menschlicher Gefühlskälte werde ich nachdenklich.
   Irgendwann erinnere ich mich an eine Situation, von der ich in der Zeitung gelesen hatte. Dabei ging es darum, dass Bono, ein politisch sehr aktiver Sänger einer Band namens U2, während eines Konzertes in Dublin rhythmisch in die Hände klatschte und seinen Fans erklärte, dass bei jedem Klatschen ein Kind stürbe. Irgendwann rief jemand aus dem Publikum, dass Bono unter diesen Umständen verdammt nochmal mit dem Klatschen aufhören solle.
Beim Lesen musste ich damals tatsächlich lachen, wobei mir das Lachen recht bald im Halse stecken blieb.
   Die Forderung dieses Zuschauers war einerseits intelligent - ein ironischer Hinweis auf ein bedeutungsvolles Problem unserer Gesellschaft, - andererseits war sie auch eine Spur zu zynisch, da es bei dieser Angelegenheit um das Sterben unschuldiger Kinder ging.
   Wir leben in einer naiven Welt, die leichte und schnelle Lösungen bevorzugt, ohne erdenkliche Konsequenzen zu bedenken.
Oftmals dienen diese fahrlässig halbherzigen Lösungsansätze nur dem Zweck unser Gewissen kurzfristig zu entlasten.
Wir unterschreiben einen Mobiltelefonvertrag inklusive Flatrate und leisten, wie eine Werbekampagne uns suggerieren will, einen Beitrag zur Meinungsfreiheit.
Wir schlucken einige Vitaminpillen und kompensieren damit unsere ungesunden Essgewohnheiten.
Und Bono muss lediglich vom Klatschen ablassen und das Kindersterben hört weltweit auf.
   Leider stand in dem Artikel nicht, wie Bono auf den Zwischenruf reagiert hatte. Ich hätte anlässlich dieser zynischen Äußerung vermutlich frenetisch Beifall geklatscht um dem Sarkasmus dieses Zuschauers auf eine ähnlich zynische Weise entgegenzutreten.
   Falls ich dazu überhaupt den Mut gehabt hätte. Vermutlich wären die Skrupel stärker gewesen als der Zyniker in mir.
   Doch war dieser Zwischenruf möglicherweise eine scharfsinnige Kritik, die auf seine zwar spöttische aber auch aufrichtige Weise die Menschen zum Nachdenken bewegt.
   Bonos scheinbar todbringendes Händeklatschen wäre den Medien keine einzige Meldung Wert gewesen, sofern dieser vermeintliche Zyniker seinerzeit nicht die besagte Forderung in Richtung Bühne gerufen hätte.
   Völlig in derartige Gedanken versunken entdecke ich links von mir den EC-Automaten meiner Bank.
Eigentlich hatte ich geplant ein wenig Geld abzuheben. Eingekeilt in einer gewaltigen Menschenmenge ist es manchmal gar nicht so einfach ein nur wenige Meter entferntes Ziel zu erreichen. Unerbittlich schleift mich der Menschenstrom mit sich und der Geldautomat entfernt sich, bis er letzten Endes hinter dieser gewaltigen Herde aus Menschen verschwindet.
   Nach einer Weile verliere ich die Lust gegen die Massen anzukämpfen und lasse mich erneut treiben.
   Überdies sind in meinem Portemonnaie noch einige Euro übrig und im Grunde habe ich auch nicht vor mir noch etwas zu kaufen. Das Parkticket kann ich wiederum mit meiner EC-Karte bezahlen.
   Irgendwann schaffe ich es tatsächlich mich aus dem Zentrum des Menschenflusses ans rettende Ufer am Rand der Fußgängerzone anschwemmen zu lassen.
   Erleichtert nutze ich diese neuerliche Freiheit um mich am Menschenstrom vorbeizuschmuggeln, indem ich einfach den Schleichweg hinter den Ständen des Weihnachtsmarktes nutze. Dieser inoffizielle Weg hat den Nachteil, dass er nicht sonderlich weihnachtlich riecht.
   Während es jenseits dieses saisonbedingten Trampelpfades nach Zuckerwatte, Maronen, gebrannten Mandeln und Glühwein duftet, stinkt es hier penetrant nach dem Harn unzähliger Menschen.
   Dafür kommt man auf diesem urinverseuchten Weg ungemein schnell voran. So dauert es auch nicht lange, bis ich endlich die Einkaufszone erreiche, in der sich das Parkhaus befindet, in dem ich meinen Wagen geparkt habe.
Auch hier nutze ich die weniger überfüllten Randbereiche.
   Die wiederum haben gegenwärtig den Nachteil, dass sich dort all jene befinden, die nach dem Inhalt meiner Brieftasche gieren.
   Damit meine ich jene riesige Legion Spendensammler, die im Namen des moralischen Imperativs versuchen Spendengelder für irgendeine wohltätige Einrichtung einzusammeln, nicht selten aber auch für weitaus weniger selbstlose Zwecke.
Selbst wenn es unter all diesen Sammlern gewiss viele gibt, die ehrliche Absichten haben, kann ich nicht mein ganzes Gehalt für Spenden verprassen. Das Überleben wird hierzulande immer teurer und dieses Jahr muss ich schon auf meinen Winterurlaub verzichten.
   Wer weiß, wie sich die Inflationsrate die nächsten Monate entwickelt?
   Da bleibt nicht einmal mehr genug übrig um zweimal im Jahr in den Urlaub zu fahren oder gar wohltätig zu werden.
   Heutzutage bekommt man zudem nichts für seine Spende, überhaupt nichts.
In früheren Jahrhunderten konnte man sich mit Hilfe von Ablässen Sünden erkaufen. Das war keine Spende, sondern ein knallhartes Geschäft. Indem man der Kirche ein wenig seines Geldes spendete, arrivierte man moralisch zum ehrenwerten Mensch, dem seine Sünden verziehen wurden - ziemlich einfache Lösung, sie würde nahezu perfekt in unsere Zeit passen.
   Einer, der weniger vermögend war, oder der unter Umständen einfach geizig war, erhielt nun jenen Platz im Fegefeuer, der eigentlich für einen swlbst bestimmt war. In der heutigen Zeit erspart nicht einmal die Kirchensteuer einem das Fegefeuer, da hilft es auch nicht über die finanziellen Mittel zu verfügen.
   Für säkulare Spenden erhält man sogar bestenfalls ein Lotterielos, doch selbst das ist nur der Ausnahmefall.
   Zumeist ist nicht einmal ein Los drin und man darf sich glücklich schätzen, falls man zum Dank ein Lächeln des Spendensammlers ergattert.  
   Daher spende ich nur selten.
   Wie die meisten Menschen entwickle ich eine enorme Kreativität, wenn es darum geht eine Ausrede zu finden um nicht spenden zu müssen.
   Manchmal erwischen einen die Spendensammler allerdings doch, weshalb ich immer sehr wachsam bin, sobald ich irgendwo einen Spendenaufruf erblicke.
   Vorsichtige gehe ich daher in diesem Augenblick einem Mann mit einem Lama aus dem Weg.
Ein Schild, das er sich umgehängt hat, weist darauf hin, dass er für Zirkustiere sammelt.
   Weil ich kein großer Freund der Tierbändigerzunft bin, habe ich auch kein schlechtes Gewissen, dass ich nicht spende.
   Es ist übrigens durchweg das schlechte Gewissen mit dem man uns immer wieder zu Fall bringt.
   Tiere und kleine Kinder eignen sich hervorragend um uns ein schlechtes Gewissen einzureden und damit zum Spenden zu verleiten.
Was mir wiederum verdeutlicht, dass jemand, der mit Kindern oder Tieren um Spenden wirbt, anders kann man diese Maßnahme nicht nennen, mit Vorsicht zu genießen ist.
Vor allem immer dann, wenn diese Kinder oder Tiere bibbernd vor Kälte und pitschnass neben dem Spendensammler stehen.
   Es ist kein Zufall, dass Tierschutzorganisationen bevorzugt mit Tieren werben, die etwas babyartiges an sich haben, oder sogar direkt mittels Fotografien von Tierbabys um spenden bitten.
Selbst Menschenrechtsorganisationen nutzen eher die Identifikation mit einem unschuldigen Kindergesicht, als mit dem notleidenden Antlitz eines Erwachsenen.
„Spendet für diesen armen hässlichen alten Knacker mit der unappetitlichen Warze auf der Nase, der in einem derart korrupten Staat lebt, dass ihm ihre Spende vermutlich direkt wieder abgenommen wird, weil sein Präsident, den dieser hässliche alte Knacker übrigens aus Ermangelung an Alternativen selbst gewählt hatte, Geld für die Fettabsaugung seiner Gattin benötigt.
Spenden sie bitte auch für dieses verwahrloste Tier, von dem wir nicht besonders viel wissen, außer dass es ausgesprochen dämlich und selten ist, und dass es sich von süßen Tierbabys ernährt“, das wäre ein Spendenaufruf, der ehrlich wäre.
   Doch wer würde daraufhin etwas spenden?
   Ich nicht, soviel sachliche Rationalität besitze ich nicht.
   Wir Menschen treffen unsere Entscheidungen größtenteils im Sinne emotionaler Bedürfnisse.
Um auf solch einem Spendenaufruf völlig objektiv zu reagieren, muss man entweder ein emotionsloses Reptil sein, oder man ist selber ein hässlicher alter Kauz mit Warzen, der sich zudem womöglich sogar von Tierbabys ernährt, und man empfindet eine gewisse Solidarität mit dieser Person. Dennoch wäre auch eine derartige Motivation nicht frei von dem Wunsch nach Erfüllung emotionaler Bedürfnisse.
   Eine andere Möglichkeit wäre selbstverständlich die, dass man der heimliche Liebhaber der Präsidentengattin ist.
Allerdings kann von gefühlsmäßiger Objektivität auch in diesem Fall keine Rede sein.
Jedenfalls wären derart ehrliche Spendenaufrufe für mich ungefährlich.
   Allen anderen gehe ich aus dem Weg, was zur Weihnachtszeit dagegen immer schwieriger ist, als den Rest des Jahres.
   Genau das tue ich gerade freundlich lächelnd, nämlich einer Frau mit einem Kind im Arm aus dem Weg gehen, die versucht mir mein letztes Bargeld abzuknöpfen.
Sie nutzt die Taktik der Wiederholung - in der Werbung sehr beliebt wegen ihrer Durchschlagskraft - indem sie viele male auf sehr herzzerreißende Weise sagt:    
   „Bittebittebittebitte!“
Ich ignoriere die Rabenmutter und habe auch überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei.
Hilfreich ist auch, dass der Blick des kleinen Kindes in ihren Armen, weitaus abgebrühter wirkt, als der vieler unserer Politiker.
   Andererseits passt der Blick dieses Knaben hervorragend in dieses Klima aus bitterer Kälte.
   Der Sprühregen hatte sich unauffällig aus dieser Realität hinausgestohlen und offenbart der Welt dafür eine weitaus glitschigere und unangenehmere Realität, die zudem noch bitterkalt ist.
   Die Temperaturen sind seit einigen Minuten erheblich gesunken.
   Das diesige Rieseln hatte etwas von einem Nebel, der schützend eine unangenehme Wahrheit überzogen hatte und sie niederdrückte, samt ihren weltlichen Geräuschen.
   Aber auch viele der Spendensammler hatte das Nieseln zum Rückzug gezwungen.
   Nun tauchten sie überall wieder auf. Wo sie während des Regens waren, bleibt wohl ein großes Geheimnis dieser Zunft. Gleichermaßen wie die Antwort auf die Frage, wo sie sich in all jenen Jahreszeiten aufhalten, in denen der moralische Imperativ weitaus weniger Macht besitzt. Fast das gesamte Jahr haben wir Ruhe, plötzlich, immerzu kurz vor Weihnachten, schlägt der moralische Imperativ erbarmungslos zu und zerrt uns aus unserer bequemen Erholungsphase der Ichbezogenheit.
   Weihnachten ist immer die Zeit, in der viele Organisationen darum bemüht sind uns ein schlechtes Gewissen einzureden.
   Offensichtlich macht uns der moralische Imperativ zu dieser Zeit empfänglicher für Appelle an unser Gewissen.
Viele unseriöse Kreise nutzen diese saisonale Schwäche um für ihre eigenen Belange zu werben. Spenden sind im Grunde das moderne Pendant des Ablasses, nur dass man mittels Spenden lediglich das eigene Gewissen beruhigt und man sich nicht vom Fegefeuer freikaufen kann.
   Daher lohnt es sich nicht zu spenden, wie ich finde.
   In dieser Einkaufspassage kann ich mit einigem Geschick solchen Spendenappellen aus dem Weg gehen. Zu Hause ist dies schon schwieriger.
Denn auch die hausierenden Spendensammler nutzen die Gunst des moralischen Imperativs während der dunklen Monate.
   Es fällt auf, dass man insbesondere in der Vorweihnachtszeit vermehrt Besuch von all diesen Bibelgruppen, Religionsvereinigungen und bizarren Sekten bekommt, die uns mit unangenehmen Fragen behelligen wie die, ob wir an Gott bzw. an das Gute im Menschen glauben, oder ob wir unser Fernsehgerät schon angemeldet haben.
   Für gewöhnlich pflege ich dann immer zu fragen, ob es mir das Fegefeuer erspart, falls ich mein Fernsehgerät anmelde. Laut einem Angehörigen dieser sonderbaren Sekte tut es das übrigens wirklich. Diesbezüglich bin ich immer noch skeptisch, insbesondere, da ich überhaupt keinen Fernseher besitze und somit nicht einmal die Möglichkeit habe mich auf diese Weise vom Fegefeuer freizukaufen. Vielleicht erspart es mir nicht das Fegefeuer, dafür aber ein gleichsam schreckliches Fernsehprogramm.
   Einen Fernseher benötige ich übrigens nicht, nicht einmal um mir das Fegefeuer zu ersparen.
   Wichtige Informationen entnehme ich dem Internet oder den Tageszeitungen.
Beispielsweise die Wettervorhersage, die übrigens heute Recht behält mit ihrer Prognose, denn es wird tatsächlich immer kälter.
   Leider schloss der Wetterbericht auch aus, dass es in den nächsten Tagen schneien wird.
Ganz will ich die Hoffnung auf weiße Weihnachten immer noch nicht aufgeben, obwohl es nicht danach aussieht. Immerhin ist die aufkommende Kälte eine gute Voraussetzung für Schnee. Aus diesem Grund werte ich die Kälte als etwas Gutes, auch wenn sie sich im Augenblick ausgesprochen unangenehm anfühlt.
   Dieser unangenehme Aspekt der Kälte sollte Spendensammler eigentlich abschrecken, tut er aber nicht. Immer mehr Bittsteller stellen sich mir in den Weg, was mir einen wahren Slalomlauf abverlangt.
   Ich bleibe wachsam.
   Bis zum Parkhaus sind es lediglich noch hundert Meter, doch gerade als ich mich schon in Sicherheit wiege, erwischt mich der nicht sonderlich dezente Spendenappell eines Cracksüchtigen. Im Gegensatz zu all den anderen Spendensammlern, bietet er mir allerdings eine Gegenleistung an.
   Bedacht öffnet er seinen schmuddeligen Trenchcoat und erkundigt sich:
   „Interesse? Nur fünf Euro.“
Ich prüfe das Angebot etwas ausgiebiger und denke tatsächlich darüber nach.
Doch trotz der Gegenleistung weiß ich, dass dieser Mensch meine Spende vermutlich für Drogen verprassen wird.
Andererseits ist es keine Spende, da ich eine Gegenleistung dafür beziehe, was mich sonderbarerweise irgendwie beruhigt, warum auch immer? Ich sehe noch einmal genauer hin und behaupte:
   „Du wirst das Geld vermutlich für Drogen ausgeben.“
Der Crackjunkie schüttelt vehement verneinend den Kopf, aber auf eine auf Art und Weise, die überall auf der Welt als verkapptes „Ja“ akzeptiert wird.
   Ich denke eine Weile nach und willige schließlich ein.
   Obwohl ich kein U2-Fan bin, werde ich diese CD erwerben. Immerhin setzt sich der Sänger dieser Band für das Leben von solchen Kindern ein, die in großer Armut aufwachsen.
   Sichtlich erleichtert zieht der Drogensüchtige die Ware aus einer speziellen Vorrichtung, mit deren Hilfe er offenbar seine gesamte CD-Sammlung mit sich schleppt und die in seinem Trenchcoat eingenäht ist.
   Ich gebe ihm meine letzten fünf Euro, die mit Sicherheit lediglich dem Zweck dienen das erbärmliche Leben dieses armen Kerls noch weiter zu ruinieren, und erhalte dafür die gebrauchte CD einer Band, die mir nicht einmal gefällt.
   Und die mir daher auch eigentlich keinen Nutzen einbringt.
   Aber was solls? Es ist schließlich bald Weihnachten und da erweicht einem das Herz schon viel eher als dies ansonsten der Fall ist.
Um in das Parkhaus zu gelangen muss ich ein Stück weit einen schlecht beleuchteten Gang durchqueren.
Auch hier haben sie einige Spendensammler eingefunden.
Geschickt weiche ich einem Stadtstreicher aus, der mir eine dieser Obdachlosenzeitungen andrehen will.
   Ich schlage einige raffinierte Haken und kann mich erfolgreich des Spendenapells eines Tierschützers erwehren.
Letztendlich umgehe ich sogar das Spendengesuch eines Weihnachtsmannes, der für den Klimaschutz sammelt, schließlich sei auch seine Heimat in Gefahr.
   Mich interessiert in diesem Augenblick weder der Weihnachtsmann noch der Nordpol.
   Mein Gewissen ist vorerst rein, immerhin hatte ich an diesem Tag schon meinen selbstlosen Beitrag im Namen der Barmherzigkeit geleistet.
   Ich habe eine CD gekauft, die ich nicht benötige.
Von meiner eigenen vorweihnachtlichen Anteilnahme und den erfolgreichen Ausweichmanövern beschwingt, schreite ich in bester Laune die wenigen Meter bis zum Parkhaus.
Eigentlich kann mir jetzt nichts mehr die Laune verderben.    
   Eigentlich!
   Direkt vor dem Eingang des Parkhauses werde ich nämlich doch noch von einer weiteren Spendensammlerin angesprochen. Es ist ein blöder Zufall, dass ich in ihre Fänge gerate, denn in Wirklichkeit hoffe ich, als mich diese junge und ungemein attraktive Dame anspricht, dass sie sich für meine Person interessiert.
Leider sammelt sie lediglich für ein Hilfswerk, das sich um verwaiste Kinder in Afrika kümmert.
   Völlig unverhofft merke ich, wie ich in eine weitere Falle zu tappen drohe.
Während diese bezaubernde Spendensammlerin mit ihrer sanften Stimme von den Projekten und Problemen dieses Hilfswerks berichtet, stelle ich fest, dass ich mich gerade über beide Ohren in sie verliebe. Ich beobachte betört diese vollen roten Lippen inmitten dieses blassen wunderhübschen Gesichts und höre fern meiner bewussten Wahrnehmung Dinge wie Hungertod, Kindersoldaten, Massenvergewaltigungen und HIV-Infizierte, und bin bereit diesem anmutigen Engel jeden Wunsch zu erfüllen. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich, dass ich ihr den gesamten Inhalt meiner Geldbörse spenden werde.
   Während dieser Schutzengel afrikanischer Waisenkinder leidenschaftlich über Cholera referiert, erinnere ich mich an den misslichen Umstand, dass ich mit meinen letzten fünf Euro kürzlich den Rausch eines Crackjunkies subventioniert habe.
   Dennoch kann ich nicht anders als mich weiterhin von dieser jungen Frau über ihr wohltätiges Anliegen informieren zu lassen, auch wenn keiner ihrer Sätze tatsächlich bis zu meinem Bewusstsein vordringt. Es ist wie ein Zwang, verursacht von der bitteren Furcht diese wunderschöne Frau nie wieder zu sehen.
Hätte ich bloß diese fünf Euro nicht für eine CD vergeudet, die mir vermutlich nicht einmal gefällt. Ich will ihr gerade meine ungünstige Lage erklären, als sie mir zuvorkommt und beteuert:
   „Lediglich fünf Euro retten schon das Leben eines Kindes für einen ganzen Monat.“
   Ach du meine Güte, sagte sie gerade fünf Euro würden das Leben eines Kindes retten? Falls ich ihr nun erzähle, dass ich meine letzten fünf Euro für die CD einer Band verschwendet habe, die ich zwar nicht mag, deren Sänger sich aber für die gleichen Belange einsetzt wie sie, dann hält sie mich nicht nur für einen verlogenen Geizkragen, sondern auch für einen gewissenlosen Zyniker.
Dass das Geld zudem den Drogenkonsum eines bedauernswerten Menschen fördert, zeugt gewiss auch nicht gerade von meiner wohltätigen Ader.
   Aber ich bin fest entschlossen zu spenden.
   Immerhin ist es ja nicht so, dass ich es mir nicht leisten könnte mein Gewissen auf diese Weise von entsprechenden Bissen freizukaufen, sondern es mangelt mir lediglich an Bargeld. Auf meinem Konto ist ausreichend Geld um großzügig zu spenden und sogar genug um für diesen atemberaubenden Engel einen Verlobungsring zu erstehen. Niemals darf ich ihr die Wahrheit sagen, selbst dann nicht, falls wir tatsächlich irgendwann einmal heiraten.
   Um nicht ganz so blöd dazustehen, erkundige ich mich bei ihr stattdessen nach dem nächsten Geldautomaten. Sie zuckt unwissend mit den Schultern.
Ich dagegen verspreche ihr gleich zurück zu sein und hetze wie ein Kurzstreckenläufer davon und suche verzweifelt nach einem EC-Automaten. Eigenartigerweise findet man ausgerechnet in Einkaufszonen nur sehr selten einen Geldautomaten, was meinen spontan aufkeimenden Hochzeitsplänen selbstverständlich nicht gerade entgegenkommt.
In einer Seitenstraße werde ich erst eine Viertelstunde später fündig und hebe einen größeren Betrag ab.
   Als ich wieder am Eingang des Parkhauses stehe, ist die Liebe meines Lebens jedoch verschwunden, wie ich betrübt feststellen muss.
   Der jüngst zurückgehehrte Nieselregen hatte sie vermutlich vertrieben.
Stattdessen steht dort nun ein hässlicher alter Knacker mit einer unappetitlichen Warze auf der Nase und bittet um Spenden für das gleiche Hilfswerk, für das auch meine Angebetete vor einigen Minuten noch Geld sammelte - nur tat sie dies auf eine wesentlich anmutigere Weise als dieser Rentner mit der Warze. Ich frage den Mann in einem für meine Verhältnisse sehr unfreundlichen Ton:
   „Wo ist die hübsche Frau hin, die gerade noch an ihrer Stelle stand?“
   „Sie ist schon auf den Weg nach Hause. Ich bin die Ablösung. Hatten sie vor das Leben eines Kindes retten? Das können sie auch bei mir tun.“
   „Wie heißt diese Frau?“
   „Das weiß ich wirklich nicht“, versichert der alte Mann.
   „Warum wissen sie das nicht? Sie haben sie doch abgelöst und sie arbeiten für dieselbe Organisation.“
   Der Mann reibt einige Sekunden andächtig an seiner Warze herum und sagt:
   „Ja sicher, aber diese Organisation hat viele tausend Mitglieder. Wir wurden von der Organisation den jeweiligen Standorten zugeteilt. Da ist es nicht selbstverständlich, dass man jeden kennt.“
   Ich fluche ein wenig leise vor mich hin und will gerade gehen, als mich der alte Mann fragt:
   „Wollen sie nun das Leben eines Kindes retten?“
   „Was bekomme ich dafür?“, will ich schließlich schlecht gelaunt wissen.
   „Das gute Gefühl einem hilflosen Kind geholfen zu haben“, erwidert der Alte.
Ich bin wütend über mein eigenes Schicksal und habe in diesem Augenblick kein Ohr für das Unglück Anderer. Daher schnaufe ich verächtlich:
   „Ich habe heute schon an einen Crackjunkie gespendet, das reicht.“
Offensichtlich ist der alte Spendensammler solch unhöfliche Reaktionen gewohnt, denn er reagiert mit einer freundlichen Gelassenheit, die mir wiederum einige Gewissensbisse beschert.
   Der schwache diesige Regen gewinnt ein wenig an Substanz und entwickelt sich langsam zu einem richtigen Regen.
Dennoch harrt der alte Mann mit der Warze auf der Nase tapfer aus. Dieser Anblick versetzt mir einen herben Stich ins Herz.
Doch irgendwie ist mir immer noch nicht nach Spenden zumute. Ich weigere mich diesem moralischen Imperativ der Adventszeit zu unterwerfen.
Vermutlich werde ich aber auch nach Weihnachten dieser Organisation nicht einen Cent spenden, da ich sie bis dahin längst vergessen habe - ein evolutionärer Schutzmechanismus geiziger Menschen.
   Als ich an diesem Abend missmutig damit beginne eine Flasche Rotwein zu leeren und mir dabei die CD von U2 anhöre, die mir übrigens immer noch nicht gefällt, regnet es immer noch. Meine Laune ist ziemlich getrübt.
Nun habe ich nicht nur den Eindruck, dass mir die Liebe meines Lebens entglitten ist, sondern auch, dass ich wegen lächerlicher fünf Euro ein Kind sterben ließ.
   Nachdenklich blicke ich aus dem Fenster. Es schneit leider nicht, stattdessen sorgt ein unbarmherziger Dauerregen für eine finstere Atmosphäre.
Autos fahren rauschend durch graue Pfützen und erzeugen ein Gefühl der Leere in mir.
Ich müsste den Abend nicht alleine verbringen, falls das Leben nur ein klein wenig gerechter wäre.
Außerdem stört es mich, dass meine Hoffnung auf Schnee verflogen ist. Das ist also die vielgerühmte Zeit der Nächstenliebe.
   Kein Schnee, ein gebrochenes Herz und eine stille Selbstanklage wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge, so sollte kein Abend in der Vorweihnachtszeit enden.
Mit jedem Glas Rotwein wächst in mir das Gefühl, dass mir ein grausam zynisches Schicksal Beifall klatscht. Ich will es ihm gleichtun. Immerhin habe ich die fünf Euro gespart und somit steht mir weiterhin ein Klatschen zu.
Aber irgendetwas zutiefst Moralisches in meiner Gemütswelt verbietet es mir zu klatschen.
Ich verzichte somit großzügig auf dieses unlängst erworbene Recht.
   Eigentlich spielt es keine Rolle. Auch wenn ich nicht klatsche stirbt in diesem Augenblick irgendwo auf dieser Welt ein Kind. Nur fühle ich mich heute erstmals für eines davon verantwortlich.  
Ich nenne das Kind Samy.
Keine Ahnung warum ich das tue, vielleicht eine unterschwellige Neigung zum Masochismus.
Der moralische Imperativ der Weihnachtszeit hat wieder einmal unbarmherzig zugeschlagen.
Für das kommende Jahr bin ich gewappnet. Vorerst gilt es indes Samys fiktive Leiche inmitten meines Gewissens zu finden und zu bergen.
Um sie schnellstmöglich zu Grabe zu tragen, bevor sie zu faulen beginnt. Ob fünf Euro noch reichen werden, nach all dem was ich diesem weit entfernten Kind angetan habe?
Vermutlich nicht.
Ich werde wohl oder übel zehn Euro spenden müssen.
Macht aber nichts, schließlich ist bald Weihnachten - diese abscheulich kostspielige Zeit des moralischen Imperativs.

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