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Ich kann nicht klagen


 
 
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host
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Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


H
Beitrag01.10.2017 02:27
Ich kann nicht klagen
von host
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ich kann nicht klagen 

   Seltsam, jahrelang lebt man so dahin, geht spazieren, macht seinen Job, trifft Freunde. Abends sitzt man mit der Familie vor dem Bildschirm und merkt nichts, gar nichts. Alles scheint in Ordnung, friedlich und ruhig. Das Leben bewegt sich beständig dahin, ein anderes wollte ich nicht. 
   Es begann wohl vor einigen Monaten, Jahren vielleicht, kaum spürbar. Wie unreine Haut Poren zu schließen vermochte und über viele Tage hinweg darunter unbemerkt kleine Pickel wachsen konnten, so drang etwas Unbestimmtes in meine Welt. Und auf einmal war es wie selbstverständlich da: eine ständige kleine Unruhe, eine Verlagerung der Wahrnehmung, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Das Selbstverständliche, das Vertraute in den alltäglichen Dingen ging verloren. Fremd wurden mir die übertriebenen Begrüßungsrituale, die Küsschen schienen mir aufgesetzt und hohl. Seit ein paar Wochen schon nickte ich Bekannten nur noch kurz zu und drehte mich wie beiläufig zur Seite, um ein Gespräch zu vermeiden. Nur noch selten verabredete ich mich mit meinen Freunden; es war anstrengend geworden, mich mit ihnen zu unterhalten. Unsere kürzer geratenen Bemerkungen streiften dieselben Themen wie früher, Wetter, Politik, die Arbeit. Das war es nicht! Auch der Klatsch blieb sich gleich, nur lachten wir weniger. Private Gespräche wurden mir immer lästiger. Körperberührungen, gerade die beiläufigen und zufälligen, erlebte ich zunehmend als unangenehme Momente. Unvorbereitete Augenkontakte waren ärgerlich, gerade wenn ich ein berufliches Gespräch führen musste. Neuerdings kam ich manchmal ins Stottern. Ich überspielte diese Peinlichkeit, es fiel kaum auf. Natürlich ging ich mehr und mehr anderen aus dem Weg. Oder war es umgekehrt? 
   Meine Frau hat gerade die Tür geschlossen. Das Geräusch klang gedämpft wie in Watte gepackt. Sie läuft in kleinen Schritten an meinem Fenster vorbei, den Mantel hoch gezogen, die Arme verschränkt. Sie schaut nicht auf; ich habe gar nicht bemerkt, dass sie noch zuhause war. Ach ja, mein Sohn, er wohnt nicht mehr bei uns, er müsste mit dem Studium fertig sein. Hatte er nicht geheiratet? Ich erinnere mich, früher zerrte ein zähes Unbehagen an mir, wenn ich an ihn dachte, eine Mischung aus Sorge und Schuld. Diese Empfindung ist verschwunden. Es kommt mir vor, als sei sie mehr und mehr ausgetrocknet. 
   Was ist geschehen? Fühle ich ein Erschrecken, beunruhigt mich mein Empfinden? Nein! Ich spüre keine Angst und keinen Ärger. Eher rührt sich ein kleines, ein erwartungsvolles Sehnen; es dreht meinem Kopf zur Seite, als ob es von hinten käme und mich einwickeln wollte - wie ein unscheinbares, heimliches Versprechen. 
   Vielleicht haben die Veränderungen mit meinem Kopf zu tun; es klíngt seltsam und verrückt - ich weiß, aber ich meine es so. Mein Kopf hat sich verändert. Im geöffneten Fenster spiegelt sich mein Gesicht, es zeigt wenig Konturen, hebt sich kaum merklich vom Hintergrund ab und wirkt verblasst wie ein verwaschenes weißes Laken. Die Augenöffnungen sind groß gezogen, die Augäpfel selbst aber liegen versteckt und versunken in ihrer Höhle. Spitze Knochen drücken sich gegen die dünne, bleiche Haut der Wangen. Die Ohren sind inzwischen so geschrumpft, dass sie selbst hinter meinen letzten, wenigen Haarresten zu verschwinden scheinen. Und erst der Mund, dünne Oberlippen, dünne Unterlippen, die Mundwinkel verlieren sich unmerklich in den Wangen. Die Zähne treten hervor, sie schimmern gelblich und fleckig. Einige habe ich in letzter Zeit verloren, sie fielen einfach aus. 
   Manchmal schaute ich mir auf der Straße, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, andere Menschen an. Sie wirkten auf mich – ich kann es nicht anders ausdrücken – hölzern und ungelenk. Die Hosen schlackerten ihnen um die Beine. Fast jeder trug jetzt eine Mütze, eine Kapuze oder ein Tuch über den Kopf; die Gesichter, weißgraue Schatten, die Mimik versteckt, eingeschränkt und abgelegt. Gespräche waren kaum noch zu vernehmen. Und seltsam, jeder schien nur noch einzeln und alleine unterwegs, keine Pärchen, keine Gruppen waren zu sehen. Nur einmal in letzter Zeit konnte ich beobachten, wie eine Mutter - ihr Haar hing in dünnen Fäden unter einer altmodischen Haube herab - zusammen mit ihrem Kind hastig über die Hauptstraße rannte. Sie zog die blasse Kleine widerstandslos wie einen halbverhungerten Hund an der Leine hinter sich her. Überhaupt fällt mir jetzt auf, dass ich schon lange keine Frauen mehr in Röcken oder Kleidern gesehen habe. Alle tragen sie diese merkwürdigen weiten Hosen. Zunehmend habe ich Schwierigkeiten, Männer und Frauen auseinanderzuhalten. Aber ist das wirklich wichtig? 
   Um ehrlich zu sein, auch meine Hosen flattern um die Beine, und überhaupt habe ich etwas abgenommen. Essen mag ich nur ungern, immer diese großen Portionen, die man nicht schaffen kann, und dieser fade Geschmack. Allmählich fallen mir auch die letzten Haare aus. Es stört mich nicht. Meine Haut fühlt sich trocken, rau und brüchig an, als sei sie aus alter, mürber Pappe. Meine Fingergelenke sind knotig und dick geworden, und erst gestern habe ich wieder zwei Zehennägel verloren. Ich bemerkte es erst, als ich abends meine Strümpfe auszog und die Nägel mir entgegen fielen. Als ich auf meine Füße schaute, fand ich die Großzehen rissig und ganz schwarz verfärbt. Ich brauche mich auch nicht mehr zu rasieren, es wachsen mir nur noch einzelne Stoppeln. Und die kann ich leicht mit den Fingerspitzen herausziehen, ohne dass es weh tut. Es ist kein unangenehmes Gefühl. 
   Eigentlich geht es mir gut.





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Herr N.
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 293
Wohnort: Augsburg


Beitrag01.10.2017 12:32

von Herr N.
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hi host,

es ist schon komisch. ich quäle mich gerade durch den 'ekel' von sartre und dann lese ich dein kleines stück, in dem ich doch starke ähnlichkeit erkenne (sprachlich - ob gewollt oder nicht - weiß nur der autor)

im grunde lese ich hier das hadern des ich-erzählers, der mit seinem verfall, dem älter werden insgesamt zu kämpfen hat, dem das unbekannte, nicht-alltägliche im leben fehlt. stumpf kommt ihm nun die umgebung vor, fast scheint es, als wünschte er sich in eine jüngere version von sich selbst zurück.
leicht surreal-elementig wird der verfall auch durch den organischen zerbruch des ich erzählers verbildlicht. meiner meinung nach fehlt hier am ende aber die konklusio, die dem ganzen eine rundung verpasst. ein wenig bröckelt es so vor sich hin um dann in einem mmn doch recht lapidaren 'eigentlich geht es mir gut' zu münden. da hätte ich mir mehr wut, mehr schroffheit gewünscht - denn die 'probleme' die das erz-ich vorher hat, überwiegen meiner meinung nach zu sehr, als dass ihm die erkenntnis, dass man jetzt haare schlicht durchs hinausziehen entfernen kann genügen würde um im grunde doch alles dufte zu finden.

sprachlich gelingt dir vor allem der einstieg gut, allerdings würde ich darüber nachdenken den text nur im präsens abzufassen; würde das erleben auch direkter machen, mmn. die sprunghaftigkeit in tempus reißt mich ein ums andere mal raus.

eine frage hätte ich: ist dies ein fragment aus einer längeren erzählung, oder eine in sich geschlossene sache?
edit: sehe die klassifizierung - die frage erübrigt sich also --- aber horror? bist du dir sicher?

lg
n.


_________________
Das Herrliche:
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host
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Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


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Beitrag03.10.2017 17:53

von host
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Hallo und
Hallo Herr N..

Zur Zeitform der Erzählung:

Der Protagonist beobachtet jetzt und reflektiert jetzt (deswegen Präsenz) und erinnert sich an vergangenes Geschehen und Gedanken (deswegen an diesen Stellen Präteritum). Eine einheitliche Zeitform würde diesen Unterschied nivellieren. So dachte ich bisher. 
Aber ein ungutes Gefühl blieb mir. Dein Einwand bezüglich der Zeit fällt also durchaus auf fruchtbaren Boden. Und wirklich, beim Nachlesen konnte ich deinen Einwand der Sprunghaftigkeit gut verstehen und nachvollziehen. 
Also zurück zu den Basics. Ich habe eine Erzählung geschrieben, die mit einer Icherzählfunktion funktioniert. Warum also sollte ich dann nicht auf das Präteritum setzen. Die Erzählweise mag vielleicht an einen inneren Monolog erinnern, da der Erzähler von seinen Empfindungen und seinen Reflektionen berichtet. Aber prinzipiell könnte die Geschichte auch in der Er-Form funktionieren. Das Zeitform Präsenz, die ein Innerer Monolog nahe legen würde, scheint mir nicht nötig. 
Also habe ich jetzt die Erzählung ins Präteritum transponiert. Die Unterscheidung von Erinnerungen und Reflexionen wird durch den Kontext genügend deutlich, und muss nicht durch wechselnde Zeitformen kenntlich gemacht werden. Vielleicht gehen jetzt Feinheiten flöten, aber der Erzählfluss ist eindeutig wichtiger. Da nehme ich deinen Einwand sehr ernst.

Zum "Horror": ich fand unter den Vorgaben keine passende Charakterisierung meiner Geschichte - und irgendwas sollte ich doch wählen, oder? Es war eine Art Protestwahl.

Zum Ende: ich wollte keinen Knalleffekt oder gar eine Wende, sondern ein blutleeres Auströpfeln zum Ende hin. Das Schroffe ist dem Protagonisten schon längst entwichen. Ebenso die Sehnsucht.

Zu Sartre: den habe ich wie viele als junger Mensch gelesen und vieles kam mir vertraut vor. Aber nein, es gibt keinen von mir intendierten Zusammenhang.
(Du sagst, du müsstest dich durch den "Ekel" "quälen"! Bist du Lehrer?)

LG
host


____________

Jetzt die ins Präteritum getunkte Geschichte:


Ich kann nicht klagen

   Seltsam, jahrelang lebte man so dahin, ging spazieren, machte seinen Job, traf Freunde. Abends saß man mit der Familie vor dem Bildschirm und merkte nichts, gar nichts. Alles schien in Ordnung, friedlich und ruhig. Das Leben bewegte sich beständig dahin, ein anderes wollte ich nicht.    
   Es begann wohl vor einigen Monaten, Jahren vielleicht, kaum spürbar. Wie unreine Haut Poren zu schließen vermochte und über viele Tage hinweg darunter unbemerkt kleine Pickel wachsen konnten, so drang etwas Unbestimmtes in meine Welt. Und auf einmal war es wie selbstverständlich da: eine ständige kleine Unruhe, eine Verlagerung der Wahrnehmung, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Das Selbstverständliche, das Vertraute in den alltäglichen Dingen ging verloren. Fremd wurden mir die übertriebenen Begrüßungsrituale, die Küsschen schienen mir aufgesetzt und hohl. Seit ein paar Wochen schon nickte ich Bekannten nur noch kurz zu und drehte mich wie beiläufig zur Seite, um ein Gespräch zu vermeiden. Nur noch selten verabredete ich mich mit meinen Freunden; es war anstrengend geworden, mich mit ihnen zu unterhalten. Unsere kürzer geratenen Bemerkungen streiften dieselben Themen wie früher, Wetter, Politik, die Arbeit. Das war es nicht! Auch der Klatsch blieb sich gleich, nur lachten wir weniger. Private Gespräche wurden mir immer lästiger. Körperberührungen, gerade die beiläufigen und zufälligen, erlebte ich zunehmend als unangenehme Momente. Unvorbereitete Augenkontakte waren ärgerlich, gerade wenn ich ein berufliches Gespräch führen musste. Neuerdings kam ich manchmal ins Stottern. Ich überspielte diese Peinlichkeit, es fiel kaum auf. Natürlich ging ich mehr und mehr anderen aus dem Weg. Oder war es umgekehrt?    
   Meine Frau hatte gerade die Tür geschlossen. Das Geräusch klang gedämpft wie in Watte gepackt. Sie lief in kleinen Schritten an meinem Fenster vorbei, den Mantel hoch gezogen, die Arme verschränkt. Sie schaute nicht auf; ich war überrascht, dass sie noch zuhause war. Ach ja, mein Sohn, er wohnte nicht mehr bei uns, er müsste mit dem Studium fertig sein. Wollte er nicht heiraten? Ich erinnerte mich, früher zerrte ein zähes Unbehagen an mir, wenn ich an ihn dachte, eine Mischung aus Sorge und Schuld. Diese Empfindung war verschwunden. Es kam mir vor, als sei sie mehr und mehr ausgetrocknet.    
   Was war geschehen? Fühlte ich ein Erschrecken, beunruhigte mich mein Empfinden? Nein! Ich spürte keine Angst und keinen Ärger. Eher rührte sich ein kleines, ein erwartungsvolles Sehnen; es drehte meinem Kopf zur Seite, als ob es von hinten käme und mich einwickeln wollte - wie ein unscheinbares, heimliches Versprechen.    
   Vielleicht hatten die Veränderungen mit meinem Kopf zu tun; ich wusste, das klang seltsam und verrückt, aber ich meinte es so. Mein Kopf hatte sich verändert. Im geöffneten Fenster spiegelte sich mein Gesicht, es zeigte wenig Konturen, hob sich kaum merklich vom Hintergrund ab und wirkte verblasst wie ein verwaschenes weißes Laken. Die Augenöffnungen waren groß gezogen, die Augäpfel selbst aber lagen versteckt und versunken in ihrer Höhle. Spitze Knochen drückten sich gegen die dünne, bleiche Haut der Wangen. Die Ohren waren inzwischen so geschrumpft, dass sie selbst hinter meinen letzten, wenigen Haarresten zu verschwinden schienen. Und erst der Mund, dünne Oberlippen, dünne Unterlippen, die Mundwinkel verloren sich unmerklich in den Wangen. Die Zähne traten hervor, sie schimmerten gelblich und fleckig. Einige hatte ich in letzter Zeit verloren, sie fielen einfach aus.    
   Manchmal schaute ich mir auf der Straße, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, andere Menschen an. Sie wirkten auf mich – wie soll ich es  ausdrücken – hölzern und ungelenk. Die Hosen schlackerten ihnen um die Beine. Fast jeder trug jetzt eine Mütze, eine Kapuze oder ein Tuch über den Kopf; die Gesichter, weißgraue Schatten, die Mimik versteckt, eingeschränkt und abgelegt. Gespräche waren kaum noch zu vernehmen. Und seltsam, jeder schien nur noch einzeln und alleine unterwegs, keine Pärchen, keine Gruppen waren zu sehen. Nur einmal in letzter Zeit konnte ich beobachten, wie eine Mutter - ihr Haar hing in dünnen Fäden unter einer altmodischen Haube herab - zusammen mit ihrem Kind hastig über die Hauptstraße rannte. Sie zog die blasse Kleine widerstandslos wie einen halbverhungerten Hund an der Leine hinter sich her. Überhaupt fiel mir jetzt auf, dass ich schon lange keine Frauen mehr in Röcken oder Kleidern gesehen hatte. Alle trugen sie diese merkwürdigen weiten Hosen. Zunehmend hatte ich Schwierigkeiten, Männer und Frauen auseinanderzuhalten. Aber war das wirklich wichtig?    
   Um ehrlich zu sein, auch meine Hosen flatterten um die Beine, und überhaupt hatte ich etwas abgenommen. Essen mochte ich nur ungern, immer diese großen Portionen, die man nicht schaffen konnte, und dieser fade Geschmack. Allmählich fielen mir auch die letzten Haare aus. Es störte mich nicht. Meine Haut fühlte sich trocken, rau und brüchig an, als wäre sie aus alter, mürber Pappe. Meine Fingergelenke waren knotig und dick geworden, und erst gestern habe ich wieder zwei Zehennägel verloren. Ich bemerkte es erst, als ich abends meine Strümpfe auszog und die Nägel mir entgegen fielen. Als ich auf meine Füße schaute, fand ich die Großzehen rissig und ganz schwarz verfärbt. Ich brauchte mich auch nicht mehr zu rasieren, es wuchsen mir nur noch einzelne Stoppeln. Und die konnte ich leicht mit den Fingerspitzen herausziehen, ohne dass es weh tat. Es war kein unangenehmes Gefühl.
   Ich schaute aus dem Fenster, faltete meine Hände und wartete auf das Knacken. Es ließ sich Zeit. Draußen war es menschenleer, niemand störte meine Sicht. War es denn schon dunkel geworden?  
   „Eigentlich geht es mir gut!“, dachte ich.



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Babella
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 61
Beiträge: 890

Das goldene Aufbruchstück Der bronzene Roboter


Beitrag04.10.2017 09:14

von Babella
Antworten mit Zitat

Da dies ja ein innerer Monolog ist, finde ich die Umwandlung ins Präteritum nicht so gelungen. Schon gar nicht mit einem "dachte ich". Das nimmt die ganze Authentizität, er denkt ja sowieso die ganze Zeit.

Für mich klingt das wie ein endendes Leben, und das kann man ja nicht aus dem jenseits erzählen, ich würde im Präsens bleiben und auch im Perfekt "ich habe schon lange keine Freunde mehr getroffen".

Es sei denn, dies ist ein Rückgriff, eine Erinnerung. Dann müsste das Wort "damals" auftauchen, damit man weiß, es wird aus einer anderen Zeit heraus erzählt.

Und, damit es echter wirkt, Namen einfügen. Wer das ist, erschließt sich schon. "Jens wohnt schon lange nicht mehr bei uns. Wollte er nicht heiraten?" Dann ist eigentlich klar, dass es sich um den Sohn handelt. Bei der Frau genauso, wer denkt schon an seine Frau als "meine Frau"? Und auch die Freunde mit Namen benennen, weil man so auch denkt. Lieber einen konkreten Vorfall schildern, bei dem jemand einem ausgewichen ist oder das Gespräch stockte.

Aus meiner Sicht würde der Text durch mehr Konkretes sehr gewinnen. Beklemmend und ergreifend ist er schon jetzt.
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Rainer Zufall
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 70
Beiträge: 801

Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag04.10.2017 09:33

von Rainer Zufall
Antworten mit Zitat

Hallo host, ganz kurz nur, weil ich im Moment zu wenig Zeit habe, aber ich gebe Babella Recht.
Auch ich finde das Präteritum nicht passend für die Prozesshaftigkeit, die Gegenwärtigkeit deiner Geschichte. Irgendwie zerstört es mir das alltägliche Grauen, das aus dem Geschehen und den Beobachtungen spricht.
 
Herr N hat ja nicht das Präses an sich beklagt, sondern das Sprunghafte der Zeitformen. Und daran ließe sich doch was machen. Du bist beispielsweise manchmal ins Perfekt gewechselt, wo es aus meiner Sicht nicht sein müsste. Ich habe nachher Zeit und würde das gerne am Beispiel, also am Text selbst veranschaulichen, was ich meine.

Ansonsten ist das ein toller Text - und ich finde auch das Ende gelungen. Du redest ja vom Alter, von den Veränderungen, die man lange gar nicht registriert und dann auf einmal mit voller Wucht ins Kreuz kriegt. Zu dieser Wucht, mit der die Veränderungen wahrgenommen werden, und den Veränderungen selbst, der Todesangst, die daraus spricht, passt auf der anderen Seite der Kontrast, dieses alltägliche Bekenntnis: Eigentlich geht es mir gut.

Danke fürs  Hochladen. Hab ich sehr gerne (naja, wenn man den Inhalt abzieht) gelesen. Finde ich sehr düster und beklemmend, und sprachlich sehr gekonnt.

Viele Grüße von Zufall
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KiaKahawa
Schneckenpost

Alter: 30
Beiträge: 14
Wohnort: Hannover


Beitrag10.10.2017 04:25
Re: Ich kann nicht klagen
von KiaKahawa
Antworten mit Zitat

Hallo host,

ich habe deinen Text gelesen und er hat mich mit  dem ersten Satz mitgenommen. Ich  bin offenbar genau deine Zielgruppe; das ist schonmal gut. Man sagt, der erste Satz muss genau das tun, was er bei mir getan hat.

Hier kommt meine Meinung zu Kleinigkeiten:

host hat Folgendes geschrieben:
Ich kann nicht klagen 
Abends sitzt man mit der Familie vor dem Bildschirm und merkt nichts, gar nichts.

Ich halte dieses "KOMMA gar nichts" für fehl am Platz. Es geht mir zu schnell. Ich will einen Punkt davor haben. Das verringert die Lesegeschwindigkeit und macht mich als Leserin glücklicher. Du führst uns hier schließlich sanft in eine Situation ein und haust nicht gleich in medias res auf die Pauke.

host hat Folgendes geschrieben:
Es begann wohl vor einigen Monaten, Jahren vielleicht,..

Warum "wohl"? Verschenktes Potential! Da geht noch mehr. Ist nach Millionen gelesenen Seiten schon fast Klischee des vorausschauenden, Böses ahnenenden Protagonisten aus der Ich-Perspektive.

host hat Folgendes geschrieben:
das Vertraute in den alltäglichen Dingen

Verrenk dich nicht. "Das Vertraute der alltäglichen Dinge" ist eleganter.

host hat Folgendes geschrieben:
die Küsschen schienen mir aufgesetzt und hohl

WIN! Wenn du so weitermachst, werde ich dein Fan. Gefällt mir gut.

host hat Folgendes geschrieben:
Seit ein paar Wochen schon nickte ich Bekannten nur noch kurz zu und drehte mich wie beiläufig zur Seite, um...

Dieses "Seit ein paar Wochen schon" ist Tell, don't show. Etwas ungelenk, nicht mega schlimm, aber das ginge besser. Und bei deiner Textqualität gehe ich davon aus, dass du keine 99 % willst, sondern 100 %, daher merke ich das an.

host hat Folgendes geschrieben:
Körperberührungen, gerade die beiläufigen und zufälligen, erlebte ich zunehmend als unangenehme Momente.

Ich halte das Komma vor "erlebte" für überflüssig. Sieht das noch jemand so? Ich glaube, das ist ein Kann-Komma. Also: persönliches Empfinden.


host hat Folgendes geschrieben:
Meine Frau hat gerade die Tür geschlossen. Das Geräusch klang gedämpft wie in Watte gepackt.

Sie hat es gerade getan. Und dann biste im Präteritum. Nachdem du die ganze Zeit im Präsens geschrieben hast. Danach sofort wieder Präsens. w00t?

host hat Folgendes geschrieben:
Ach ja, mein Sohn, er wohnt nicht mehr bei uns, er müsste mit dem Studium fertig sein.

Dieser Satz sagt so viel über den Protagonisten aus. Gefällt mir ausgesprochen gut! Wenn ich so recht überlege, vielleicht hab ich irgendwo auch 'nen Sohn rumfliegen... lol2 Nein, im Ernst, find ich sehr gut.

host hat Folgendes geschrieben:
Eher rührt sich ein kleines, ein erwartungsvolles Sehnen

ich weiß, was du mit dem Komma erreichen willst. Aber es kommt bei mir eher unprofessionell an. Ich bin kein Profi. Keine Ahnung, warum mich das stört.

host hat Folgendes geschrieben:
es klíngt seltsam und verrückt - ich weiß, aber...

Ist das ein Minus? Shocked Todesstrafe! Sind ja auch im Horror-Genre. Irgendwie. Ich warte voller Spannung auf Horror.

host hat Folgendes geschrieben:
Die Augenöffnungen sind groß gezogen, die Augäpfel selbst aber liegen versteckt und versunken in ihrer Höhle.

Wow, that detail. Habe ich zwei Worte nach dem Satz wieder vergessen. Ich weiß nicht, ob das so galant ist...
Es folgt eine Menge Tell, don't show. Dabei hat es so gut angefangen!
heult

host hat Folgendes geschrieben:
Manchmal schaute ich mir auf der Straße, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, andere Menschen an.

Warum trennst du ein Verb? Trenne niemals ein Verb! Alternativvorschlag: Auf der Straße, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, schaute ich mir andere Menschen an. Oder so.

Jetzt folgt ein Part, der mich eher schlaucht und langweilt.

host hat Folgendes geschrieben:
Sie zog die blasse Kleine widerstandslos wie einen halbverhungerten Hund an der Leine hinter sich her.

Und jetzt bin ich wieder dein Fan.

host hat Folgendes geschrieben:
Allmählich fallen mir auch die letzten Haare aus.

Das kannst du besser. Mach das nicht in den trockenen inneren Monolog, sondern lass ihn ein Büschel vom Kopf reißen oder so! Bring mal meinen Kreislauf als Leserin in Schwung!

host hat Folgendes geschrieben:
und erst gestern habe ich wieder zwei Zehennägel verloren.

So langsam glaube ich, du fährst Achterbahn mit mir. Jetzt klebe ich wieder am Text wie Shoppingsüchtige an 'nem Schaufenster!

host hat Folgendes geschrieben:
Eigentlich geht es mir gut.

Glaube ich dir nicht. Ich will weiterlesen!

Insgesamt hast du mich mit dem Text trotz einiger Schwächen gekriegt. Ich will wissen, wie es weitergeht und würde mir das Buch (bei entsprechendem Coverm Klappentext, bla bla bla) kaufen.

Ich hoffe, dir hat das weitergeholfen smile
Die Anmerkungen der anderen habe ich übrigens nicht gelesen. Schande über mich! (Na ja gut, mit Strg + F habe ich die Horror-Sache ergründet)

Grüzie





-[/quote]


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Nordlicht
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Beiträge: 3755



Beitrag20.10.2017 01:13

von Nordlicht
Antworten mit Zitat

Deinen Text finde ich hervorragend geschrieben; der Erzählton unterstreicht die Gefühlslage des Ich-Erzählers. Mir gefällt deine erste Version besser und ich empfand beim Lesen auch keinen Bruch durch den Zeitsprung. Vielmehr erscheint es mir passend, die Nabelschau des Erzählers im Präsens zu halten. Es erzeugt für mich beim Lesen mehr Nähe.

Einzige Stolpersteine (vielmehr Stolperstaubkörner) waren eine Wortwiederholung ("gerade" in zwei aufeinander folgenden Sätzen) und der mir bislang unbekannte Begriff "Großzehen".

Würde gern mehr Prosa von dir lesen.


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Günter Leitenbauer
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Beitrag26.11.2017 19:43

von Günter Leitenbauer
Antworten mit Zitat

"Ich will weiterlesen!" schreibt hier jemand.

Ich finde den Text in sich abgeschlossen. Und ich meine das im positiven Sinne.

Der Zeitsprung ist für mich übrigens genau richtig.


_________________
Liebe Grüße
Günter
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host
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Beiträge: 48
Wohnort: nicht zuhause


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Beitrag27.11.2017 22:49

von host
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Vielen Dank an alle Antworter, dass ihr euch für diese Geschichte Zeit genommen habt.
Ich werde bei der ersten Fassung bleiben und auch dank eurer Hilfe sie zu verbessern suchen.

Hi Babella,
ich habe gerade bei der beiläufigen Erwähnung des Sohnes überlegt, ihm einen Namen zu geben. Aber ich glaube, dass dem Ich-Erzähler der Sohn, dessen Name und dessen Befinden nur am Rande interessieren. "Hies er nicht Kurt?" wollte ich sogar schreiben. Aber das wäre dann doch zu unglaubwürdig.

Viele Grüße zurück an den Zufall!
Ich glaube, dass die Geschichte nicht nur auf das Altwerden anspielt. Die Idee zu dieser Geschichte entstand, als ich noch zur Schule ging. Damals war ich deutlich politisierter als heute und dachte viel über die "Entfremdung" der Menschen von ihrer Arbeit, von ihren Bedürfnissen nach (Dieter Duhm, Die Angst im Kapitalismus, war damals ein bekanntes Werk).


Hallo kiaKahawa,
es macht mich fast stolz, dass eine Unbekannte sich soviel Zeit nimmt, um sich mit meinem Text beschäftigen. Deine Life-Reportagen-Renzension helfen mir, meinen eigenen Text besser zu verstehen. Einige deiner Hinweise werde ich sicher verarbeiten.
Gerade habe ich deinen Blog entdeckt und bin bei den Entenbildern hängengeblieben. Wenn sie uns über den Weg laufen, wirken sie vielleicht etwas unbeholfen. Aber welche anderen Tiere können sich so gut in allen Lebensräumen bewegen und rennen, fliegen, schwimmen und tauchen. Ich bin schon froh, einigermaßen laufen zu können.
Ich wünsche dir viel Spaß und Erfolg bei deinen Projekten. "Schreibcouch" zu sein, steht dir gut.


Hallo Nordlicht,
danke für die "Stolpersteine".

Hallo Günter,
danke für deine Aufmunterung.


Liebe Grüße host
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