Lügner und Verräter

[James Blond]

Sprache ist dem Menschen eigen,
denn sie ist verräterisch -
lügen wird sie und doch zeigen,
welcher Gast bei ihr zu Tisch.

Jeder darf sich Dichter nennen,
dem danach zumute ist -
manche werden auch erkennen,
was er denn tatsächlich ist.

[Herr N.]

ich habe eigentlich spontan nur eine frage:

gibt es aktuell tatsächlich eine inflation an dichtern, bzw. diesen, die sich für sie halten, bzw. diesen, die sich selbst als solche betiteln und im grunde keine sind? ich frage das, da ich auf den letzten lyrischen lesungen eigentlich nur leuten begegne, die sich dem ausdruck 'dichter' massiv verweigern.

auf das technische gehe ich nicht ein, weil ich davon keinen peil hab, aber trotzdem spontan noch eine frage zur ersten strophe, die ich gelungen finde:

Sprache ist dem Menschen eigen,
denn sie ist verräterisch -      
lügen wird sie und doch zeigen,         
welcher Gast bei ihr zu Tisch.

ich lese heraus, dass der mensch in seiner programmstruktur verräterisch ist, deswegen sich die sprache zu eigen macht, da sie bestes mittel ist, den verrat hinaus zu tragen. 'die sprache ist dem menschen eigen, denn sie ist verräterisch' -- sie ist ihm also eigen, da sie verräterisch ist. sie ist ihm nicht eigen, weil sie nützlich ist, und wenn sie ihm nützt, dann doch nur zum verrat.
und 'sie wird lügen'. auch 'welcher gast bei ihr zu tisch', wird sie zeigen.
ich denke, dass hier die entlarvung gemeint ist, denn wer sie nutzt (die sprache) entlarvt sich und seine wahren intensionen am ende doch, ein geübter empfänger vorausgesetzt. eine smarte schlaufe zum verrat. denn nicht nur nutzt der mensch die sprache als verräter und eignet sie sich deshalb an, sondern sie selbst verrät den sprecher außerdem, nämlich wenn dieser ihrer nicht mehr herr ist.
+1

[James Blond]

Meine herzlichste Gratulation , Herr N.!

Sie haben mit ihrer Betrachtung zur ersten Strophe ins Schwarze getroffen, indem Sie den doppelten Verrat aufgedeckt haben, den die Sprache begeht: Zum einen dient sie dem Menschen als "Lügner und Verräter" und zugleich verrät sie ihn hinterrücks, indem sie offenbart "welch Geistes Kind" er ist.  Auch wenn wir  - als mehr oder weniger begabte Schauspieler - unsere Rollen zeitlebens einstudieren: die Sprache, die einer weitaus tieferen Wurzel als unsere Absichten entspringt, wird uns immer wieder Striche durch die eigene Rechnung machen und weitaus mehr von uns verraten, als uns lieb ist.

Was den selbsternannten Dichter anbelangt, so hat es den eigentlich nie gegeben, denn zum Dichter wurde man von seinen Bewunderern gekürt. Heute wird dieses alte Wort, das bereits im 15. Jh gebräuchlich war und sich von dem Lateinischen "dicere" ableitet, für dichtende Zeitgenossen zwar kaum verwendet, gleichwohl finden immer noch Dichterwettbewerbe statt, auf denen Dichterpreise verliehen werden. Und es gibt mittlerweile zahlreiche "Dichterforen", die ihre Teilnehmer mit dem unausgesprochenen Versprechen anlocken, sie dort zu Dichtern zu machen. Das "sich Dichter nennen" der zweiten Strophe  zielt daher auch auf das Prinzip solcher selbstreferentiellen Zirkel, in denen man sich gegenseitig zum Dichter erkennt.  

Vielen Dank für deinen hilfreichen Kommentar!

Grüße
JB


P.S. Noch ein kleiner Hinweis: "Intension" ist nicht gleich "Intention" - ersteres bezeichnet den logischen Sinn oder eine hohe innere Anspannung, letzteres eine Absicht. Ich vermute, du meintest hier letzteres:

[Herr N.]