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Dogsitters


 
 
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Erdferkel
Gänsefüßchen
E


Beiträge: 45



E
Beitrag16.01.2017 07:05
Dogsitters
von Erdferkel
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo zusammen, ich lasse den folgenden Text mal unkommentiert, bis auf die Tatsache, dass die Zahlen unter "Rückwärts" Platzhalter sind.

---

Vorwärts – 1

Sie lag auf den kalten Fliesen, Mayas kleiner, flauschiger Körper wärmte sie. Daphne ließ die Finger durch das Fell gleiten; gleichmäßige Züge. Der Geruch von nassem Hund war ihr in das ausgeleiherte, graue Shirt gekrochen, die Feuchtigkeit nur noch ihr eigener Schweiß – Maya war längst trocken.
Daphne lauschte ihrem Herzschlag: „Bumm-bumm. Bumm-bumm.“ Sie fühlte sich ruhig, beinahe träge. Solange Maya neben ihr lag, würde sie nicht erfrieren. Einschlafen, vielleicht, mit blauen Lippen aufwachen, aber nicht erfrieren. Wie tröstlich.
Doch Maya blieb nicht liegen. Die Türklingel surrte und mit schrillem Kläffen sprang der Hund auf und gallopierte in den Flur. Die Krallen schrappten übers Parkett.
Daphne fuchtelte nach dem Badewannenrand und zog sich daran hoch. Ihr war schwindelig, der erste Schritt mehr ein Stolpern. Sie sackte auf die offene Klobrille und rieb sich die Schläfen, Mayas Bellen hallte ihr in den Ohren.
Wieder surrte die Türklingel.
„Moment“, rief Daphne heiser und versuchte erneut, einigermaßen sicher auf den Füßen zu stehen. Diesmal gelang es ihr.
Im Flur hob sie den hechelnden Hund auf und trug ihn ins Wohnzimmer. Die Zwischentür musste grundsätzlich verschlossen sein, es wäre zu gefährlich für Maya, nach draußen zu laufen.
Erneutes Surren, diesmal länger, ungeduldiger.
Daphne öffnete die Haustür und eisiger Wind schlug ihr entgegen. Er schleuderte einen Schwall Schneeflocken in den Flur.
„Hallo“, krächzte eine überraschte Stimme. „Du bist nicht meine Mutter.“ Der Typ, höchstens dreißig, starrte Daphne auf die Brüste und leckte sich eine Schneeflocke von den Lippen. Er trug einen schwarzen Pullover, dessen Kautze er sich in die Stirn gezogen hatte; keine Jacke. Neben ihm stand eine Reisetasche, auf der eine dünne Schneedecke lag.
Daphne verschränkte die Arme vor der Brust, um ihre kältesteifen Nippel vor seinen Blicken zu schützen, die sofort auf ihre nackten Oberschenkel rutschten.
Wieso hatte sie sich nichts übergezogen?
Der Kerl hatte den Mund offen und grinste.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Daphne.
„Ich weiß nicht.“ Endlich sah er ihr ins Gesicht. Die Kapuze war nutzlos: nasse Haarsträhnen hingen ihm in der Stirn. Er sah nicht schlecht aus, aber irgendwie …
Daphne war nicht sicher, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte.
Er trat von einem Bein aufs andere und wiegte den Kopf, als wisse er nicht, was er sagen sollte.
„Es ist arschkalt“, meinte Daphne. „Wenn Sie sich in der Adresse geirrt haben, würde ich gern wieder ins Haus gehen.“
„O, ich hab mich bestimmt nicht geirrt!“ Er lachte und Daphne war sich sicher – ja, sie kannte ihn. „Eigentlich wollte ich zu meiner Mutter“, fuhr er fort.
Sie musste die Tür zuschlagen. Sofort, ehe er sie erkannte. Besser noch, die Polizei rufen! Stattdessen sagte sie: „Kim.“
Wieder bewegte sich sein Mund, verzog sich zu etwas, das Daphne nicht deuten konnte – einer Grimasse oder einem Grinsen; überrascht, erfreut, wütend, lüstern.
„Daphne! Sag bloß, du wohnst immer noch hier?!“
„Ich … hüte den Hund.“
„Also bist du allein?“
„Der Hund ist da.“
Tür zuschlagen – jetzt!
Zu langsam.
Kims Fuß stand im Weg.
„Lass mich ruhig rein, schließlich sind wir fast eine Familie! Wann kommt meine Mutter zurück?“ Mitsamt Reisetasche schob er sich in den Flur und zog die Kapuze ab. Sein nasses Haar war dunkel, aber nicht mehr rabenschwarz, wie Daphne es in Erinnerung hatte. Die einst blassen Wangen glühten rot vor Kälte.
„Bitte, Kim, gerade ist ein schlechter Zeitpunkt …“
„Ach was, Süße!“ Er lachte auf. „Gerade ist der perfekte Zeitpunkt. Ab jetzt kannst du nämlich mit Schadensbegrenzung anfangen.“ Die Tasche plumpste auf den Boden, Kim steuerte das Wohnzimmer an.
Wie automatisch ließ Daphne die Haustür ins Schloss knallen – „Lass Maya auf gar keinen Fall nach draußen!“
Doch Maya interessierte sich gar nicht dafür, ob die Tür auf war oder zu. Sie sprang an Kim hoch, wedelte mit dem buschigen Schwanz, unbedarft wie immer.
„Das ist doch kein Hund, oder? Das ist ein Witz.“
„Sie ist ein Chihuahua. Scharfe Zähne hat sie trotzdem.“
„Scharfe Zähne?“ Wieder lachte Kim, dann ging er in die Hocke und hob Maya hoch. Sie leckte ihm geschmolzenen Schnee vom Kinn. „Mit einer Handbewegung habe ich der kleinen Ratte hier das Genick gebrochen. Soll ich das tun? Danach würde ich dich auch in Ruhe lassen.“
„Sie kann doch nichts dafür …“
„Dann mach, was ich dir sage.“


Rückwärts – 29

All die Erklärungen, Halbwahrheiten, kleinen Lügen – einfach weg. Die Fragen waren genau die, auf die Daphne sich vorbereitet hatte, doch statt der zurecht gelegten Antworten rollte die Wahrheit in einzelnen Worten über ihre trockene Zunge und kullerte zwischen zitternden Lippen heraus.
„Weißt du, ob Nina bereits vorher mit Kim zu tun hatte?“
„Ich glaube nicht.“
„Aber du kannst es nicht ausschließen?“
„Nein.“
„Hat Nina irgendwann erwähnt, dass sie jemanden kennengelernt hat, von dem du nicht weißt, wer das war?“
„Nein.“
„Denk genau nach, jedes scheinbar noch so nebensächliche Detail könnte von Bedeutung sein.“
„Nina hat nichts gesagt. Wir waren keine Freundinnen.“
„Hat er dir jemals gedroht?“
„Ja.“
„Mit Gewalt?“
„Ja.“
„Ist er schnell ausgerastet? Oft?“
„Geht so.“
„Hattest du Angst vor ihm?“
„Ja … Nein … Nicht mehr.“
Das war alles. Ihr Magen prickelte, als hätte sie einen Messbecher voll Ahoi-Brause geschluckt.
Sie spürte seinen Blick, der ihr dicke, klebrige Schichten halb aufgelöster Brause aus dem Bauch schabte, bis zu ihren Magenschleimhäuten, und dann weiter schabte und weiter, bis er sich fast durch ihren Bauchnabel hindurch nach draußen gebohrt hatte.
Daphne fuhr herum und sah ihn an.
Kim ließ nicht erahnen, was er dachte. Vielleicht dasselbe, das sie fühlte, unter der Ausdruckslosigkeit seines Blickes – nämlich nichts. Da war selbst das Prickeln vorhin wärmer gewesen.

„Zehn Jahre“, murmelte ihr Vater. „Lächerlich! Den sollte man für immer wegsperren!“
Conni, die auf dem Beifahrersitz saß, hielt den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. In der Reflektion der Scheibe sah Daphne, dass Connis Augen weder Geschäften noch Fußgängern folgten und auch auf dem kurzen Stück Autobahn keinen Punkt fixierten.
„Zehn Jahre … Lächerlich …“ Wiederholte der Vater, doch seine Stimme kam kaum gegen den Popsong an, der im Radio dudelte.
Nach den letzten Takten liefen die Nachrichten, Kim wurde nicht erwähnt.
Es war merkwürdig. Vor ein paar Jahren, Daphne war damals sechs, vielleicht sieben gewesen, hatte in einer nahegelegenen Kleinstadt ein siebzehnjähriger Junge ein zwölfjähriges Mädchen missbraucht und ermordet – die Nachrichten waren voll davon gewesen. An Kim und Nina aber hatte niemand Interesse.
„Wäre ja noch schöner, wenn das alles in die Öffentlichkeit gesickert wäre! Wir können froh sein, dass sich aus Ninas Umfeld niemand an die Presse gewandt hat“, keifte der Vater.
Daphne hatte nicht einmal gemerkt, dass sie ihre Gedanken ausgesprochen hatte. Sie wollte aus dem Fenster schauen, doch sie konnte nicht anders, als immer wieder Connis transparentes Spiegelbild anzusehen und konzentrierte sich deshalb auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Heiß, feucht …
Der Sicherheitsgurt saß zu eng.
„Werden wir ihn besuchen?“, fragte sie.
Niemand antwortete.


Vorwärts – 2

Sie hockte mit angezogenen Beinen auf einem Küchenstuhl und rauchte. Kim war schon lange weg – vielleicht sogar schon eine Stunde? Länger? Oder zog sich das Warten nur unrealistisch zäh dahin?
Vielleicht hätte Daphne die Polizei oder ihren Vater angerufen, hätte Kim nicht deutlich gemacht, dass sie all das tun könnte – solange sie damit leben konnte, dass er Maya schneller das Genick gebrochen hätte, als dass irgendwer würde handeln können. Vielleicht hätte sie aber auch ohne Maya stumpfsinnig darauf gewartet, dass etwas passierte; war schließlich lange überfällig.
Als Kim endlich zurückkam, war sein Haar immer noch nass, aber er verströmte den Geruch von Shampoo. Er trug eine schwarze Sweathose, ein schwarzes T-Shirt und Maya auf dem Arm. Rote Wollsocken.
„Gleich viel besser, wenn man aufgewärmt und sauber ist“, sagte er und setzte den Chihuahua auf den Boden. „Nun bin ich auch dir gegenüber milde gestimmt. Aber unser Deal steht, nicht?“
„Ich mache alles, was du willst.“
„Braves Mädchen. Weißt, was gut für dich ist. Und weißt du auch, worauf ich jetzt richtig Lust hätte? Ein schönes, frisches Bier.“
„Im Kühlschrank.“ Daphne zog an ihrer Zigarette und ließ die Füße auf den Boden sinken. In Slip und T-Shirt fühlte sie sich nackt.
Kim betrachtete die Fotos, teilweise Schnippsel, die den Kühlschrank pflasterten.
Nicht gut …
Daphne schloss die Augen. Normalerweise schenkte sie den Bildern keine Beachtung, jetzt überlegte sie krampfhaft, was sie zeigten: Hauptsächlich Conni und ihren Vater. Auf manchen war sie, hier und da auch Maya zu sehen. Aber Kim …?
„Nette Familie“, sagte er. „Wie schön, dass du alles hattest und ich nichts.“
„Habe nicht darum gebeten.“
„Tja, bist halt ein Glückskind.“ Er riss den Kühlschrank auf, nahm zwei Flaschen Bier heraus und öffnete mehrere Schubladen.
„Flaschenöffner liegt vor dir auf der Anrichte.“
Kim setzte sich ihr gegenüber und schob eine der Flaschen so heftig über den Tisch, dass Daphne sie gerade noch abfangen konnte und ihr Schaum über die Finger sprudelte.
„Wo sind eigentlich meine Sachen?“, fragte Kim. „War eben kurz in meinem Zimmer, da ist nichts mehr von mir. Haben die meinen ganzen scheiß Kram entsorgt?“
Daphne leckte sich die Finger sauber, dann nahm sie einen Schluck aus der Flasche. Was hatten ihr Vater und Conni mit Kims Sachen gemacht? Heute war der Raum Connis Rückzugsort.
„Das sind nicht mal mehr meine Möbel.“
„Ich weiß nicht, was mit deinen Sachen passiert ist.“
Kim lehnte den Kopf zurück. Sein Kehlkopf zuckte, als er die halbe Flasche in großen Schlücken in seinen Mund laufen ließ. Er seufzte entzückt.
„Gott, wie habe ich diesen süßen, süßen Geschmack vermisst!“
„Gab es im Gefängnis kein Bier?“
„Willst du mich verarschen?“
„Sorry, ich war noch nie im Knast …“
„Besser so, wenn du jedem Fremden, der an der Tür klingelt, gleich deine Nippel in die Augen stichst.“
Das saß. Daphnes Wangen brannten. Als wäre das nicht schon peinlich genug, drehte Kim sich herum und betrachtete demonstrativ all die leeren Flaschen, zwischen denen er vorhin nach dem Öffner gesucht hatte. Daphne konnte sie nicht mehr zählen, wie sie dort standen, in Reih und Glied wie Soldaten.
„Du siehst scheiße aus“, sagte Kim. „Wirklich, richtig scheiße. Geil finde ich dich trotzdem noch.“
„Kim, bitte …“
„Ja, winsel ruhig noch ein bisschen, das mag ich besonders!“
Sie trank.
Maya tänzelte aufgeregt unter dem Tisch zwischen ihr und Kim hin und her.
„Lass uns ein Spiel spielen: Wenn du mir etwas zeigst; irgendetwas hier im Haus, auf dem es noch eine Spur von mir gibt, werde ich dich nicht vergewaltigen.“
„Kim …“
„Ich mag es, wie du meinen Namen sagst! Du gehst das vollkommen falsch an. Du hast fünfzehn Minuten, um etwas zu finden. Das nächste Mal, wenn du mich so direkt ansprichst, nehme ich dich. Zeit läuft.“
Daphne sprang auf und trat fast auf Mayas Pfote.
Sie ging halb in die Hocke, streifte das Fell des Hundes und war gleich wieder auf den Füßen.
Was gab es denn noch?! Sie war selbst mit achtzehn ausgezogen, kannte sich kaum noch aus hier, aber schon davor waren alle Spuren von Kim beseitigt worden. Mit sehr viel Glück würde sie seine persönlichen Sachen in einer Kiste im Keller finden, aber auch daran zweifelte sie. Außerdem standen dort so viele Kartons, fünfzehn Minuten reichten nicht. Da fiel es ihr ein …
„Das Hochtzeitsvideo! Das zählt, oder? Da bist du auf jeden Fall drauf!“
Ganz sicher war sie nicht, aber sie selbst hatte das Fest vor vielen Jahren gefilmt, in jener Zeit, als sie immer noch versucht hatte, sich mit ihm anzufreunden. Es war so schnell gegangen: Ihr Vater stellte ihr Conni vor, drei Wochen später zogen sie und ihr Sohn bei ihnen ein. Fast zeitgleich wurde geheiratet.
Sie hastete ins Wohnzimmer, öffnete das Schränkchen unter dem Fernseher und riss die DVDs stapelweise heraus. Dahinter standen Videokassetten. Eine, ohne Hülle, trug einen Sticker mit verblichener Aufschrift: „Hochzeit Conni & Stefan.“
„Da bist du drauf! Ganz sicher.“
Sie konnte fühlen, dass er mit einigem Abstand hinter ihr Stand, Maya auf dem Arm. Mit zitternden Fingern riss sie den DVD-Player-Anschluss aus dem Fernseher und schaltete den Videorekorder ein.
Ihr Vater trug einen Anzug, Conni ein helles, nicht ganz weißes Sommerkleid. Ein Pfarrer, von dem nur die Robe, kein Gesicht, zu sehen war, sagte seinen Text. Ihr Vater und Conni küssten sich. Rauschen, Pause.
Daphnes Kinderstimme: „Heute feiern wir einen besonderen Tag: Mein Papa heiratet die hübsche Conni! Und nun befragen wir die Gäste, was sie davon halten. Frau Mühlstein, was sagen Sie dazu?“
Eine Frau, die gerade ein Tortenstück auf eine Gabel gespießt hatte, drehte sich zur Kamera und wünschte Conni und Stefan viel Glück.
„Herr Destkin, was sagen Sie?“
Auch der betete Phrasen herunter.
Der nächste ebenso.
Fast zwanzig Minuten lief das Video, ohne dass Kim zu sehen war.
Er stand hinter ihr, würde bald realisieren, dass ihre Zeit abgelaufen war und sie auf den Boden drücken.
Doch plötzlich erschien ein rabenschwarzer Hinterkopf auf dem Bildschirm.
„Sag mal was“, forderte die Kinderstimme auf.
Kim sah auf, die Augen mit schwarzem Kajal ummalt.
„Mit dir rede ich nicht. Du bist es nicht wert, beachtet zu werden.“
Daphne drückte auf „stopp.“
„Toll“, sagte Kim hinter ihr.
„Ist nicht auch nicht ideal“, gab Daphne zu.
„Passt schon. Glückwunsch, du hast etwas gefunden und ich werde dich nicht vergewaltigen – vorerst.“

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jon
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J
Beitrag17.01.2017 14:44

von jon
Antworten mit Zitat

Das klingt nach einer spannenden Familienstory.

Der Tonfall gefällt mir im großen und Ganzen, auch wenn es für mich zunehmend ermüdender wurde, dem sehr starken, harten und in Sachen Information sehr sparsamen Sound Bilder (und Infos) abzutrotzen. (Und das, obwohl ich selbst eigentlich auch nicht grade blumig schreibe.)
Ab und an – vor allem am Anfang – gibt es auch Übersprungsformulierungen: Im Bestreben, sehr farbig und markant zu sein, entstehen Übertreibungen und Entstellungen. Zu den echt missglückten Formulierungen gehört z. B.  das "fuchtelte nach dem Badewannenrand". Auch "rollte die Wahrheit in einzelnen Worten über ihre trockene Zunge und kullerte zwischen zitternden Lippen heraus." wirkt eher verkünstelt als farbig.

Das Bild von dem Hund, der das Mädchen wärmt, führt völlig in die Irre: Eine Handvoll Chihuahua dürfte kaum den Eindruck erwecken, einen Menschen vorm Erfrieren bewahren zu können.

Wieso Daphne dort im Bad am Boden liegt, bleibt (bislang) unklar. Das ist an sich auch okay, aber das, was dazu führte, muss eine gewisse Dramatik gehabt haben, da ist es schon erstaunlich, dass davon (außer unmittelbar nach dem Aufstehen) im Folgenden gar nichts mehr eine Rolle spielt. Nicht nur, dass es Daphne nicht fröstelt (sie ist ausgekühlt, oder? Ach nein, sie schwitzt stark {Schweiß}. Wieso denkt sie dann ans Erfrieren?) oder es ihr wärmer wird, es gibt auch keine anderen "Folgen" (Tränenspuren? blaue Flecken vom Fallen? nachklingende Benommenheit? – Je nachdem, was da passiert ist.) Andererseits ist auch sonst alles extrem auf die Handlung konzentriert, Empfindungen finden nicht statt. Absichtlich?

Mit wem redet Daphne im ersten Abchnitt von "Rückwärts" eigentlich?

Zitat:
Nach den letzten Takten liefen die Nachrichten, Kim wurde nicht erwähnt.

Warum hätte Kim erwähnt werden sollen?


Alles in allem: Gefällt mir, aber der Kampf um die Infos, worum es in der jeweiligen Szene eigentlich grade geht, ist mir etwas zu groß; und der Farbauftrag ist manchmal zu fett.


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Erdferkel
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Beitrag18.01.2017 03:33

von Erdferkel
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Lieben Dank für deine Rückmeldung, jon!
Einige der Fragen, die du stellst, sollten auch tatsächlich aufkommen, denn davon lebt die Story.
Ich hoffe, sie lassen dich nicht verzweifeln und abbrechen Wink
Vielleicht doch eine kleine Erläuterung: Die Geschichte dreht sich um zwei Menschen, die ohne es zu wollen in der Vergangenheit miteinander zu tun hatten. (Wird diese Verbindung klar?) Es gab einen jähen Bruch, dann zehn Jahre Funkstille und plötzlich finden sie mehr oder weniger unfreiwillig wieder zusammen. Es gibt zwei Erzählstränge: Den der Gegenwart, der dort anfängt, als Daphne mit Maya im Badezimmer aufwacht und den mit Kim, der wird allerdings rückwärts erzählt.



Zitat:
fuchtelte nach dem Badewannenrand


Wie kann ich das besser formulieren? Sie liegt im Badezimmer und hat Koordinationsschwierirgkeiten, der Satz erschien mir selbst nicht so ganz blöd ...?

Zitat:
rollte die Wahrheit in einzelnen Worten über ihre trockene Zunge und kullerte zwischen zitternden Lippen heraus.


Hier hast du mich erwischt! Damit hadere ich seit Tagen, dieser Satz ist auch der Hauptgrund, warum ich dieses Stück eingestellt habe Smile  Wollte einfach mal schauen, ob auch andere darüber stolpern.

Wegen dem harten Tonfall, den du ermüdend findet: Würdest du nun aufhören? Ich weiß nicht, wie viele Teile ich hier einstellen werde, aber es ist angedacht, dass das Ganze im Laufe der Zeit weicher wird.

Zum Chihuahua: Wenn du auf kalten Fliesen liegst, wird dir kalt, aber du erfrierst nicht sofort. Wenn du die Knie angezogen und einen kleinen Hund direkt am Körper hast, reicht die Wärme schon aus ...
Zu dem Roman, an dem ich arbeite, habe ich einiges an Feldforschung betrieben, und wenn ein Kater nicht nur von zwei, drei Fläschchen Bier kommt, sind die Temperaturschwankungen schon extrem. Das geht von zu heiß bis auf elendliches Bibbern innerhalb von Sekunden.

Zitat:
Warum hätte Kim erwähnt werden sollen?


Ich hoffte, das ergäbe sich aus dem Inhalt ...
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jon
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Beitrag18.01.2017 11:37

von jon
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Als erstes: Nö, ich würde nicht aufhören, es ist zuu spannend. Die Segel streichen würde ich erst, wenn ich zu oft nicht erfahre, was für eine Szene ich eigentlich grade sehe, oder ich zu oft die Zusammenhänge nur ahne oder gar gänzlich erraten muss.

Hund und Wärme/Kälte – okay, verstehe.

Fuchteln … Hm. Was hältst du von „suchte nach dem Wannenrand"? Tastet? Fuchteln ist ja eher ein „heftiges, großräumiges Wedeln mit Hand (und Arm)“ und in der Regel mit Aufgebrachtheit oder Aufgeregtheit verbunden.

Zitat:
Die Fragen waren genau die, auf die Daphne sich vorbereitet hatte, doch statt der zurecht gelegten Antworten rollte die Wahrheit in einzelnen Worten über ihre trockene Zunge und kullerte zwischen zitternden Lippen heraus.

Als erstes fiel mir „brach die Wahrheit aus ihr“ ein, aber das ist ja eher der Effekt, wenn die Wahrheit so drückt, dass man sie quasi in einem Schwall (und ohne weitere Nachfragen) raussprudelt. „… fiel ihr nur die Wahrheit ein“? Vielleicht muss man auch ganz umformulieren. Die Fragen waren genau die, auf die Daphne sich vorbereitet hatte, doch keine der zurecht gelegten Antworten fiel ihr mehr ein. Nur an die Wahrheit erinnerte sie sich. Dass diese bröckchenhaft kommt, das kann man dann ja am Text sehen.

Bei „Warum sollte von Kim die Rede sein?“ spielt die unklare Situation eine Rolle. Ich habe zwar verstanden, dass Kim offenbar ein Verbrechen begangen hat und zu zehn Jahre Knast verurteilt wurde, aber erstens wird nicht jeder Fall dieser Art alle Nase lang im Radio gemeldet (auch nicht im Lokalsender), zweitens hatte ich den Eindruck, dass die Familie grade von der Urteilsverkündung nach Hause fährt (der Vater ist noch ganz aufgebracht) und da braucht die Info erstmal ein bisschen, um ins Radio zu kommen, vor allem, wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Außerdem ergibt sich später, dass der ganze Fall offenbar nicht in den Medien war (was aber schon ungewöhnlich ist und mit „dass sich aus Ninas Umfeld niemand an die Presse gewandt hat“ eigentlich nur unzureichend erklärt ist), so gesehen gibt es für die Medien auch keinen Grund, nun den Abschluss der Sache zu melden.
Es ist beim knappen, konzentrierten Erzählen dieser Art immer ein Risiko, dass etwas komplexere Zusammenhänge Fragen beim Leser hinterlassen. Leider kann ich da nicht mit Tipps helfen, weil ich das Problem selbst auch oft habe. Manchmal muss man es dann auch einfach so lassen, weil es für die Szene trotz allem am stimmigsten ist …

Mal noch eine Anmerkung mit Blick auf den weiteren Text: Du sagts, Daphne und Kim finden wieder zusammen – der Kim, den ich bisher sehe, ist aber eher einer, der kalt und bindungsunfähig ist. Was er sagt, klingt völlig ernst gemeint (also keine Übertreibung Marke „Verbrecher-Sprech“ oder bitterer Unterton der Art „Ich gelte euch als Verbrecher, da red ich eben so, wie ihr mich sehen wollt“.) und zugleich so, als würde er es nicht wirklich als Drohung, sondern als Feststellung von Fakten meinen (als rede er von sach-logischen Zusammenhängen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man mit so einem „zusammenfinden“ kann (selbst wenn das nicht als Paarbildung sondern lediglich „familiäre Kontakte“ gemeint ist).
Auch hier: Das ist keine Aufforderung, das unbedingt zu ändern, nur ein Gedanke, der mir grade kam. Und: Vielleicht ist das ja auch das, was für mich die eigentliche Spannung ausmacht (wie wird sich das wohl erklären?) – so genau kann ich das im Moment gar nicht verorten.


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Erdferkel
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Beitrag19.01.2017 00:50

von Erdferkel
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Das ist noch mal viel Input, herzlichen Dank!

Zitat:
Ich habe zwar verstanden, dass Kim offenbar ein Verbrechen begangen hat und zu zehn Jahre Knast verurteilt wurde, aber erstens wird nicht jeder Fall dieser Art alle Nase lang im Radio gemeldet (auch nicht im Lokalsender), zweitens hatte ich den Eindruck, dass die Familie grade von der Urteilsverkündung nach Hause fährt (der Vater ist noch ganz aufgebracht) und da braucht die Info erstmal ein bisschen, um ins Radio zu kommen, vor allem, wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Außerdem ergibt sich später, dass der ganze Fall offenbar nicht in den Medien war


Ich werde den Rückwärts-Teil noch mal komplett überarbeiten, der scheint wirklich zu lückenhaft zu sein. Aber zu deiner Anmerkung: Daphne ist zu diesem Zeitpunkt ein junger Teenager. Wiedergeben wollte ich ihre Gedanken und Eindrücke, sie hat nicht das Wissen, wann und wie etwas in die Nachrichten gelangt, sondern gleicht die Situation mit ihren bisherigen Erfahrungen mit spektakulären Kriminalfällen in den Medien ab.

Zitat:
Mal noch eine Anmerkung mit Blick auf den weiteren Text: Du sagts, Daphne und Kim finden wieder zusammen – der Kim, den ich bisher sehe, ist aber eher einer, der kalt und bindungsunfähig ist. Was er sagt, klingt völlig ernst gemeint (also keine Übertreibung Marke „Verbrecher-Sprech“ oder bitterer Unterton der Art „Ich gelte euch als Verbrecher, da red ich eben so, wie ihr mich sehen wollt“.) und zugleich so, als würde er es nicht wirklich als Drohung, sondern als Feststellung von Fakten meinen (als rede er von sach-logischen Zusammenhängen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man mit so einem „zusammenfinden“ kann (selbst wenn das nicht als Paarbildung sondern lediglich „familiäre Kontakte“ gemeint ist).
Auch hier: Das ist keine Aufforderung, das unbedingt zu ändern, nur ein Gedanke, der mir grade kam. Und: Vielleicht ist das ja auch das, was für mich die eigentliche Spannung ausmacht (wie wird sich das wohl erklären?) – so genau kann ich das im Moment gar nicht verorten.


Darüber musste ich gerade grinsen, danke dafür Very Happy
Tatsächlich schwirrten mir gerade er und seine Chara-Entwicklung den ganzen Tag im Kopf herum, ich war unsicher, ob die Richtung, die ich mir vorstelle, so funktioniert. Aber deine Eindrücke sind schon mal ein guter Ansatz, der mich glauben lässt, dass es vielleicht doch funktionieren könnte.
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