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Hendrik Schwartz Erklärbär
H Alter: 29 Beiträge: 3 Wohnort: Hamburg
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H 23.06.2016 11:32 Monika von Hendrik Schwartz
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Monika
Wie er da steht, sucht einen gitternden Sitzplatz, einsamer Löwe, goldener Käfig, wartend auf die erlösende Durchsage, die Einfahrt, er befindet sich auf dem Heimweg.
Die Aktentasche voller Aktenordner, Tütensuppe, Dosenbier und –erbsen.
Gedankenverloren schaut er in sein Buch, blättert nach vorne, „Wann ist das Kapitel zu Ende?“ fragt er sich, rechnet die zu lesenden Seiten aus, subtrahieren, subtrahieren, verdreht die Augen, „Wann kommt sie?“
Jedes Mal, Montag bis Donnerstag und Samstag wartet er, sehnsüchtig, sieht Züge ein- und ausfahren. Er an Gleis acht, manchmal Gleis sieben, steht, schielt zu Gleis sechs rüber, wenn er nicht im Buch blättert (Er nimmt dieses Buch immer mit, seit einem Jahr las er darin, es landet zu Hause immer in der Ecke, er las es nur am Gleis, wenn er wartet, versuchte es zumindest). Das Buch lässt in intelligent, belesen wirken, empfindet er.
Züge fahren ein, an Gleis fünf, „Hoffentlich keine Verspätung, hoffentlich keine Umleitung auf Gleis drei, wie letzte Woche“, er senkt seinen Blick auf sein Buch. Ein Sitzplatz wird frei, er schaut von seinem Buch auf, sieht die Uhr.
„Gleich siebzehn Uhr vierzehn, in fünf Minuten kommt der Zug“, seine Gedankenstimme flüstert, er erschrickt. „Sitzen lohnt sich nicht mehr.“
Bahnhof, ein menschliches Biotop. Abschiedsschmerz und Ankunftsfreude, Essensgeruch und -reste, Bierflaschen der einsamen Alkoholiker, mittendrin er. Werbung erschlägt dich, Schokolade, Chips, Erwachsenenvideothek.
Der Zug (ihrer!) fährt ein, er verlagert nervös sein Gewicht vom linken aufs rechte Bein, tut so, als lese er, schielt rüber auf Gleis sechs.
„Im dritten Waggon, immer im dritten Waggon“, so er. Das Herz schlägt schneller, seine Augen schauen in den dritten Waggon. „Heute mache ich es, heute traue ich mich“, denkt er sich.
Alle ausgestiegen, er kann sie nicht sichten, wartet jedoch noch, bis ihr Zug wieder wegfährt.
Da! Dort steht sie, auch ein Buch in der Hand. Er weiß, sie liest nicht, sie schaut ihn an, hin und wieder, lächelt sie ihn an, er kann sich nicht motivieren, traut sich nicht, zu ihr hinüberzugehen.
Wie oft spielte er schon in Gedanken Szenarien durch, wie er hinüberging, ihr sagte, wie wunderschön sie ist, wie gerne er mit ihr einen Kaffee trinken gehen würde. Sie würde lächeln, verlegen auf den Boden schauen, die Wangen erröten sich, die Hände hinter ihrem Rücken halten.
Sie würden einen Kaffee trinken gehen, sich am Ende küssen, beide wären sie glücklich.
Sie steht dort, entzückend in der Gestalt, die Durchsage, „Einfahrt Regionalexpress RE8 nach Lübeck Hauptbahnhof“, er weiß: „Mein Zug kommt“.
Er steigt ein, als Erster, schubst eine alte Dame weg (das schlechte Gewissen wird ihn später einholen), sucht sich den Fensterplatz, der ihm ermöglicht, sie weiter anzusehen. Er hält kein Buch mehr in seinen Händen, sie nicht in ihren. Fünf Minuten kann er sie sich noch ansehen, dann würde er losfahren, nach Hause, sie würde wahrscheinlich nach Hause gehen, in einen Bus steigen, umsteigen, aber zumindest wartet sie auf ihn, wie jedes Mal, so hofft, wünscht er.
Beide sehen sich an, beide mit einem starren Blick, hören nicht auf, lassen nicht voneinander, so wie immer, Montag bis Donnerstag und Samstag, ziehen sie sich magnetengleich an.
Und während sein Zug abfährt, traut er sich, hält sein Schild hoch, das er seit einem halben Jahr bei sich trug, dort steht seine Telefonnummer in großen schwarzen Lettern auf DIN A3 geschrieben. Während er es hochhält und zu ihr schaut, der Zug langsam abfährt und er hofft, sieht er, dass sie hastig ihr Buch verstaut, in ihre Manteltasche greift, einen Zettel sorgfältig auseinanderfaltet, es ihm gleichtut, in schwarzen Ziffern auf einem weißen Schild ihre Telefonnummer, in roten Lettern ihren Namen: Monika.
Weitere Werke von Hendrik Schwartz:
_________________ Heimat ist
der Ort,
den ich
nie sah. |
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Yvo Wortedrechsler
Alter: 42 Beiträge: 64 Wohnort: Bremen
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23.06.2016 13:16
von Yvo
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Moin Hendrik,
die grundlegende Idee (Mann beobachtet seit Wochen / Monaten / Jahren eine Frau, ist aber zu schüchtern, sie anzusprechen) ist nicht unbedingt neu. Wenn das Thema schon einigermaßen verbraucht ist, muss man es anders umsetzen als bisher.
Was ich gut finde:
- Das Ende. Normalerweise enden "solche Geschichten" damit, dass sich nichts ändert und der Kerl am nächsten Tag wieder schmachtend irgendwo sitzt. Das er hier doch aktiv wird, finde ich gut.
- Die Kontraste. Eigentlich ist das ja eine niedliche, romantische Geschichte. Du erzählst sie an einem sehr unromantischen Ort: Bahnhof, Essensreste, Alkoholiker, Durchsagen, Dosenerbsen (...). Finde ich interessant, könnte man noch ein wenig deutlicher hervorheben.
- Die Konjunktive. Bzw. die Stelle, wo er sich vorstellt, was passieren würde, wenn er sie anspricht. Vor allem, weil die Wortwahl hier so ziemlich das Gegenteil der Bahnhofsatmosphäre ist: wunderschön, lächeln, verlegen, erröten, küssen, glücklich, entzückend. Ist schon ziemlich kitschig, finde ich hier aber als Kontrast zwischen Realität und Traum trotzdem gut.
Was ich ändern würde:
- Die Länge, bzw. der Anfang. Die Geschichte war mir beim ersten Lesen zu langatmig. Ich würde sie auf das wesentliche konzentrieren. Ich habe das ganze mal ab "Gleich siebzehn Uhr vierzehn..." gelesen und finde es dann wesentlich besser. Dann würde ich noch jeden Satz streichen, der nicht zwingend notwendig ist, um die Geschichte zu verstehen.
- Die "Häkchen". Ich würde das ganze aus seiner Sicht in Gedankenrede schreiben.
- Das Ende. Der Zug fährt langsam los, aber sie notiert sich nicht seine Nummer, sondern verstaut erstmal ihr Buch und fertigt noch schnell einen Zettel an (kann er den überhaupt auf die Distanz sehen?), auch noch in zwei verschiedenen Farben?
Bei mir würde die Geschichte so anfangen:
Gleich siebzehn Uhr vierzehn, in fünf Minuten kommt der Zug. Sitzen lohnt sich nicht mehr.
Bahnhof, ein menschliches Biotop. Abschiedsschmerz und Ankunftsfreude, Essensgeruch und -reste, Bierflaschen, der einsamen Alkoholiker, mittendrin er. Werbung erschlägt dich, Schokolade, Chips, Erwachsenenvideothek.
Der Zug - ihrer - fährt ein. Er tut so, als lese er.
Im dritten Waggon, immer im dritten Waggon. Sein Herz schlägt schneller. Heute mache ich es, heute traue ich mich.
Alle ausgestiegen, er kann sie nicht sichten, wartet jedoch noch, bis ihr Zug wieder wegfährt.
Da! Dort steht sie, auch ein Buch in der Hand. Er weiß, sie liest nicht.
Wie oft spielte er schon in Gedanken Szenarien durch, wie er hinüberging, ihr sagte, wie wunderschön sie sei, wie gerne er mit ihr einen Kaffee trinken gehen würde. Sie würde lächeln, verlegen auf den Boden schauen, die Wangen erröten sich, die Hände hinter ihrem Rücken halten.
Sie würden einen Kaffee trinken gehen, sich am Ende küssen, beide wären sie glücklich.
(...)
Yvo
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Seraiya Mondsüchtig
Beiträge: 924
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04.07.2016 20:51
von Seraiya
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Hi Hendrik,
(Ich lese vorangegangene Kommentare nicht, erwähne also vielleicht etwas, das bereits genannt wurde.)
Süß - und das meine ich nicht abwertend.
Das Ende gefällt mir. Die Vorstellung, wie beide die vorgefertigten Schilder bei sich tragen und auf den richtigen Moment, den Augenblick des Mutes warten, macht das Ganze erst richtig romantisch. Fein.
Die Umsetzung:
Ganz schlimm finde ich diese Konstruktion:
Zitat: | Er weiß, sie liest nicht, sie schaut ihn an, hin und wieder, lächelt sie ihn an, er kann sich nicht motivieren, traut sich nicht, zu ihr hinüberzugehen. |
Wenn ich diesen Satz laut lese, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
Ein Punkt wäre nicht schlecht. Oder zwei.
Davon abgesehen verwendest du stets "schaut", das ödet mich an. Es gibt noch andere Möglichkeiten. Bissl viel "würde" ist auch drin.
Den Inhalt seiner Aktentasche empfinde ich mehr als fragwürdig, aber nun gut ... ist ja nicht meine Tasche.
Das mit dem Buch verstehe ich auch nicht:
Zitat: | blättert nach vorne, „Wann ist das Kapitel zu Ende?“ fragt er sich, rechnet die zu lesenden Seiten aus, subtrahieren, subtrahieren |
Welche Rolle spielt es für ihn, wann das Kapitel zu Ende ist?
Zitat: | Sie würde lächeln, verlegen auf den Boden schauen, die Wangen erröten sich, die Hände hinter ihrem Rücken halten. |
Diese Vorstellung knutscht Kitsch. Bei diesem Posing stelle ich mir ein kleines Mädchen vor, keine Frau. Vor allem die Geste mit den Händen hinter dem Rücken, während die Angebetete zu Boden blickt, geht für mich gar nicht.
Zitat: | Sie steht dort, entzückend in der Gestalt, |
I like.
Zitat: | (das schlechte Gewissen wird ihn später einholen) |
Den Satz würde ich streichen. Er dient nur dazu, den Verliebten nicht als rücksichtslosen Arsch dastehen zu lassen. Würde die Szene mit der alten dame einfach abmildern. Er muss sie ja nicht gleich schubsen, schieben tuts auch.
Zitat: | Beide sehen sich an, beide mit einem starren Blick, hören nicht auf, lassen nicht voneinander |
Das Markierte könnte mMn raus. Und ich würde mal über die Wiederholung nachdenken. Du sagst hier immer wieder dasselbe. Die Intensität wird auch so deutlich, ohne dass es der starre Blick ist, der nicht aufhört, nicht loslässt. Das "starre" ist schon deutlich, eines der anderen beiden kann definitiv weg.
Zitat: | Und während sein Zug abfährt, traut er sich, hält sein Schild hoch, das er seit einem halben Jahr bei sich trug |
"trägt"?
Mir würden ein paar Kommas weniger gefallen. Hier und da ein kräftiges Verb oder Adjektiv. Insgesamt einfach ein bissl weniger und dadurch mehr.
Gerne gelesen.
LG,
Seraiya
_________________ "Some people leave footprints on our hearts. Others make us want to leave footprints on their faces." |
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Uwe Helmut Grave Opa Schlumpf
Alter: 69 Beiträge: 1016 Wohnort: Wolfenbüttel
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05.07.2016 17:23
von Uwe Helmut Grave
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Anfangs hatte ich das Gefühl, es mit einem Stalker zu tun zu haben. Erst als auch sie ihn anschaute, wurde klar: Die trau'n sich beide nicht so recht.
Origineller Schluss - allerdings würde ich das "Schild" gegen ein Stück Pappe oder Papier austauschen. Zwar wurden präzise Angaben zur Größe gemacht, allerdings wirkte diese Szene auf mich zunächst unfreiwillig komisch: Da steht einer "bedröppelt" wie am Flughafen und hält ein Schild hoch, weil er jemanden abholen möchte, den er nicht kennt.
Wann genau soll das alles eigentlich spielen? Heißen heute tatsächlich noch junge Frauen Monika (so wie meine?). Oder habe ich das gesetzte Alter der Protagonisten überlesen?
_________________ U.H.G. - Freude am Lesen
"Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich!" - "Aber er hat ja gar nichts an!" (Hans Christian Andersen) - Die Welt ist anders(en) als sie es dir erzählen. |
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