Have you ever murdered a darling?

[Frettchen]

Hallo und einen wunderschönen Tag,

in letzter Zeit war ich häufiger dazu gezwungen, mich mit der ganzen "murder your darlings" Geschichte auseinanderzusetzen. Mein persönlicher Lieblingscharakter - der, für den ich meinen Roman größtenteils begonnen habe - wurde mit der Zeit immer weiter von der Geschichte verdrängt. Inzwischen funktioniert der Plot sehr gut - wenn nicht sogar besser - ohne ihn. Und obwohl ich das weiß, obwohl ich ihn bereits rausgestrichen habe (nicht ohne den Gedanken, ihm ein späteres Buch zu widmen) lässt er mich einfach nicht in Ruhe.
Manchmal lese ich Passagen mit ihm und bin sofort bereit, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, nur um ihn irgendwie wieder in das Buch zu bekommen.
Und dann frage ich mich: obwohl alle Instinkte bei mir schreien, dass ich ihn rauslassen soll, warum lässt er mich nicht in Ruhe? Warum drängt er sich wieder auf? Ist es richtig, meinem Instinkt zu vertrauen oder mache ich mir damit lediglich vieles einfacher, was mit einiger Arbeit doch lösbar wäre?

Das sind eher rhetorische Fragen. Ich weiß, was die meisten darauf antworten würden. Was mich eher interessiert ist, ob einer von euch schonmal entgegen jedem Instinkt einen "darling" behalten hat und wie es ihm dabei ergangen ist. Hat es funktioniert? Ist man selber daran gewachsen, ist die Geschichte daran gewachsen? Oder hat es alles ruiniert?

Ich freue mich sehr auf eure Erfahrungen!

Sonnige Grüße!

[Suenderlein]

Hallo Frettchen,

weiß nicht, ob ich dir helfen kann und erzähle mal aus meiner eigenen Erfahrung.
Eine meiner Regeln besagt: Höre auf deine erschaffenen Charaktere, sie erzählen eine Geschichte. Du musst sie nur aufschreiben.
In meinem Buch habe ich diese Regel missachtet und einen Charakter, wahrscheinlich ähnlich wie in deiner Geschichte, auslaufen, bzw. sterben lassen. Auch dieser Charakter ging mir nicht mehr aus dem Kopf, es fühlte sich nicht richtig an (besser kann ich es einfach nicht beschreiben). Ich gab diesem Charakter eine Vergangenheit, änderte zuerst einzelne Passagen, ließ ihn eine größere Rolle zukommen, strich dann seinen Tod und baute ihn wieder in die Geschichte ein. Es fühlte sich richtig an und heute arbeite ich an der Fortsetzung der Geschichte, in der er eine wesentlich wichtigere Rolle spielt.
Ich weiß nicht, ob diese Änderungen richtig waren , aber ich war viel zufriedener mit meinem Werk und habe diesen Schritt nicht bereut. Aber halte nicht krampfhaft an diesem Charakter fest. Höre einfach nur zu, sei dieser Charakter und frage dich, was er in deiner Geschichte noch zu sagen oder zu tun hat, dann wirst du die Lösung finden.

Vielleicht konnte ich dir ein wenig helfen. Wünsche dir viel Erfolg.

Gruß aus dem Ruhrpott

[Nina]

Hallo Frettchen,

bei meinem ersten Roman(-versuch) hatte ich auch eine Hauptfigur, die im Laufe der Geschichte zur Nebenfigur wurde. Ich habe versucht, sie "immer vorn" zu halten, aber irgendwie drängten immer wieder andere Figuren dorthin. Seltsamerweise wurde diese eine Hauptfigur durch gleich drei andere "unwichtiger". Ich ließ sie gewähren, aber die Geschichte, die ich eigentlich hatte erzählen wollen, hat darunter gelitten. Ich habe sie nicht erzählt, wie ich sie hatte erzählen wollen. Ich denke, ich werde die Geschichte irgendwann überarbeiten und vielleicht wird dann noch was draus.  Oder komplett neu anfangen mit der ursprünglichen Idee und dem ursprünglichen Protagonisten.

Danach habe ich einen anderen Roman geschrieben, bei der die Hauptfigur die Hauptfigur blieb. Dieser Roman gehört zwar auch noch bearbeitet, ist aber insgesamt "stimmig" mit dem, was ich hatte erzählen wollen. Der Grund für die unterschiedliche Erfahrung liegt vielleicht darin, dass ich beim ersten (o.g.) Roman schon das Ende wusste, als ich begann, die Geschichte zu erzählen. Vielleicht innerlich irgendwas, was frei sein wollte, keine Ahnung. Bei diesem (zweiten) Roman habe ich angefangen, ohne dass ich das Ende kannte (bzw. dorthin geschrieben habe!), da war es eine andere Erfahrung und vielleicht liegt (bei mir) der Grund darin, dass mir zu fest gesteckte Enden beim Schreiben eher hinderlich als förderlich sind.

Beim dritten Roman hatte ich einen Mischmasch aus beiden, d.h. eine Hauptfigur und einen starken Anfang und eine "Ahnung" von einem Ende, aber nicht mehr. Auch diese Geschichte habe ich zu Ende erzählt und auch diese Hauptfigur ist meine Hauptfigur geblieben.

Liebe Grüße
Nina

[Piratin]

Hallo Frettchen,

Du musst den Spruch nicht unbedingt auf die Charaktere beziehen, denn eigentlich sind damit nicht die Protas gemeint, die man um die Ecke bringt, sondern vielmehr bestimmte Sätze oder Passagen im Text, an denen das Herz hängt, die aber mancher Außenstehende nicht passend für genau diese Stelle empfinden mag. Also beschreibt der Aufruf den Weckruf an das Überarbeiten in aller nötigen Konsequenz. Fällt mir oft schwer und ich habe mittlerweile eine Sammlung von (meiner Meinung nach) gelungenen Sätzen oder Passagen, die aus der jeweiligen Geschichte verschwunden sind, aber so nicht aus meinem Leben.

[Frettchen]

Huhu,
erstmal danke für eure Antworten

[Carizard]

Hallo Frettchen,

deine Figur ist dir offensichtlich ans Herz gewachsen und du willst sie nicht aufgeben. Wenn du dir ganz sicher bist, dass sie für deine Geschichte nicht erforderlich bzw. hinderlich ist (und das solltest du vielleicht nochmals genau prüfen), dann lass sie weg. Aber da sie ausgefeilt und interessant ist, kannst du, wie du ja selbst schon meintest, diesen Charakter in einer anderen Geschichte verwenden. Auch dort solltest du dich nicht selbst unter den Zwang setzen, dass er unbedingt der protagonist werden muss. Auch Nebenfiguren dürfen toll und spannend sein und manchmal finden die Leser sie sogar gerade als Neben- und nicht als Hauptfigur interessant.
Vielleicht konnte ich dir damit ein bisschen helfen.

Lieben Gruß

Carizard

[Suenderlein]

Hallo Frettchen,

vielleicht solltest du ihm wirklich ein eigenes Buch widmen. Diese Geschichte mit deiner geliebten Nebenfigur könnte dann parallel zu deiner ersten Geschichte laufen und Handlungen in der ersten Geschichte aus einer anderen Sicht beinhalten. Ähnlich wie im Film "8 Blickwinkel", hört sich spannend an.

Viel Glück

Suenderlein