18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Antiquariat -> Dichte Weite 05/2015
Was ist ein Langgedicht?

 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
O Long Johnson
Hauptberuflicher Identitätenverwalter


Beiträge: 23



Beitrag10.05.2015 12:04
Was ist ein Langgedicht?
von O Long Johnson
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Langgedichte


Langgedichte. Was ist das, sind das lange Gedichte? Ja und nein. Bücher sind nun mal auch keine langen Kurzgeschichten. Langgedichte sind Gedichte zwar, aber eine eigene Textsorte (wie ein Sonett, wie ein Limerick eigene Textsorten sind).
Langgedichte bis ins Detail zu beschreiben, wird aber nicht funktionieren. Es gibt nur eine Regel:

Walter Höllerer hat Folgendes geschrieben:
„Im langen Gedicht will nicht jedes Wort besonders beladen sein. Flache Passagen sind nicht schlechte Passagen, wohl aber sind ausgedrechselte Stellen, die sich gegenwärtig mehr und mehr ins kurze Gedicht eingedrängt haben, ärmliche Stellen. [...] Subtile und triviale, literarische und alltägliche Ausdrücke finden im langen Gedicht zusammen.


Langgedichte sind eine Gratwanderung. Wenn ein Kurzgedicht hochprozentiger Kräuterschnaps ist, dann ist das Langgedicht eine Familienpackung Long Island Ice Tea. Das ist aber nicht schlimm: es knallt trotzdem.
Oder anders gesagt: Langgedichte können - ja, müssen es sich sogar leisten, erzählender zu wirken als Kurzgedichte. Beispiele für Langgedichte:

– Rolf Dieter Brinkmann: Ein Gedicht & Mondlicht in einem Baugerüst
– Peter Rühmkorf: Mit den Jahren ...
– Paulus Böhmer: Only Rock'n'Roll
– Gerhard Falkner: Entwurf einer Demolation
– T.S. Eliot: The Waste Land (auf Englisch)

Im Sachwörterbuch der Literatur von Gero Wilpert steht, das Langgedicht sei ein "mod. Formtyp des phil. Epos". Da steht auch, es sei mit der Verserzählung verwandt, einer "Sammelbz. für alle Formen kürzerer ep. Versdichtung". Oder mit dem russischen Poem: ["jede längere Versdichtung erzählenden oder gedankl. Inhalts (Puskin, Lermontov, Blok u.a.)"]
Wem das weiterhilft, darf das gerne mitnehmen.

Ansonsten, einige FAQs:

- Muss ein Langgedicht eine bestimmte Länge haben?
Nein, zumindest nicht der Literatur nach. Wir wollen im Dichte-und-Weite Wettbewerb aber trotzdem klar erkennbare Langgedichte vorliegen haben. Deshalb setzen wir die unterste Wortgrenze auf 250 Wörter, die oberste auf 700 Wörter - nicht, dass hier jemand ein hundertseitiges Gedicht schreibt.
- Gibt es spezielle Formvorgaben?
Nö. Ihr könnt reimen, pro Zeile ein Wort benutzen (die Mutigen machen dasselbe mit Buchstaben), im Blocksatz schreiben, die Form auflösen, etc. pp.

Bei weiteren Fragen steht euch das Team O Long Johnson jederzeit zur Verfügung.

Liebste Grüße,
Nihil und Eredor
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Rübenach
Geschlecht:männlichExposéadler
R


Beiträge: 2832



R
Beitrag25.05.2015 11:41

von Rübenach
Antworten mit Zitat

"Vier Strategien der Organisation des Textmaterials greifen beim Langgedicht ineinander: 1. Heterogenität der Formen, Kontexte, Sprachen; 2. Offenheit von Form und intendierter Aussage; 3. Diskontinuität inhaltlicher Bezüge; 4. Progressionsstruktur analog zur Prosanarration. -"

"- Gegenüber dem aus einem, emphatisch aufgeladenen Augenblick generierten kurzen Gedicht der Moderne (-> Plötzlichkeit) zeichnet sich das Langgedicht dadurch aus, dass sich zwischen seinen Einzelmomenten überraschende Zusammenhänge herstellen lassen."

(Metzler Lexikon Literatur)


_________________
"Vielleicht sollten mehr Leute Schreibblockaden haben." Joy Williams
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Aranka
Geschlecht:weiblichBücherwurm
A


Beiträge: 3106
Wohnort: Umkreis Mönchengladbach
Lezepo 2017 Pokapro und Lezepo 2014



A
Beitrag08.06.2015 17:20

von Aranka
Antworten mit Zitat

Hallo Nihil!

Schön, dass du auf meine Anmerkung eingegangen bist.

Mich hat das Forums-Projekt angeregt, mich mit dem Langgedicht zu beschäftigen und ein wenig nachzulesen, wie es entstanden ist; denn immer gibt es ein Bedürfnis, ein brennendes, wenn sich eine neue literarische Form den Weg bricht. Und in den Thesen von Höllerer 1965 wird ja auch sehr klar, dass es einen zeitgeschichtlichen/politischen Hintergrund gab.

Frei nach Höllerer: Das Langgedicht als Gegenbewegung, gegen Einengung, gegen Kurzatmigkeit und Festlegung.  Wer ein langes Gedicht schreibt, nimmt sich das Recht einer anderen Gangart, eines freizügigeren Blicks auf diese Welt und eines anderen Umgangs mit Realität und Sprache: und damit ist das Langgedicht schon der Form nach ein politisches.

Für mich stellt sich nun die Frage, was ist das Langgedicht  in seiner inneren Funktion? Welche Räume eröffnet es mir (auch heute)? Was ist es, dass eine Idee in die Form eines Langgedichtes drängt?

Sicherlich spielt da für mich diese andere Gangart eine Rolle. Die Möglichkeit, die ich habe, Ausführlichkeit und Gleichzeitigkeit herzustellen.
Gefahren sehe ich darin, die größere Formfreiheit mit Formlosigkeit zu verwechseln. Auch teilt die mögliche poetische „Ausdehnung“ ohne Verdichtung sich mit der Beliebigkeit eine Grenzlinie.
Ich bin für mich noch ein wenig auf der Suche. Nicht nach einer Definition, eher nach einer Einkreisung und nach ein paar Gewichtungen.

„Was kann ein Langgedicht? Was will es sein?“

Vielleicht sind andere ja auch noch auf der Suche. Vielleicht kann man auch einmal konkret an einem Langgedicht ein paar Kernmerkmale aufspüren und diskutieren? Das sollte dann aber ein „heutiger“ Text sein.

Wenn Interesse bestünde, könnte so ein Diskussionsfaden vielleicht unter dem Wettbewerb gestartet würde. Zumal ja die Idee geäußert wurde, das Langgedicht-Projekt zu etablieren.

Nihil, vielleicht ist das hier der falsche Ort für meine Gedanken. Dann bitte ich dich, sie einfach da hin zu schieben, wo sie besser stehen. Ich gebe das jetzt einfach mal in deine Moderatoren-Tätigkeit.

Liebe Grüße Aranka


_________________
"Wie dahingelangen, Alltägliches zu schreiben, so unauffällig, dass es gereiht aussieht und doch als Ganzes leuchtet?" (Peter Handke)

„Erst als ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.“ (Peter Handke)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nihil
{ }

Moderator
Alter: 34
Beiträge: 6039



Beitrag08.06.2015 22:20

von Nihil
Antworten mit Zitat

So, auf Wunsch von Aranka und weil ich es auch für eine gute Idee halte, habe ich an den früheren Informationsthread zwei Beiträge von Rübenach und Aranka angefügt. Der Faden ist jetzt nicht mehr gesperrt und steht ab sofort jedem, der sich über das Wesen, die Geschichte und die Möglichkeiten des Langgedichts austauschen möchte, zur Diskussion offen. Vielleicht kommt dabei ja etwas raus, das man beim nächsten Wettbewerb wiederverwenden kann.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Eredor
Geschlecht:männlichDichter und dichter

Moderator
Alter: 32
Beiträge: 3415
Wohnort: Heidelberg
Das silberne Stundenglas DSFx
Goldene Harfe Pokapro III & Lezepo I


Traumtagebuch
Beitrag09.06.2015 12:15

von Eredor
Antworten mit Zitat

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Und in den Thesen von Höllerer 1965 wird ja auch sehr klar, dass es einen zeitgeschichtlichen/politischen Hintergrund gab.


Uh, ja. Wenn ich eines über Literaturdefinitionen gelernt habe, dann dass man immer darauf achten sollte, wer sie aufgestellt hat. Im Langgedicht etwas politisches zu sehen, ist meiner Meinung nach schon die Sicht eines Schriftstellers, nicht mehr die eines Literaturwissenschaftlers. Ist etwa ein deutlich unpolitisches Liebesgedicht, dass alle formalen Eigenheiten eines Langgedichts aufweist (welche das für mich sind, möchte ich weiter unten sagen), kein Langgedicht mehr, weil es nicht politisch ist?
Oder wäre das nach Höllerer erst recht politisch?
Die Problematik ergibt sich für mich daraus, dass ich nicht weiß, was Höllerer unter dem Begriff "politisch" überhaupt versteht. Laut bspw. nikomachischer Ethik könnte man jedes Gedicht als politisch bezeichnen, auch das kurze, überhaupt jeden Text, jedes Ziel, jede Tätigkeit - dann wäre aber die von Höllerer verwendete Einordnung der Langgedichte in politische Texte redundant.

Nach meinem Gefühl ist nicht jedes Langgedicht gleich politisch, nur weil es eine andere Herangehensweise, einen freizügigeren Blick gibt. Wahr ist aber sicherlich, dass viele Langgedichte, die v.a. in der amerikanischen Beat-Bewegung entstanden sind, politischer Natur waren (oder zumindest Aspekte davon in sich vereinten). Ein Beispiel dafür wäre Howl von Allen Ginsberg, für mich ein ganz starker Text, der seinen Kern nicht unbedingt in der Politik trifft, sie aber durchaus tangiert. Dieses Gefühl des "tangierens" habe ich beim Schreiben und / oder Lesen von Langgedichten sehr oft. Bei vielen Autoren (auch hier im Wettbewerb) scheint das (bewusste oder unbewusste) Bedürfnis da zu sein, diese politischen Partikel über den Text zu verteilen. Wobei ich mich da immer frage, ob das wirklich ein Bedürfnis nach Politik ist, und nicht viel mehr der Versuch, unzählige semantische Einheiten, Bilder, Metaphern, Emotionen über das Langgedicht miteinander zu verbinden. Und so sehe ich am Ende ein Langgedicht: Wie einen gestrickten Schal, bei dem sich viele verschiedenfarbige Fäden zu einem ästhetischen Objekt zusammenfügen. Vielleicht liegt es dann in der Natur des Schreibers, auch unbewusst die Politik einzufädeln.

Also erkenne ich zwar einen Zusammenhang zwischen Langgedicht und Politik, bin mir aber auch sehr sicher, dass ich Höllerers These nicht folgen will.


Zitat:
Für mich stellt sich nun die Frage, was ist das Langgedicht  in seiner inneren Funktion? Welche Räume eröffnet es mir (auch heute)? Was ist es, dass eine Idee in die Form eines Langgedichtes drängt?


Gerade wenn wir vom heutigen Langgedicht ausgehen, fällt mir da sofort "Zum Wasser will alles Wasser will weg" von Paulus Böhmer ein, der damit ja dieses Jahr den Peter-Huchel-Preis gewonnen hat. Und wenn ich das mit bspw. Howl vergleiche, oder den Langgedichten Brinkmanns, Rühmkorffs, dann fällt mir immer sofort dieser Drive auf, der ein Langgedicht für mich ausmacht. Die Texte wirken so rauschhaft, als wären sie an einem Abend in einem Guss entstanden. Natürlich sind sie das nicht (auch wenn es einige der Autoren gerne von sich behauptet haben, ist nachgewiesen, dass sie Wochen, wenn nicht sogar Monate oder Jahre für ihre Langgedichte gebraucht haben). Allein diese Bewegungsrichtung, dieser Fluss fasziniert mich jedes mal aufs Neue, wenn ich Langgedichte lese. Im Gegensatz zu einem Kurzgedicht wirkt es auf mich wie ein Film, der in fünffacher Geschwindigkeit vorgespult wird. Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Gedicht seine eigene Lesezeitspanne hat, dann möchte das Langgedicht dieselbe Zeitspanne beanspruchen wie ein Kurzgedicht, aber in dieser Zeit viel mehr Informationen unterbringen - eben ein Vorspulen.
Und aus diesem Drive entsteht natürlich viel mehr die Möglichkeit, den Leser eintauchen zu lassen.
Bei deinen letzten Gedanken bin ich allerdings überfragt. Was ist es, das eine Idee in die Form eines Langgedichts drängt? Vermutlich eben dieser Fluss, der sie so rauschhaft wirken lässt. Ich denke, wenn ich wirklich von einem Gedanken, einer Idee besessen bin, so sehr, dass ich fast alles in meiner Wahrnehmung darauf transportieren kann, dann würde ich ein Langgedicht schreiben. Wenn ich nicht besessen bin, verliert das Langgedicht seine Funktion, Legitimation und läuft gleichzeitig auf Gefahr, mit beliebigen Bildern um sich zu schmeißen. Ja, doch, das ist es. Besessenheit.

Find's super, dass diese Diskussion entstanden ist. Danke, Aranka! smile

LG Dennis


_________________
"vielleicht ist der mensch das was man in den/ ersten sekunden in ihm sieht/ die umwege könnte man sich sparen/ auch bei sich selbst"
- Lütfiye Güzel
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Aranka
Geschlecht:weiblichBücherwurm
A


Beiträge: 3106
Wohnort: Umkreis Mönchengladbach
Lezepo 2017 Pokapro und Lezepo 2014



A
Beitrag10.06.2015 12:25

von Aranka
Antworten mit Zitat

Dennis, ich fand es spannend, deine Gedanken zum Langgedicht zu lesen. Du greifst für mich drei wichtige Aspekte auf und formulierst dazu eigene Gedanken und interessante Fragestellungen:

- einmal sprichst du das Politische des Langgedichtes an und machst hier für mich zu recht hinter Höllerers These ein Fragezeichen.
- zum anderen benennst du die besondere Art der Bewegung des Langgedichtes, du benennst sie mit Drive/Fluss und fängst sie im Attribut „rauschhaft“ ein. „ein Film in fünffacher Geschwindigkeit“
- dann nennst du „Besessenheit“ als vielleicht „Auslöser“ oder „Wirkkraft“, die einen Autor zu einem Langgedicht drängt.

Auch in diesem letzten Punkt bin ich sehr nah bei dir, wenn ich es auch für mich nicht mit „Besessenheit“ formuliert habe, kann ich dem Wort an der Stelle schon was abgewinnen.

 Ich werde heute Abend noch etwas Genaueres zu den von dir angesprochenen Punkten sagen und auch einmal versuchen, mein bisheriges Fazit zum „Langgedicht heute“  zu formulieren. Jetzt lockt mich erst einmal die Sonne weg vom Langgedicht, hinein in den Garten.

Ich wollte dich hier nur kurz wissen lassen, dass es mich freut, dass du uns alle an deinen Gedanken und Überlegungen teilhaben lässt.

Bis später. Aranka


_________________
"Wie dahingelangen, Alltägliches zu schreiben, so unauffällig, dass es gereiht aussieht und doch als Ganzes leuchtet?" (Peter Handke)

„Erst als ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.“ (Peter Handke)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
firstoffertio
Geschlecht:weiblichShow-don't-Tellefant


Beiträge: 5854
Wohnort: Irland
Das bronzene Stundenglas Der goldene Spiegel - Lyrik (1)
Podcast-Sonderpreis Silberner Sturmschaden


Beitrag15.06.2015 22:01

von firstoffertio
Antworten mit Zitat

Für mich war ein Langgedicht oder ein long poem bisher einfach ein langes Gedicht, und solche schreckten mich oft ab.

Ich will mich selbst gar nicht so eingehend mit der Form beschäftigen, werde hier aber gerne mitlesen.

Mir gefällt gut die Beschreibung, die Ruebenach zitiert hat. Da wurden mir am besten Möglichkeiten eines Langgedichtes vs eines kurzen klar.


Rauschhaftigkeit, Besessenheit und Politisches sind da für mich weniger interessant als die besondere Art der Bewegung.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Aranka
Geschlecht:weiblichBücherwurm
A


Beiträge: 3106
Wohnort: Umkreis Mönchengladbach
Lezepo 2017 Pokapro und Lezepo 2014



A
Beitrag15.06.2015 23:16

von Aranka
Antworten mit Zitat

Noch einmal ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Langgedichte nach 1965

Sucht man etwas über die Spezifik des Langgedichts in der Literatur, kommt man sicherlich nicht an den Thesen von Höllerer vorbei, und so wurde ja auch vor dem Wettbewerb in diesem Faden daraus zitiert.

Schaue ich jedoch in die neueren Langgedichte von Stolterfoht, Falkner oder anderen, sehe ich deutlich eine Entwicklung abseits dieser Thesen. Am ehesten finde ich „Höllerers Thesen“ noch bei Paulus Böhmer umgesetzt.

Nehme ich einmal die auch in diesem Faden zitierte These:

Zitat:
„Im langen Gedicht will nicht jedes Wort besonders beladen sein. Flache Passagen sind nicht schlechte Passagen, wohl aber sind ausgedrechselte Stellen, die sich gegenwärtig mehr und mehr ins kurze Gedicht eingedrängt haben, ärmliche Stellen. … . Subtile und triviale, literarische und alltägliche Ausdrücke finden im langen Gedicht zusammen.“


Das mag sicherlich für manch ein Gedicht (auch von Brinkmann) gelten, aber schaue ich in den Band „so beginnen am körper die tage“ von Gerhard Falkner oder noch spätere Langgedichte von ihm, so setzten sich seine Texte deutlich davon ab. Ebenso Thomas Kling oder Stolterfoht.
 Viele „Langgedichte“ der neueren Generation schlagen durchaus einen hohen Ton an und halten ihn über lange Distanzen durch, ohne manieristisch zu sein. Für mich wurden hier durchaus erkennbar artifizielle Maßstäbe an das Langgedicht gesetzt.

Die Publikationen von Langgedichten, es sind nicht wenige in den letzten Jahren gewesen, finde ich zum Teil großartig. Diese Gedichtform bietet eine unendliche Weite, spannt stilistisch einen großen Bogen und beleuchtet Wirklichkeit vielperspektivisch aus, ohne seine eindeutige Zugehörigkeit zur Lyrik in Frage zu stellen.

Ich versuche nun mal ganz simpel, die Entdeckungen, die ich für mich gemacht habe, aufzulisten und das Langgedicht in seinen Möglichkeiten zu kennzeichnen.
(Die Reihenfolge ist keine Rangordnung und alles kann gerne mit einem Fragezeichen versehen werden.)

Wann würde ich mich nun zu einem Langgedicht hingezogen fühlen?

1. wenn eine Thematik mich nicht mehr loslässt und sie sich so weitet, dass sie einen „Zeit-Raum“ beansprucht
2. wenn sich dieser Raum mit vielen Stimmen zu mir spricht und viele Stimmungen zeigt
3. wenn er mich mit unzähligen Kopfbildern und Erinnerungsfetzen bis in den Traum verfolgt
4. wenn mir eine Figur / eine Stimme nicht ausreicht und ein Motiv zu wenig erscheint
5. wenn sich ganze Motivketten vernetzen wollen
6. wenn es weder die eine Gangart gibt, diesen Raum zu durchschreiten, noch das eine Tempo oder den einen Ton
7. wenn ich Stille und Getöse, Emotion und Reflexion, Philosophisches neben Banalem gleichermaßen in den Blick nehmen will
8. wenn ich ebenso einen hohen wie einen saloppen Ton anschlagen möchte, oder einen ironisch distanzierten

Genau dann bietet sich vielleicht die Form des Langgedichts an; wahrscheinlich wird es sich auch erst im Schreiben zeigen, dass der Text sich dahin entwickelt.
Es ist nicht die Anzahl der Zeilen, die ein langes Gedicht zu einem Langgedicht macht, es ist für mich die „spezifische Weite“, die sich auch in der Formfreiheit, nicht Formlosigkeit zeigt.

Die Freiheit besteht darin, zwischen Versen mit fast narrativem Charakter und solchen, die ihre Energie aus der Versverdichtung beziehen, zu wechseln und damit auch Kontraste herzustellen, die dem ja oft von vielen Seiten beleuchteten Inhalt Wirkung geben. Ebenso bietet die Langform Raum für unterschiedliche „Sprachakte“: diese in unterschiedlichen Bewegungen auszugestalten, bis hin zur „Starre“ in der Einwortzeile. Auch kann der Ton hier durchaus eine Wendung bekommen, von ironisch, lakonisch über die Alltagsfloskel bis hin zum Pathos. Ein weiterer interessanter Aspekt ist für mich, dass das Langgedicht Zeit umfasst, Zeit in ihm vergeht und es dennoch auch Gleichzeitigkeit herstellt.

Was ich schwierig finde?

1. Die solide Vernetzung der Motivketten, damit es nicht zu einer Aneinanderreihung verkommt.
2. Die überzeugende Gestaltung der Ton- und Tempiwechsel.
3. Die lyrische Spannung in den prosanahen Passagen ausrecht zu erhalten.

Überhaupt ist es schon eine hohe Kunst, den Leser über so lange Strecken in einem „lyrischen Gebilde“ bei der Stange zu halten. Und da ist es mit Sicherheit die Textbewegung, der „Sound“ in den Zeilen, der hier eine tragende Rolle spielt.

Ich habe also einen ziemlichen Respekt vor allen, die es geschafft haben, sich in einem Langgedicht auf die wirklich interessante Wettbewerbs-Thematik einzulassen. Und das auch noch in der vorgegebenen Zeit.

Mich hat der Wettbewerb dazu angeregt, mich sowohl mit dem Textzitat, als auch mit dem Langgedicht zu beschäftigen. Vielleicht trägt beides ja irgendwann Früchte.


Dennis, jetzt noch mal zu zwei Punkten, die du ansprichst:

Ich hätte zwar von mir aus nicht das Wort „Besessenheit“ gefunden, aber wenn mich eine Idee so von allen Seiten angreift und ich mich auf seine vielen Stimmen einlasse und mich auch von den verschiedenen Bewegungen mitnehmen lasse, dann hat das schon etwas von Rausch und Besessenheit an sich, auf jeden Fall etwas ganz Intensives.

Jetzt noch kurz zum „Politischen“ des Langgedichts. Ich weiß natürlich auch nicht genau, was Höllerer damit gemeint hat. Ich denke mal: aus seiner Zeit gesehen war es vielleicht die Wiederentdeckung der Wirklichkeit, die sich im Langgedicht Raum suchte. Nach einer Zeit des Schweigens will sich das „neue LI“ mitteilen, will seine Wirklichkeit nicht von seinen Texten abtrennen. Es ist also nicht unbedingt das Subjekt des Gedichtes, als mehr die Haltung des Schreibers, die eine politische ist. Und die Haltung des Schreibers bestimmt den Ton, den Duktus und dieser hat hier ausreichend Raum, sich deutlich zu zeigen. Die Reibung, der Widerspruch ist nicht einer, der sich nur im Innenraum des LI abspielt, er hat reale Orte.

In ersten Linie habe ich diese Abklärung für mich betrieben und sehe diese Gedanken als ein vorläufiges und bruchstückhaftes Ergebnis an. Vielleicht und hoffentlich führen mich meine eigenen Schreiberfahrungen zu weiteren und tieferen Erkenntnissen.

Vielleicht interessiert es den ein oder anderen, die sich zur Zeit auch mit dem Langgedicht beschäftigt.


_________________
"Wie dahingelangen, Alltägliches zu schreiben, so unauffällig, dass es gereiht aussieht und doch als Ganzes leuchtet?" (Peter Handke)

„Erst als ihm die Welt geheimnisvoll wurde, öffnete sie sich und konnte zurückerobert werden.“ (Peter Handke)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Nihil
{ }

Moderator
Alter: 34
Beiträge: 6039



Beitrag15.06.2015 23:58

von Nihil
Antworten mit Zitat

Tolle Aufbereitung, Aranka! Besonders deine acht Merkmale oder Thesen finde ich hilfreich und richtig. Ich geh gleich rein:

Aranka hat Folgendes geschrieben:
1. wenn eine Thematik mich nicht mehr loslässt und sie sich so weitet, dass sie einen „Zeit-Raum“ beansprucht

Ich denke, damit hast du Recht. Nicht (mehr) das Einfangen eines Augenblicks ist zentral, sondern eher eine Entwicklung, oder eine multiperspektivische Darstellung zumindest. Mehr Facetten, mehr Übersicht. Aber dennoch der Lyrik treu, das heißt in diesem Fall, man ist weniger an eine strenge Narrativik oder Handlungsbogen gebunden, die vielleicht manche Sprünge, die in der Lyrik möglich sind, nicht so zulassen würde.

Zitat:
2. wenn sich dieser Raum mit vielen Stimmen zu mir spricht und viele Stimmungen zeigt

Trifft sich mit dem, was ich oben gesagt habe. Viel(schichtig)e Aspekte eines Themas. Du sprichst aber auch die Schwierigkeit an, diese kontrastierenden Bereiche harmonisch miteinander zu verknüpfen. Siehst du da eine Möglichkeit, das elegant zu lösen?

Zitat:
3. wenn er mich mit unzähligen Kopfbildern und Erinnerungsfetzen bis in den Traum verfolgt

Würde ich als Merkmal jedes guten Kunstwerks gelten lassen. Da sehe ich nicht den speziellen Verdienst des Langgedichts.

Zitat:
4. wenn mir eine Figur / eine Stimme nicht ausreicht und ein Motiv zu wenig erscheint
7. wenn ich Stille und Getöse, Emotion und Reflexion, Philosophisches neben Banalem gleichermaßen in den Blick nehmen will
8. wenn ich ebenso einen hohen wie einen saloppen Ton anschlagen möchte, oder einen ironisch distanzierten

Also wieder Pluralität. Ja.

Zitat:
5. wenn sich ganze Motivketten vernetzen wollen

Das finde ich auch interessant, denn ich finde auch nach wie vor, dass es hohe Qualität ausmacht, wenn ein Werk wie aus einem Guss erscheint. Da gibt es ja auch sehr unterschiedliche Ansichten, aber wenn man etwa verschiedene Schrifttypen in verschiedenen Größen verwendet, ist das für mich hässlich. Ebenso gilt das auf anderer Ebene, wenn man ein Thema, ein besonders hervorstechendes Wort usw. nur einmal nennt, so dass ein gewisses „Ungleichgewicht“ entsteht. Ich kann es leider nur schlecht erklären. Das ist für mich wie bei dem Gemälde eines Dschungels, bei dem ein bestimmter, markanter Grünton nur an einer Stelle auftaucht, wie ein Fehler erscheint. Vielleicht kann man besser Anklänge eines Themas oder einer Stimmung in unterschiedlichen Intervallen im Gedicht vereilen, um es „gefügt“ erscheinen zu lassen.

Zitat:
6. wenn es weder die eine Gangart gibt, diesen Raum zu durchschreiten, noch das eine Tempo oder den einen Ton

Das finde ich auch spannend, weiß aber nicht, ob ich dem so zustimmen kann. Man tut doch sein Möglichstes, um bestimmte Rhythmen Klänge, Tempi zu gestalten, die man in bestimmten Auenblicken haben möchte. Oder meinst du eben, dass man sich als Dichter ein Thema wählt, das eben so oder so angegangen werden könnte? Aber das träfe ja auch wieder auf vieles zu.



Zum Politischen:
Die neue Bekenntnis zur politischen und gesellschaftlichen Aussage, dem Streben nach Wandlung, das Hintersichlassen des Kriegs, das passt alles natürlich wunderbar in die Zeit. Davon abgesehen hat es politische Gedichte schon immer gegeben. Bei den Römern persiflierte und denunzierte man öffentliche Personen mit Gedichten. Die lange Form des Langgedichts bietet aber ein Mehr an Möglichkeiten für eine echte Darstellung, Argumentation, und somit mehr Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der eigenen Position. Heines Weberlied ist politisch motiviert, kommt aber über das Thema und Parteiergreifung für die Weber nicht hinaus. Im Langgedicht könnte die Problematik mit lyrischen Mitteln zwar, aber dennoch genauer ausgestaltet werden, so dass sie unmittelbar erfahrbar wird.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
firstoffertio
Geschlecht:weiblichShow-don't-Tellefant


Beiträge: 5854
Wohnort: Irland
Das bronzene Stundenglas Der goldene Spiegel - Lyrik (1)
Podcast-Sonderpreis Silberner Sturmschaden


Beitrag16.06.2015 00:32

von firstoffertio
Antworten mit Zitat

Nihil hat Folgendes geschrieben:

Zitat:
6. wenn es weder die eine Gangart gibt, diesen Raum zu durchschreiten, noch das eine Tempo oder den einen Ton


Das finde ich auch spannend, weiß aber nicht, ob ich dem so zustimmen kann. Man tut doch sein Möglichstes, um bestimmte Rhythmen Klänge, Tempi zu gestalten, die man in bestimmten Auenblicken haben möchte. Oder meinst du eben, dass man sich als Dichter ein Thema wählt, das eben so oder so angegangen werden könnte? Aber das träfe ja auch wieder auf vieles zu.



In 6. lese ich hinein: Dass man eben nicht so eindeitig aussagen und oder gestalten muss, sondern Widersprueche, Fragen, nicht Entschiedenes, nicht Beurteiltes, nicht Abgeschlossenes , Vielschichtiges usw. in so einem Langgedicht aufheben kann, inhaltlich und formal. Nicht?
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Antiquariat -> Dichte Weite 05/2015
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Diskussionen zu Genre und Zielgruppe
Was ist New Adult?
von Chandrian
Chandrian Diskussionen zu Genre und Zielgruppe 3 23.04.2024 21:23 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Feedback
Eine Frau wie ich hat immer ein Gehei...
von Hera Klit
Hera Klit Feedback 0 23.04.2024 09:26 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Eure Gewohnheiten, Schreibhemmung, Verwirrung
Was ist euer Prozess für den zweiten...
von Algernon
Algernon Eure Gewohnheiten, Schreibhemmung, Verwirrung 5 22.04.2024 21:21 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Rechtliches / Urheberrecht / Copyright
Nach Vertragsabschluss wird der Verla...
von Mion
Mion Rechtliches / Urheberrecht / Copyright 32 22.04.2024 12:05 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Rezensionen
,,Die Ärztin“- ein Theaterstück m...
von Oneeyedpirate
Oneeyedpirate Rezensionen 0 19.04.2024 22:53 Letzten Beitrag anzeigen

BuchEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlung

von zwima

von Oktoberkatze

von Pütchen

von V.K.B.

von Hitchhiker

von Fao

von BerndHH

von Paradigma

von Ralphie

von Mogmeier

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!