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Galigalo, dawai


 
 
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Papa Schlumpf
Geschlecht:männlichEselsohr

Alter: 64
Beiträge: 373
Wohnort: Friedersdorf


Beitrag21.01.2015 18:12
Galigalo, dawai
von Papa Schlumpf
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo, Freunde,
nachdem ich mit meinen Weisheiten und Meinungen ausreichend genervt habe stelle ich, hoffend auf Meinungen und Kritik, selbst mal wieder was zur Diskussion.

Galigalo, dawai!
Hans-Christian war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen und sprach daher ein wenig mehr Englisch als gewöhnliche Abiturienten, die ihren Not-Abschluss aus dem 44-er Jahr als Kriegsheimkehrer wiederholen mussten. Wie es zu jener Zeit an jenem Ort üblich war, fragte niemand nach Berufswünschen. Der Chemiebegeisterte wurde Schauspieler, der Physikfreak Chemiker. Und Hans-Christian?
„Du kannst Englisch? Wir brauchen Lehrer!“ So wurde er Lehrer, was nicht unbedingt zu seinen Interessen gehörte. Zumindest teilweise konnte er seine Vorstellungen dennoch durchsetzen. Als Bibliophiler und Literaturkenner durfte er als zweites Fach Deutsch wählen.
Seine Leidenschaft für Bücher lebte er exzessiv aus, als er die Bibliothek unserer Schule unterstellt bekam. Denn dort lagerten nicht nur die Klassensätze von „Wie der Stahl gehärtet wurde“, dem „Menschenschicksal“, „Kabale und Liebe“ und dem „Faust“. Unsere Penne hatte eine alte Klosterschule beerbt, die einst in diesen Räumen residierte. In der Bibliothek lagen neben Inkunabeln noch einige wesentlich ältere Exemplare, weit vor Gutenberg von Kopisten handschriftlich gefertigt und reich illustriert. Wenn ich Hans-Christian, in dreißig Jahren Schuldienst würdevoll gealtert, zwischen seinen Büchern sah, mit den Baumwollhandschuhen vorsichtig blätternd, lesend, Notizen verfassend, so empfand ich das wie ein Déjà-vu. So stellte ich mir den Büchernarren vor.
Weil Hans-Christian als so belesen und musisch interessiert galt, bekam er den Auftrag einen „Kulturabend“ zu gestalten. Er suchte sich also unter den Talenten das Beste aus, was die Schülerschaft zu bieten hatte. Ich gehörte dazu, und er hatte etwas ganz Besonderes für mich herausgesucht. Ich sollte aus einem Roman rezitieren, „Die Aula“ von Hermann Kant. Hans-Christian drückte mir das Buch in die Hand – obgleich ich es in doppelter Ausfertigung daheim besaß –, einen Zettel dazu mit Seitenzahlen, ich möge mir das schon mal durchlesen, die Geschichte mit dem „Galigalo“, nächste Woche sei Probe.
Obwohl ich den Roman kannte, sagte mir Hans-Christians Stichwort überhaupt nichts. Als ich mir später den Zettel durchlas, überkam mich einiger Unmut. Es handelte sich um vier Seiten. Bei dieser kleinen Schrift! Meinen anderntags ausgesprochenen Wunsch nach Kürzung, zumindest Einstreichen des umfangreichen Textes lehnte Hans-Christian ab.
„Lies doch erst einmal. Du wirst sehen, da ist nichts zu streichen“, beschied er und hatte recht. Da war nichts zu streichen oder zu kürzen. Mein erstes Lautlesen brauchte zwanzig Minuten. Ich bekam Zweifel, ob Hans-Christian sich das gut überlegt hatte. Sicher, der Text war kurzweilig, aber zwanzig Minuten für Solostimme sind auch für das Publikum anstrengend.
In dem Ausschnitt schildert der Romanheld, der die sowjetische Kriegsgefangenschaft in einem polnischen Lager erlitt, eine eher heitere Begebenheit aus dieser Zeit. Die Baukommandos in diesem Camp mussten auf dem Weg zur und von der Arbeit singen. Die durchweg weibliche und russische Bewachung gab dazu das Kommando „Galigalo“, nach irgendeinem deutschen Volkslied. Eines Tages wurde unser Held aus dem Kommando gefischt und von einer beeindruckend großen Soldatin in die Küche gebracht, Kartoffeln zu schälen. Doch kaum saß er vor dem Riesenbottich, ertönte das Kommando: „Galigalo, dawai!“ Da hat er dann gesungen, alles was ihm einfiel, nur das Horst-Wessel-Lied verkniff er sich. Aber die Küchensoldaten wollten immer mehr, bis er anfing zu dichten, irgendwelche Texte zu irgendwelchen Melodien, weil ihm eine Scheißangst im Nacken saß, vor der beeindruckend großen Frau und ihrer Riesenflinte.
Zu jeder Probe musste ich diesen elend langen „Riemen“ vorlesen. Damit bildete ich allerdings den letzten Tagesordnungspunkt der Probe, die Anderen packten ihr Ränzlein und verschwanden, wenn ich anfing. Ich kannte Hans-Christian. Mir hätte klar sein müssen, dass er damit etwas bezweckte. Doch was, das begriff ich erst viel später, zunächst fühlte ich mich zurückgesetzt und war verärgert.
Der Abend kam wie gewöhnlich mit heftigem Lampenfieber. Das ist normal. Im Parkett versammelten sich etliche Honoratioren und ein gut Teil der Elternschaft. Ich saß auf meinem Schemel in einer Ecke der Bühne unserer Aula. Ein Streichquartett. Naturlyrik. Flötensolo, anschließend eine Serenade. Etwas Eigendichtung, sehr düster und verschlüsselt. Zwei Etüden am Piano. Bis hierher alles getragen, ernst, traurig fast. Jetzt ich.
Eigentlich wollte ich ja lesen. Doch als ich nun ins Buch schaute, musste ich feststellen, dass dieses Vorhaben ausfallen musste. Ich konnte keinen Buchstaben erfassen. Meine Hände flatterten wie die Schmetterlinge über der Wiese. Sie schüttelten das Buch wie der Leiterwagen seine Insassen bei der Fahrt über Sturzäcker. Von dem, was da gedruckt auf den Seiten dieses Buches stand erkannte ich nichts. So ähnlich muss sich ein Analphabet fühlen, dachte ich, und schwieg einen Moment. Wie begann der Text? Hans-Christian in der ersten Reihe erbleichte.
Den kannst Du jetzt nicht hängen lassen, sagte ich mir, er hat dich sieben Proben lang durch diesen Text gequält, dich geschunden, damit die Chose heute läuft, vom auswendig lernen hätte er dich nie und nimmer überzeugt ... Da fiel mir der erste Satz ein.
„Ja, mit Gefangenschaft ist sie ...“ begann ich und sah ins Buch, ob sich die Buchstaben zu erkennen gaben. Nein, das war nicht der Fall. Also begann ich, aus dem Kopf zu zitieren. Hin und wieder ein Kontrollblick – nein, die vage Hoffnung, meine Hände könnten sich beruhigen, wäre ich erst einmal im Vortrag ein Stück fortgeschritten, erfüllte sich nicht. Sie erweckten den Eindruck, das Schmetterlingsflattern gegen den Flug der Fledermaus eintauschen zu wollen. Oder ein Auto mit quadratischen Rädern. Ich griff das Buch fester, dass es nicht herunterfalle, blätterte an der richtigen Stelle um, wie mir Hans-Christian später bestätigte, und widmete meinen Blick fürderhin gänzlich dem Publikum. Regel Nummer eins beim Vortrag: Blickkontakt. Und mein Publikum krümmte sich. Keiner wagte zu lachen, nach all dem Ernst vorher. Sie verkniffen sich mit aller Gewalt jeden Laut. Obwohl sie das Amüsement, das ich servierte, in vollen Zügen genossen. Ich selbst war am Ende erstaunt, dass ich den Text wirklich und fehlerfrei aus dem Kopf in die Runde gerufen hatte. Naja, gesprochen.
Hatte Hans-Christian geahnt, dass mir das Lampenfieber das Lesen verwehren würde? Dass ich den Text bei Bedarf aus dem Hut holen konnte, war jedenfalls Sinn seiner Proben gewesen, und seine Rechnung war aufgegangen.
Das ist jetzt eine ganze Reihe von Jahren her, in denen Umwälzendes geschah. Hans-Christian lebt schon lang nicht mehr. Der Autor der „Aula“ geriet inzwischen in Verruf, als Oberschriftsteller des untergegangenen Landes, man kennt das Buch nicht mehr. Vielleicht kommen wir irgendwann dazu, zwischen Texten und ihren Schreibern eine Grenze zu ziehen, die Literatur zu betrachten unabhängig von Befindlichkeiten gegenüber dem Literaten. Ich schwoff oder schwiff? Schweifte jedenfalls gerade ab.
Vor wenigen Tagen stieß ich auf der Straße beinah mit einem älteren Herrn zusammen. Der Herr kniff ein Auge zusammen, lehnte sich zurück, hielt den Kopf schief, richtete sich plötzlich wieder auf und schnalzt mit der Zunge. „Galigalo? Dawai!“, sagt er.



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Constantine
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Beiträge: 3311

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Beitrag21.01.2015 23:01
Re: Galigalo, dawai
von Constantine
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Lieber Papa Schlumpf,

Danke für deine schöne Kurzgeschichte. Mich als Leser hast du mitgenommen, in einen Schwank aus dem Leben deines Erzählers, dazu spüre ich ein Mitschwingen der Leidenschaft und Magie für das geschriebene und gesprochene Wort und eine Mentor-Schüler-Beziehung zweier Bibliophiler, mit unterschiedlichem zeithistorischen Background: Hans-Christian als junger Mann zum Zeitpunkt Null in Deutschland und dein Erzähler, der vermutlich gegen Ende der 50er/um 1960 geboren sein müsste.

Ich möchte dir einige Anmerkungen zu deinem Text da lassen, was mir aufgefallen ist:
Der Anfang mit der kurzen Vorgeschichte von Hans-Christian erscheint mir persönlich etwas zu detailliert in manchen Punkten, auch von der Perspektive deines Schüler-Erzählers als zu informativ. Beim Lesen fragte ich mich, woher weiß der Schüler so viel über seinen Lehrer Hans-Christian? Ist es üblich seinen Lehrer beim Vornamen zu nennen? Wenn ich mich an meine Lehrer erinnere, dann fällt mir eher der Nachname ein, von den wenigsten kannte ich den Vornamen und auch heute würde ich sie eher mit dem Nachnamen anreden als mit dem Vornamen.
(ich markiere den Anfang deiner Geschichte rot). Wenn du all diese Infos, die der Schüler über seinen Lehrer besitzt, verwenden möchtest, könnte ich mir vorstellen, dass dies der Lehrer seinen Schülern mal erzählt haben könnte und dann würde ich es im Text auch erwähnen, dass der Erzähler Berichtetes von seinem Lehrer erzählt. So in dieser Form ist mir die Quelle der Informationen über Hans-Christian etwas zu schwammig.

Einige Kleinigkeiten markiere ich noch im Text, wo ich gestolpert bin:
Papa Schlumpf hat Folgendes geschrieben:

Galigalo, dawai!
Hans-Christian war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen und sprach daher ein wenig mehr Englisch als gewöhnliche Abiturienten, die ihren Not-Abschluss aus dem 44-er Jahr als Kriegsheimkehrer wiederholen mussten. Wie es zu jener Zeit an jenem Ort üblich war, fragte niemand nach Berufswünschen. Der Chemiebegeisterte wurde Schauspieler, der Physikfreak Chemiker. Und Hans-Christian?
„Du kannst Englisch? Wir brauchen Lehrer!“ So wurde er Lehrer, was nicht unbedingt zu seinen Interessen gehörte. Zumindest teilweise konnte er seine Vorstellungen dennoch durchsetzen. Als Bibliophiler und Literaturkenner durfte er als zweites Fach Deutsch wählen.

Seine Leidenschaft für Bücher lebte er exzessiv aus, als er die Bibliothek unserer Schule unterstellt bekam. Denn dort lagerten nicht nur die Klassensätze von „Wie der Stahl gehärtet wurde“, dem „Menschenschicksal“, „Kabale und Liebe“ und dem „Faust“. Unsere Penne hatte eine alte Klosterschule beerbt, die einst in diesen Räumen residierte oder: residiert hatte. In der Bibliothek lagen neben Inkunabeln noch einige wesentlich ältere Exemplare, weit vor Gutenberg von Kopisten handschriftlich gefertigt und reich illustriert. Wenn ich Hans-Christian, in dreißig Jahren Schuldienst <-- es ist mindestens 1974, ich vermute vielleicht einige Jahre mehr, weil Hans-Christian 1944 mit seiner Lehrerausbildung angefangen hat. würdevoll gealtert, zwischen seinen Büchern sah, mit den Baumwollhandschuhen vorsichtig blätternd, lesend, Notizen verfassend, so empfand ich das wie ein Déjà-vu. So stellte ich mir den Büchernarren <-- vielleicht könnte dies näher ausgeführt werden, welche Beziehung dein Protagonist zum Bild des Büchernarren hat? So steht mir dieses Déjà-vu zu sehr einfach nur im Raum. vor.
Weil Hans-Christian als so belesen und musisch interessiert galt, bekam er den Auftrag einen „Kulturabend“ zu gestalten. Er suchte sich also <-- vielleicht etwas zu pingelig, aber die kurzen Abfolgen von "so", "als so" und "also" empfand ich als sprachlich nicht fein austariert und ich würde sie in diesen Passagen überdenken. unter den Talenten das Beste aus, was die Schülerschaft zu bieten hatte. Ich gehörte dazu, und er hatte etwas ganz Besonderes für mich herausgesucht. Ich sollte aus einem Roman rezitieren, „Die Aula“ von Hermann Kant. Hans-Christian drückte mir das Buch in die Hand – obgleich ich es in doppelter Ausfertigung daheim besaß <-- Wofür ist diese Info wichtig und was ist ihre Konsequenz? In dieser Form finde ich diese Info  irrelevant für den Leser. Wenn es wichtig ist, warum?  –, einen Zettel dazu mit Seitenzahlen, ich möge mir das schon mal durchlesen, die Geschichte mit dem „Galigalo“, nächste Woche sei Probe.
Obwohl ich den Roman kannte, sagte mir Hans-Christians Stichwort überhaupt nichts. Als ich mir später den Zettel durchlas, überkam mich einiger Unmut. Es handelte sich um vier Seiten. Bei dieser kleinen Schrift! Meinen anderntags ausgesprochenen Wunsch nach Kürzung, zumindest Einstreichen des umfangreichen Textes(Komma?) lehnte Hans-Christian ab.
„Lies doch erst einmal. Du wirst sehen, da ist nichts zu streichen“, beschied er und hatte recht. Da war nichts zu streichen oder zu kürzen. <-- was ist der Unterschied zwischen Streichen und Kürzen? Ich würde diesen Satz streichen, weil mit "und hatte recht" die folgenden Wortwiederholungen unnötig sind. Mein erstes Lautlesen brauchte zwanzig Minuten. Ich bekam Zweifel <-- würde ich etwas direkte formulieren: "bezweifelte" oder "zweifelte" , ob Hans-Christian sich das gut überlegt hatte. Sicher, der Text war kurzweilig, aber zwanzig Minuten für Solostimme sind Ich bin mir nicht sicher aufgrund des verwendeten Präsens. auch für das Publikum anstrengend.
In dem Ausschnitt schildert der Romanheld, der die sowjetische Kriegsgefangenschaft in einem polnischen Lager erlitt, eine eher heitere Begebenheit aus dieser Zeit. Die Baukommandos in diesem Camp mussten auf dem Weg zur und von der Arbeit singen. Die durchweg weibliche und russische Bewachung gab dazu das Kommando „Galigalo“, nach irgendeinem deutschen Volkslied. Eines Tages wurde unser Held aus dem Kommando gefischt und von einer beeindruckend großen Soldatin in die Küche gebracht, Kartoffeln zu schälen. Doch kaum saß er vor dem Riesenbottich, ertönte das Kommando <-- etwas viel Kommando in dieser Passage. Vielleicht kannst du auch Synonym "Befehl", "Order" für das "Galigalo"-Kommando verwenden. : „Galigalo, dawai!“ Da hat er dann gesungen, alles was ihm einfiel, nur das Horst-Wessel-Lied verkniff er sich. Aber die Küchensoldaten wollten immer mehr, bis er anfing zu dichten, irgendwelche Texte zu irgendwelchen Melodien, weil ihm eine Scheißangst im Nacken saß, vor der beeindruckend großen Frau und ihrer Riesenflinte.
Zu jeder Probe musste ich diesen elend langen „Riemen“ vorlesen. Damit bildete ich allerdings den letzten Tagesordnungspunkt der Probe, die Anderen packten ihr Ränzlein und verschwanden, wenn ich anfing. Ich kannte Hans-Christian. Mir hätte klar sein müssen, dass er damit etwas bezweckte. Doch was, das begriff ich erst viel später, zunächst fühlte ich mich zurückgesetzt und war verärgert.
Der Abend kam wie gewöhnlich mit heftigem Lampenfieber. Das ist normal. <-- würde ich weglassen, weil es redundant zum "wie gewöhnlich" ist. Hinzu reißt es mich etwas raus und schafft Distanz zur Szene. Im Parkett versammelten sich etliche Honoratioren und ein gut Teil der Elternschaft. Ich saß auf meinem Schemel in einer Ecke der Bühne unserer Aula. Ein Streichquartett. Naturlyrik. Flötensolo, anschließend eine Serenade. Etwas Eigendichtung, sehr düster und verschlüsselt. Zwei Etüden am Piano. Bis hierher alles getragen, ernst, traurig fast. Jetzt ich.
Eigentlich wollte ich ja lesen. Doch als ich nun ins Buch schaute, musste ich feststellen, dass dieses Vorhaben ausfallen musste. <-- ich würde den Satz umformulieren, um ein "musste" einzusparen und dadurch näher am Protagonisten zu sein. z.B. "ich stellte fest, dass... " Ich konnte keinen Buchstaben erfassen. Meine Hände flatterten wie die Schmetterlinge über der Wiese. Sie schüttelten das Buch wie der Leiterwagen seine Insassen bei der Fahrt über Sturzäcker. <-- ein Vergleich würde mir reichen. Zwei in direkter Abfolge zur gleichen Zittrigkeit der Hände, finde ich zu viel. Von dem, was da gedruckt auf den Seiten dieses Buches stand(Komma) erkannte ich nichts. So ähnlich muss sich ein Analphabet fühlen, dachte ich, und schwieg einen Moment. Wie begann der Text? Hans-Christian in der ersten Reihe erbleichte.
Den kannst Du jetzt nicht hängen lassen, sagte ich mir, er hat dich sieben Proben lang durch diesen Text gequält, dich geschunden, damit die Chose heute läuft, vom auswendig lernen hätte er dich nie und nimmer überzeugt ... Da fiel mir der erste Satz ein.
„Ja, mit Gefangenschaft ist sie ...“(Komma) begann ich und sah ins Buch, ob sich die Buchstaben zu erkennen gaben. Nein, das war nicht der Fall. Also begann ich, aus dem Kopf zu zitieren. Hin und wieder ein Kontrollblick – nein, die vage Hoffnung, meine Hände könnten sich beruhigen, wäre ich erst einmal im Vortrag ein Stück fortgeschritten, erfüllte sich nicht. Sie erweckten den Eindruck, das Schmetterlingsflattern gegen den Flug der Fledermaus eintauschen zu wollen. Oder ein Auto mit quadratischen Rädern. <-- ich denke, auf den zweiten Vergleich könntest du verzichten, oder du lässt die Vergleiche mit den Schmetterlingen weg, wenn dir der Vergleich mit den quadratischen Rädern besser gefällt, vom Gefühl des Nicht-Vorwärtskommens. Ich griff das Buch fester, dass es nicht herunterfalle, blätterte an der richtigen Stelle um, wie mir Hans-Christian später bestätigte, und widmete meinen Blick fürderhin gänzlich dem Publikum. Regel Nummer eins beim Vortrag: Blickkontakt. Und mein Publikum krümmte sich. Keiner wagte zu lachen, nach all dem Ernst vorher. Sie verkniffen sich mit aller Gewalt jeden Laut. Obwohl sie das Amüsement, das ich servierte, in vollen Zügen genossen. <-- Woran schlussfolgert das der Protagonist oder kann seine Deutung des Publikums belegen? Für mich müsste er ziemlich nervös sein und diese Beschreibungen sind mit etwas zu dick aufgetragen. Ich selbst war am Ende erstaunt, dass ich den Text wirklich und fehlerfrei aus dem Kopf in die Runde gerufen hatte. Naja, gesprochen.
Hatte Hans-Christian geahnt, dass mir das Lampenfieber das Lesen verwehren würde? Dass ich den Text bei Bedarf aus dem Hut holen konnte, war jedenfalls Sinn seiner Proben gewesen, und seine Rechnung war aufgegangen vielleicht eher: ging auf.
Das ist jetzt eine ganze Reihe von <-- ich bin wegen des Ausdrucks nicht sicher. Dein Protagonist drückt sich hier und da etwas "altmodisch" aus. Vielleicht passt diese Formulierung dazu, vielleicht auch nicht. Jahren her, in denen Umwälzendes geschah <-- vielleicht: geschehen ist. Hans-Christian lebte schon lang nicht mehr. Der Autor der „Aula“ geriet inzwischen in Verruf, als Oberschriftsteller des untergegangenen Landes, man kennt das Buch nicht mehr. Vielleicht kommen wir irgendwann dazu, zwischen Texten und ihren Schreibern eine Grenze zu ziehen, die Literatur zu betrachten unabhängig von Befindlichkeiten gegenüber dem Literaten. Ich schwoff oder schwiff? Schweifte jedenfalls gerade ab.
Vor wenigen Tagen stieß ich auf der Straße beinah mit einem älteren Herrn zusammen. Der Herr kniff ein Auge zusammen, lehnte sich zurück, hielt den Kopf schief, richtete sich plötzlich wieder auf und schnalzt mit der Zunge. „Galigalo? Dawai!“, sagt sagte er.


Vielleicht ist etwas Hilfreiches dabei.

Gerne gelesen.

LG,
Constantine
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Papa Schlumpf
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Beitrag22.01.2015 17:57

von Papa Schlumpf
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Hallo, Constantine,
aber sicher doch ist Hilfreiches dabei. Einiges ging mir einfach durch die Lappen, das muss verändert werden, als so - also zum Beispiel.
Das wesentliche Problem aber, auf das Du den Finger legst, war mir bisher nicht bewusst. In der "Aula" wie im Leben des Lehrers (auch dem meiner Eltern) spielt die Zeit nach Kriegsende die Schlüsselrolle, diese Zeit des Umbruchs prägte stärker als das Vorher und Danach. Deshalb gehörte dieser Roman zu den ganz wichtigen Dingen im Kulturleben der Sechziger in dieser Gegend. Und an der Stelle versagt mein Text. Dem inhaltlichen Anspruch wird er nicht gerecht, weil er voraus setzt, was nicht selbstverständlich ist. In der Trizone lief das alles ein wenig anders, und in den alten Ländern gehörte der Roman nicht zum obligatorischen Lehrplan.
Und nun sitze ich in der Klemme: noch mehr Information will ich nicht hineinpacken. Aber ich mag auch nichts wegnehmen. Die "doppelte Ausführung", sicher, ist unnötig. Das Buch fehlte in keinem Intellektuellen-Haushalt, aber diese Botschaft kommt mit dieser Bemerkung nicht an.
Deine Schätzungen, was den zeitlichen Verlauf angeht, sind recht präzise, nur die Lehrerausbildung dauerte Ende der vierziger hier nicht vier Jahre, mancher wurde nach vier Monaten auf die Schüler losgelassen. Oder besser vor sie hingestellt.
Nun also werde ich in mich gehen, was an dem Text zu retten wäre.
Vielen Dank für die Einsichten.
P. S.


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Constantine
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Beitrag23.01.2015 00:50

von Constantine
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Hallo Papa Schlumpf,

nur weil du mir als Leser nicht die kulturhistorische Tragweite der Romans "Die Aula" in deiner Geschichte vermitteln konntest, heißt es nicht, dass du mit dem Text auf dieser Ebene gescheitert bist. Du hast bisher nur mein Feedback erhalten und ich finde, es ist noch zu früh, dass du dich in einer Klemme siehst, was die inhaltliche Überarbeitung angeht.

Es ist schwierig, dem Leser eine Zeit, eine Ära, ein Lebensgefühl zu vermitteln - wie und warum war was damals? -, wenn dieser jene Zeit nicht miterlebt hat. Dann kommt es darauf an, möchte man als Autor, dass z.B. jüngere Generationen an Lesern die "Bandbreite" bzw. die Tragweite einer Geschichte erkennen, oder reicht es dem Autor, dass ein bestimmter Leserkreis erreicht wird?

Ich habe das Gefühl, ich drücke mich grad ziemlich doof aus. Ich wollte nur sagen: Allen Lesern wirst du nicht auf allen Ebenen gerecht werden und ich wünsche dir noch weiteres Feedback, am besten auch von Lesern mit deinem/n vorausgesetzten zeithistorischen und kulturellen Hintergrundwissen/Erfahrungen.

LG,
Constantine
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MT
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Beitrag23.01.2015 13:30

von MT
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Hey, Schlumpf,

ich habe mir den Text eben ausgedruckt, mir eine Tasse Kaffee dazu eingeschenkt und gelesen. Die Geschichte ist klasse. Das fließt nur so dahin, ich persönlich habe keine Stolperer ausgemacht. Im Gegenteil: ich habe mich in Deiner Geschichte ein wenig "zu Hause" gefühlt und hätte locker noch ein Stündchen weiterlesen wollen. Zum Erbsenzählen viel zu schön!

Danke!

LGMT


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Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.

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Jack Burns
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Beitrag23.01.2015 14:03

von Jack Burns
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Guten Tag, Herr Schlumpf!

Mir hat die Erzählung sehr gut gefallen.
Dabei spielt es für mich gar keine Rolle, wie ich zu Kant und seinem Roman stehe. Die geschilderte Episode und ihre Figuren sind für mich greifbar, nachfühlbar. Das gelingt Dir auf wunderbar unaufgeregte Weise und ohne Effekthascherei. Es ist als ob Vater, Onkel ... einen Schlag aus dem Leben erzählt und ich folge ihm, obwohl er eigentlich nichts Spektakuläres zu erzählen hat.   
Die ganze realsozialistische Schul-Pflichtlektüre hat mich damals abgestoßen und ich hatte damals eine allgemeine Verweigerungshaltung aufgebaut. So habe ich diese ganzen Klassiker niemals gelesen. Trotzdem, oder gerade deshalb, habe ich Literatur lieben gelernt.

In Bezug auf Detailarbeit habe ich dem Kommentar von Constantine nicht viel hinzuzufügen. Die erklärende Einleitung empfinde ich als, dem Stil dieser Anekdote entsprechend, passend.

Grüße
Martin


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BlueNote
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Beitrag25.01.2015 12:17

von BlueNote
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Papa ...
das ist ... würd ich sagen ... grandios!

Vor allem die Beschreibung des Lampenfiebers hat mich gefesselt. Ich selber stelle mich ja auch oft vor Leute und biete irgendetwas dar (meistens etwas Musikalisches). Man kann sich das Lampenfieber "abtrainieren", allerdings nie vollständig. Plötzlich ist es wieder da, als wär es nie weg gewesen. Sehr treffend finde ich auch die Beschreibung des Publikums, bei dem sich der Protagonist vorstellt, sie würden innerlich bereits über ihn lachen.

Geringes Verbesserungspotential sehe ich darin, die Absätze deutlicher (mit CR) zu setzen (und im ersten Abschnitt vielleicht auch ergänzen), um die stückchenweise Erfassbarkeit des Textes zu erleichtern. Ein bisschen unglaubwürdig finde ich, dass der Protagonist den Text zur Gänze aus dem Kopf rezitieren kann (ist er der geborene Schauspieler? wink ). Na ja, so was solls ja geben ... Den vorletzten Absatz finde ich in seiner Quintessenz vielleicht nicht ganz geglückt, ließe mich aber notfalls von seiner Notwendigkeit überzeugen. Der Schlussatz wiederum rundet die Geschichte gut ab!

Auch die unaufgeregte, berichtende Erzählsprache gefällt mir sehr gut. Der Text enthält eigentlich alles, was ihn für mich zu einer guten Geschichte macht.

 Daumen hoch

BN
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Mardii
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Beiträge: 1774



Beitrag25.01.2015 18:25

von Mardii
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Hallo Papa Schlumpf,

deine Geschichte hast du sehr gut erzählt. Meine Vorstellung kam dabei so richtig in die Gänge. Besonders gefiel mir die Erzählung in der Erzählung und hernach die Darstellung des Romanausschnitts durch den Schüler.
Das dabei die Erinnerung fliegen lernt war aus genanntem Grund ein für mich glaubhafter Vorgang. Ob das so sein kann spielt dabei keine Rolle.

LG Mardii


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Ridickully
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Papa Schlumpf
Geschlecht:männlichEselsohr

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Wohnort: Friedersdorf


Beitrag25.01.2015 19:36

von Papa Schlumpf
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Liebe Leser, die ihr nicht nur gelesen sondern auch noch ein paar Worte da gelassen habt, vielen Dank für die freundliche Aufnahme meiner Anekdote. Ein paar 'Streicheleinheiten für die geschundene Seele braucht es von Zeit zu Zeit. Danke.
@ Constantine, Du hast natürlich Recht, und die kulturhistorische Tragweite des im Bezug stehenden Romans ist sicher nicht besonders groß, vielmehr regional sehr beengt und nur auf eine gerade aussterbende Generation begrenzt. Das wohl trieb mich beim Notieren dieses Anekdötchens, und es gibt da noch einige mehr, von denen ich glaube, sie sollten als Zeugnis einer vergangenen Zeit erhalten bleiben, denn nur wenn wir wissen, woher wir kommen können wir entscheiden, wohin wir gehen möchten. Vielen Dank für die sehr qualifizierte Kritik, die mir die Möglichkeit eröffnete, zu erkennen, wohin ich mit dem Text eigentlich wollte. Und für das Wort "doof", ganz unabhängig vom Kontext (dort war es gar nicht nötig), es schafft einfach eine gewisse Nähe, und das tut gut.
@ MT und Mardii
In der neuen Inszenierung muss ich sagen: "Die Ehe ... , das ist Sirup, Honig, Kandiszucker!" Eure Zeilen auch. Weiter so!
@ Jack Burns - Martin, Deine Bestätigung aus der Verweigerung des realsozialistischen Kulturbetriebes heraus empfinde ich als besonders wertvoll. Aber lass den "Herrn" das nächst Mal weg, sieht Scheiße aus, klingt Scheiße und war doch nur eine Rolle am Theater (noch dazu -Amateur) und keinerlei Respektsperson.
@Blue Note, Deine Hinweis, den Satz betreffend, treffen eine meiner Schwächen ins Mark. Das Lampenfieber trifft auch, wobei - wer keins mehr hat wird auf der Bühne versagen, weil nur noch Routine abliefern. Aber: Ich, und das Stückchen der Geschichte ist eben so geschehen, rezitierte diese vier Seiten aus dem Kopf, weil ich an der Rampe nicht lesen konnte. Es ist schon so, dass ich eine gewisse Abhängigkeit von der Bühne aufbaute, aber der geborene Schauspieler bin ich sicher nicht.
VLG
P. S.


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