Weißer Engel

[Equik Bouard]

Ebenso schnell, wie der Schneesturm hereingebrochen war, hat er sich auch schon wieder verzogen. Nur kitschige Zuckerwattenpracht über der Landschaft und surrealistisch anmutende Schneeverwehungen am Straßenrand zeugen noch vom düsteren Treiben. Jetzt prangen wieder die Sterne und irrglitzern auf dem frischen Weiß. Langsam steuere ich mein Auto über die jungfräuliche Schneedecke der Fahrbahn und hinterlasse damit erste tiefe Eindrücke.

Plötzlich tropft, wie eine feiste Schneeflocke, eine helle Gestalt auf die Straße. Knapp vor der Erscheinung bringe ich, nicht ohne Mühe, mein Fahrzeug zum Stillstand. Eine gänzlich unbekleidete, makellos proportionierte, junge Dame kniet im Schnee und starrt mich aus großen Augen überraschend unüberrascht an.

Gentleman, wie ich bin, steige ich aus und helfe der jungen Dame auf die ziemlich langen Beine.
„Na, schöne Frau kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, frage ich äußerst höflich, ohne jegliche zweideutige Anspielung auf ihren offenkundigen Bekleidungsnotstand.
„Nein, danke“, erwidert die Angesprochene, „aber ich Ihnen!“
„Ja, wie denn das?“, frage ich erstaunt.
„Ich komme nämlich von den Weißen Engeln!“
„Weiße Engel? Engel ist offensichtlich, aber weiß? Wahrscheinlich eine Anspielung auf Ihre temperaturbedingte Hautfarbe?“
„Nein, nein, wo denken Sie hin“, kichert sie entzückend. „Die Weißen Engel, die Präventivabteilung der Gelben Engel! Die Gelben Engel helfen bei Pannen, die bereits geschehen sind. Wir, die Weißen Engel, verhindern, dass solche Pannen überhaupt erst passieren!“, führt sie weiter aus. „Sie zum Beispiel, wären nach der Kurve ins Schleudern gekommen, in der Schneeverwehung da vorne stecken geblieben, hätten den Wagen zwar mit viel Mühe wieder frei bekommen, aber dann wäre er einfach nicht mehr angesprungen und sie hätten die armen, überlasteten Kollegen von den Gelben Engeln angerufen… Und um das zu verhindern bin ich hier. Ehrlich gesagt, ich war ganz schön nervös. Sie sind mein erster Einsatz und meine Uniform ist auch nicht rechtzeitig fertig geworden…“
„Aber das macht doch nichts!“, sage ich aufmunternd.

In diesem Moment rast ein mit Sprengstoff vollbeladener 40-Tonner in die unübersichtliche Kurve, bremst knapp vor uns voll zusammen, kommt gehörig ins Rutschen, dann ins Schleudern, schlittert haarscharf an uns vorbei, schrottet dabei mein Auto, kippt über die Straßenböschung, zerschellt an den Bäumen des nahen Waldes, Fichten, wenn mich nicht alles täuscht, explodiert in einem gewaltigen Feuerball, schleudert dabei allerlei Metallteile wie Geschosse durch die Gegend und steil in die Höhe, wo sie einen Hubschrauber der Verkehrsüberwachung treffen, zur Explosion und zum Absturz bringen, während die Rotorblätter des Hubschraubers weiter in die Höhe katapultiert werden, sich dort in eine Boeing 747 bohren und sie auf ein nahegelegenes AKW stürzen lassen, welches mit einem heftigen Super-Gau reagiert.

„Ist ja gar nicht so schlecht gelaufen, von ein paar kleinen Schönheitsfehlern vielleicht abgesehen… Aber fürs erste Mal hab ich ganz schön was bewegt“, flötet der Weiße Engel, während ich zerschmettert am Boden liege.

[lilaluna]

Eine sehr gute Idee und ein Text, der beweist, dass Du flott und witzig schreiben kannst, Equik.

Wenn ich etwas zu kritisieren hätte, dann vielleicht die Überladenheit der Bilder bei gegebener Tatsache, dass mitten in der Nacht so manches Detail, von dem hier intensiv berichtet wird, eigentlich gar nicht so recht zu erkennen ist. Völlig schleierhaft ist mir, warum der Engel nackt sein und lange Beine haben muss. Ich glaube, das lyrische Ich ist doch ein kleiner Macho, weil es die Anrede "Na, schöne Frau" für eine höfliche hält.

Der Logik halber würde ich den Protagonisten am Ende nicht tot daliegen lassen (er muss doch berichten!), sondern "nur" mit zerschmetterten Beinen und/oder einem gebrochenen Rückgrat. Dann kann er noch hören, gucken und fertig erzählen.

Liebe Grüße

lilaluna

[Equik Bouard]

Na ja, in Wirklichkeit ist es gar kein Tatsachenbericht, sondern ein Spiel mit Klischees, Worten und Unlogik...

Der Typ ist ein großer Macho, die Nacktheit ergibt sich "logischerweise" aus dem Umstand, dass die Uniform nicht fertiggeworden ist und wenn jemand "am Boden zerschmettert" ist, muss das ja nicht bedeuten, dass er tot ist. Aber wenn er tot wäre, fände ich es noch witziger, weil unlogischer...

Schön dass es dir Spaß gemacht hat es zu lesen, mir hat das Schreiben Spaß gemacht.

[Tinlizzy]

Hallo,

ich habe deine Einstellung gerade gelesen und muss sagen, sie gefällt mir.
Zum einen mag ich diese Art von Humor und die fetten Übertreibungen als Stilmittel und die kleinen Anspielungen sowieso.

Lass den Text ruhig ein bisschen Macho sein, es steht ihm.
Ich will jetzt hier nicht anfangen, irgendwelche Erbsen zu sehen und
sagen ' da... ist ein Rechtschreibfehler, so geht das nicht ...'. Ich möchte es
einfach gesamt betrachten und du hast mir beim Lesen Freude bereit und mir ein Schmunzeln auf die Lippen gezaubert. Dafür danke ich dir.

Stell ruhig noch einmal etwas ein!!!
Ich schau sicher vorbei.

[Gast]

Kommt nicht sonderlich oft vor, aber der Text hat mich zum Schmunzeln gebracht! Ich kann es mir bildlich vorstellen, und es amüsiert mich ungemein - ausgerechnet der elendslange Satz, den ich normalerweise überlesen hätte, hat das eindrucksvollste Bild erzeugt.

Sehr schön, bin begeistert!