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Das Goldene Land Commandi


 
 
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Tom Erde
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
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Alter: 52
Beiträge: 47
Wohnort: Hamburg


T
Beitrag03.02.2014 14:18
Das Goldene Land Commandi
von Tom Erde
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[b]Das Goldene Land Commandi[/b]


Ein Funke im Wind,
Schatten aus Glas
Und Feuer hinter den Hügeln.
Herzen, die sich sehnen weit,
Und Narren auf den Wegen.
Alles scheint Staub und Regen
Und dazwischen Leben,
Ein bisschen jedenfalls.
(Das Werden des Sastro Ben Hudaá.
Fünfter Kanon, erster Aufzug, Nachtgesang.)



Präludium


Die Liebe, so sagt man, soll angeblich alle finsteren Schatten vertreiben, sie soll das Herz weit machen, die Augen sehend, und soll die Welt mit warmem, knisternd beglückendem Feuer überziehen. Manche behaupten sogar, dass sie imstande wäre, den Stachel des Bösen aus dem Fleisch der Menschen zu ziehen, dass sie das Schicksal versöhnlich stimmen, und selbst den Tod in eine machtlose Ecke verweisen könnte. Daran hatte er auch geglaubt, so einfältig und fraglos wie er als kleiner Junge die Existenz der heiligen Mutter hinnahm, so fest und treu wie er später als angehender Priester von der göttlichen Fügung überzeugt gewesen war. Bis ihn die Liebe lachend in den Schlund der Hölle gestoßen hatte. Susann hieß die Tür, die ihn ins Feuer führte, Susann der Engel, süß, schön und gütig. Susann die Hexe, bitter, verschlagen und gemein.
Seine entsetzlichen Taten, die dem unsäglichen Schmerz ihres Verrats so unvermeidlich nachfolgten, wie Missernte einem spätsommerlichen Hagelsturm, hatten ihn nicht nur in den Wahnsinn getrieben, nein, obendrein bescherten sie ihm einen qualvollen Tod und die Verdammnis zu einem Dasein, das an Erbärmlichkeit seinesgleichen suchte. Nun war sein Name Bösaug, nun war ein Dämon, ein Antaá Muúl, was in der alten Sprache der infernalen Feuerebene Vieläugiger Tod bedeutete.
Irgendwo tief vergraben in seinem Geist ahnte er, dumpf und schemenhaft, dass es früher einmal anders gewesen sein musste. Doch mit dem verfluchten Urteil hatten sie ihm neben der Menschlichkeit auch die Vergangenheit geraubt. Seine Erinnerung an sein ehemaliges Leben glich einem fadenscheinigen, durchlöcherten Teppich, dessen Muster zu bloßen Schemen verblasst waren. Auf die Frage seiner Herkunft, hätte ihm sein dunkler Herr allerdings eine von Wehmut und Schadenfreude zerrissene Fratze dargeboten, und ihm kichernd mitgeteilt, dass seine Ahnungen von menschlichem Dasein lediglich Illusion seien, dass er schon immer als Dämon unter dem roten Himmel der Feuerebene gehaust und gelitten hatte. Tatsache oder Trug? Bedeutend oder belanglos? Bösaug wäre es einerlei gewesen, jetzt fiel derartiges bei ihm auf wüstes Land. Allein die Nacht würde sein Verschwinden bedauern.
„Ist es wieder soweit?“ fragte er die beiden Hüter der infernalen Feuerebene. Sie hatten sich gerade erst aus dunklem Rauch geformt, merkwürdig schattenhafte Gestalten in schwarzen Anzügen. Ihre Bäuche stachen hervor als hätten sie schüsselweise Kinderköpfe verspeist.
Die Hüter nickten ihm zu, vogelartig und stumm. Anderes blieb ihnen auch nicht, da ihre spöttischen Schöpfer Münder scheinbar für unnötig erachtet hatten. Ihre Gesichter waren glatt wie gespanntes Leder, keine Nasen, keine Ohren weit und breit, und von der widerlichen Farbe toten Fleisches. In Stirnhöhe aber, saß bei ihnen ein einziges hühnereigroßes Auge, ganz und gar silbern. Ein gerundeter Spiegel ihrer erkalteten Seelen.
Auf welche Weise sie wohl meine Worte verstehen? Fragte sich Bösaug unbewegt. Ob sie die Kunst des Lippenlesens beherrschen? Gleichwohl er es nicht glaubte.
Er glaubte ohnehin an wenig. An seine Fähigkeiten, die die Klinge im Rücken seiner Feinde waren, an den Hass, der in ihm brannte, wild, rot und mit Zähnen aus vergiftetem Stahl, an die Gewalt, die von ihm ausging wie eine tödliche Schwingung, und an seinen Herrn, der die schreckliche Finsternis war, und der ihn so nahm, wie er es wollte, hässlich, abstoßend, und ergeben, bis in den niemals kommenden Tod.
Seine Heimat, die er immer nur auf Geheiß eines Eingeweihten verlassen konnte, war ein gewaltiges Flammenmeer, war wie ein See aus brennendem Öl, der sich uferlos in alle Richtungen erstreckte, topfeben und beißend stickig. Anfangs war er viel umhergewandert, hatte verzweifelt nach einem Ende der Feuerebene gesucht. Trotzdem er weit ging, und er meinte, dass es Millionen Meilen gewesen waren, fand er nichts als Flammen und andere Verbannte wie ihn. Diese brachten zuerst etwas Abwechslung in sein tristes Dasein. Weil sie jedoch ausnahmslos dem Irrsinn der Ewigkeit anheimgefallen waren, kranke, somnambule Geister, die sich in Schmerz und Hass suhlten wie Schwein im Schlamm, zog er sich bald von ihnen zurück. Sie hatten nichts, das seiner Achtung wert schien.
Nun aber war es wieder soweit! Er fühlte es bereits seit einer geraumen Weile in jeder Faser seines brennenden Leibes, eine überaus willkommene Veränderung bahnte sich an. Bald, ja, sehr bald würde er es wieder sein, der Angst und Schrecken verbreitete, der die Welt der Lebenden mit unsäglichem Leid überzog.
Die Worte der Beschwörungsformel vernahm er mit wachsender Anspannung. Die Stimme ihres Sprechers, der ihn aus einer anderen Sphäre zur Jagd rief, besaß eine befehlsgewohnte Eindringlichkeit. Hohl und gefühllos wie Stein hatte sie geklungen und ihm überraschend wohlgetan.
Als der letzte Ton verhallt war, tauchten die Hüter auf, in wenigen Schritten Entfernung und mit maschinenartig ruckenden Köpfen. An ihnen lag es zu entscheiden, ob dem Ansinnen seines Rufers auf vorübergehende Entlassung stattgegeben wurde, ob alle Voraussetzungen für den rechtmäßigen Übertritt vorlagen oder nicht.
Doch darüber machte er sich keine Sorgen. Das einzige worüber er sich Gedanken machte, war das Chaos des Dazwischen, dass er immer erst überwinden musste, um in die Welt der Lebenden zu gelangen. Es war der Grenzwall, der die verschiedenen Ebenen voneinander trennte. Das Chaos verwirrte ihn und bestürmte ihn mit Fragen, denen er sich höchst ungern stellte, und es ließ Zweifel bei ihm aufkommen, die für einen Dämon seines Schlags mehr als ungewöhnlich waren.
Er bedachte die Hüter mit einem Blick, den sie nachdrücklich starrend erwiderten. Dann blinzelten sie ihm bestätigend zu. Ihr Urteil war gefallen, er durfte hinaus.
Bösaug meinte sich zu erinnern, dass ihre Beratung bei seinem letzten Übertritt wesentlich länger gedauert hatte, und erwog, ob die rasche Entscheidung von Bedeutung war, ob diesmal etwas Besonderes auf ihn warten würde? Obwohl ihm eine teuflische Gerissenheit innewohnte, tat er dies nur oberflächlich, er war kein großer Denker, eventuell möglichen Möglichkeiten nachzujagen lag ihm nicht, seine Stärke war anderer Natur.
Um die Tür herbeizurufen, die ihn ins Chaos des Dazwischen führen sollte, streckten die Hüter ihre Hände aus, hielten sie dicht vor ihr verspiegeltes Auge, und studierten sie beflissen. Ihre Hände erschienen beinahe noch verstörender, als die komischen Gesichter, denn nach Fingern suchte man an ihnen vergeblich. Stattdessen befanden sich sieben goldene Schlüssel mit zackigen Bärten an jeder Hand, dünn, lang, und fragil anmutend.
Ein flüchtiger Betrachter hätte sie möglicherweise einfach für Schlüssel halten können, für eigenartige und absonderliche, nichtsdestotrotz für Schlüssel, deren vornehmlicher Sinn es war, Türen zu öffnen. Wer ihnen näher kam, und in den Kreis ihres Liedes trat, konnte diesem Irrtum nicht mehr unterliegen. Nicht nur, das von ihnen ein für die Hölle unpassend ätherischer Schein ausging, nein, sie sangen außerdem ein wundersames, hohes Summen, schmerzlich einsam und grauenhaft schön.
Als Bösaug ihrer Ansichtig wurde, brach ohne Vorwarnung eine aufwühlende Bilderflut über ihn herein, zwingend und irgendwie flehentlich. Zuerst: Eine verrostete, klobige Maschine, die seit Jahrtausenden tief unter der Erde schnurrend ihren Dienst versah und Wasser in gigantische Becken pumpte. Sie lag vergessen da, diese uralte Maschine, allein und unbesucht. Fahl leuchtende Moose wuchsen in ihrem Schatten und gaben ein spukhaftes Licht dazu. Hin und wieder schlich sich meckerndes Schleifen, rostig und unrund, in den Lauf der Pumpe. Ihre Tage waren gezählt, das war unüberhörbar. Dann: Ein Chor bräunlicher Sumpfgnome. Zu tausenden sangen sie einen einzigen Akkord des Wohlgefallens, hingebungsvoll, anschmiegsam, der so gar nicht zu ihrem knorrigen Aussehen passen wollte. Eine vereinzelte Stimme vermochte den Ton nicht zu halten, brachte einen dissonanten Hauch in die Symphonie, der sich auszubreiten suchte. Zuletzt: Ein entfernter Sturm, rot, mächtig und stark. Er jagte über einen Wüstenboden wie gestocktes Blut und formte mit jeder Böe Universen und verwarf sie wieder. Jedes Sandkorn eine Galaxie, jedes Stäubchen ein Sonnensystem.
Das Summen der Schlüssel schien allen Daseins Quelle zu sein und vereinigte sich in den Händen der Hüter, die damit Welten verbanden, die Löcher in sie stießen, um jene einzulassen, die unter dem fragwürdigen Schirm der Schicksals standen.
Bösaug schüttelte die Bilder wütend ab, sie ließen Gefühle bei ihm aufkommen, die ihm ekelerregend waren. Trauer, Verlassenheit. Und das schlimmste: Hilflosigkeit. Er hasste den Klang der Schlüssel. Bei ihm fühlte er sich klein und schwach. Sie hatten auf der infernalen Feuerebene nichts zu suchen, sie gehörten vielmehr dem Himmel an, und der war ihm widerwärtig und abstoßend.
Mit einem verschwörerischen Zwinkern, das skurrilen Humor erahnen ließ, wählten die Hüter den Schlüssel namens Mondgras aus. Er war der zweite nach dem Daumenschlüssel und funkelte dunkel. Augenblicklich begannen sie, mit dem Mondgrasschlüssel elliptische Kreisbahnen durch die wabernde Luft zu schneiden, denen für Sekunden eine feurige Spur nachfolgte. Sobald die Zeremonie beendet war, nahmen sie etwas Abstand auf und führten die beiden Schlüssel in einer zärtlich und zugleich linkisch wirkenden Geste zusammen. Sie hatte etwas von dem ersten, scheuen Kuss, den frisch Verliebte tauschen, noch voller Unsicherheit, ob ihre Zuneigung auch erwidert wurde.
Da blitzte und knallte es laut und magnesitartig blendende Funkenschauer ergossen sich unter dem Bogen, den die Arme der Hüter bildeten. Erst fiel der strahlende Regen breit und zügellos herab, aber schon bald bündelte er sich zu einer haarfeinen Linie, die, wie flüssiger Stahl einer Rinne im Sand nachfolgte, sukzessive einen weißglühenden, quadratischen Umriss ausbildete. Als die eckige Kontur komplett war, lösten die Hüter ihre Schlüssel wieder voneinander. Rasch verlöschten der Funkenregen und das helle Glühen und die magische Tür nahm Gestalt an.
Sie war von erschreckend lichtlosem Schwarz. Ein silberner Rahmen, der über und über mit feinen Tiergravuren versehen war, hielt sie in Position. Bösaug interessierte das wenig. Lediglich die kleine Schildkröte in der oberen, rechten Ecke der Tür erregte wie gewöhnlich seine Aufmerksamkeit. Sie erinnerte ihn an irgendetwas. Er konnte nicht sagen, woran. Nur, dass es mit der Zeit vor dem vernichtenden Richterspruch, der ihn zum Dasein als Dämon verurteilt hatte, zusammenhing. Aber auch das war für ihn ohne Bedeutung. Seine Vergangenheit als Mensch, seine Name, seine Geschichte, all dies wurde vor langer Zeit zu Staub zertreten, war jetzt Asche im Wind, ein zersplitterter, schaler Traum, verloren und unwiederbringlich dahin.
Abermals streifte sein Blick die Schildkröte. Sie war wie aus tausend Sternensplittern gemacht und trug eine große Schale auf ihrem Panzer. Das beklemmende Dunkel der Tür wurde von ihr nur unwesentlich gemildert.
Plötzlich berührte ein neuerliches Bild seinen Geist. Satter, grüner Rasen, der fast etwas frevelhaft Lebendiges hatte, eine alte Holzkiste, gefüllt mit Stroh und ein paar Salatblättern. Aus einer Strohhöhle in der Kiste lugte ein schuppiges Köpfchen hervor, das auf einem dünnen, faltigen Hals saß.
Mona, fuhr es durch ihn hindurch, ihr Name war Mona. Ein Gefühl des Bedauerns regte sich in ihm wie ein dunkler Wind, ziehend, unbestimmt. Es war ihm peinlich, als wäre er beim heimlichen Griff in die Keksdose erwischt worden. Ein Dämon kannte kein Bedauern, ein Dämon war ein Werkzeug der Vernichtung, der verheerenden Gewalt. Bedauern war etwas für Schwächlinge, war etwas für die Rückgratlosen und Kriecher. Kriechen hatte er vor Jahrhunderten verlernt.
Leises Klicken verscheuchte seinen inneren Streit. Er sah die Tür aufspringen, und erblickte das Chaos.
Gedämpfte Stimmen drangen aus den tosenden Gewalten hervor, Stimmen, die gleich wie eine Sturmflut auf ihn einschlagen würden, unwiderstehlich und mit brüllendem Aberwitz in ihrem klammen Schoß. Während er sich ungewohnt erregt fragte, welche Welt ihn diesmal zur Jagd rief, nähert er sich langsam der Öffnung. Die Erde? Kappa Omikron? Ai Oni? Oder sogar das Goldene Land Commandi? Noch darüber grübelnd, versetzten ihm die Hüter kurzerhand einen kräftigen Stoß, der ihn haltlos durch den Rahmen trieb. Krachend schlugen sie die Tür hinter ihm zu. Er wand sich um. Sie war fort. Da erfasste ihn der scharfe Wind des Chaos und er stürzte:

„Kennst du die Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit?“ fragte ein kieksendes Kind in seinem Kopf. Schrill, laut, unnachgiebig!
„Wo denkst du hin, das dumme Vieh doch nicht, das kennt nur Hauen, Stechen und Blutlutschen.“ antwortete ein blauer Bär. Brummig und überzeugt.
„Lasst ihn ruhig antworten, vielleicht ist er gar nicht so doof wie er stinkt!“ warf Pinocchio ein. Seine Nase ragte weit über die Unendlichkeit hinaus.
„Diesmal wirst du endgültig verrecken, du blutgeiles Vieh, wirst vergehen wie dein grausamer Gestank, wirst den Bach runtergehen und ihn nie wieder raufkommen!“ drohte eine schneidende Scherenstimme. Klirrend, scharf, nervtötend.
„Liegt deine Schwester nicht am kurzen Bach begraben? Hast du ihr – ritsch ratsch – den Hals durchgeschnitten?“ fragte Winston Smith  aus einem Weißkohl heraus. Der große Bruder rief ihn zur Ordnung.
 
Während Bösaug durch graue Wolkenmassen trudelte, und von einem Wirbel zum nächsten geschleudert wurde, infiltrierten die Stimmen sein Bewusstsein, verbissen sich in seinen Gedanken wie ausgehungerte Zecken, und er konnte nichts dagegen tun.
 
„Jadebein und Schwartebeiß scheißen Ringe gern im Kreis. Kannst du das auch? Oder hast du bereits vergessen, wie man es so richtig in die Schüssel scheppern lässt? fragte Rumpelpumpel aus seinem nassen Grab am kurzen Bach heraus, wobei ihm Luft und Blut blubbernd aus dem geöffneten Hals sprudelten.
„Wie hieß dein Bruder, hirnloser Haufen Blutwurst? War sein Name Gurkenschleim, oder Grüner Häschen Hüpfer?“ War Hazel-rah´s  Frage an den Dämon während er die finsteren Gänge unter Efrafra entlanghoppelte, die Nase schnuppernd im Dreck.
„Er sollte ausnahmsweise mal was Gutes tun, findet ihr nicht? Einer Kröte über die Straße helfen, oder einer Oma das Strickzeug reichen. Das wär doch mal ne tolle Sache.“ behauptete ein grünes Männchen im selbstgestrickten Pullover und warnte gleichzeitig einen Autofahrer davor, dem ollen Blechgefährt keinesfalls seine Seele zu schenken.
„Nein, nein, nein, ach du gute Güte, bloß das nicht, dann würde er ja anschwellen wie ein überreifes Furunkel am Arsch und patsch, quatsch zerplatzen. Er würde auslaufen und ohne Bedauern weggewischt werden. Bis auf ein bisschen stinkende Schmiere würde nichts bleiben. Na, ist das keine riechenswerte Aussicht?“ fragte eine aufblasbare Puppe in weißem Kittel. Sie hatte ein Stethoskop um und eine dicke, blaue Schnecke streichelnd im Arm.

All dies huschte in einem idiotischen Reigen verbunden an Bösaug vorbei. Er sah hämische Masken, die ihn verhöhnten, putzige Spielzeuge, die ihn anstachelten, großäugige Trolle, die ihn auffressen wollten.

„Wer war denn dein Vater, saublöder Schluck Eiter?“ ging es weiter. „War sein Schädel genauso entzündet wie deiner?“ fragte der Indianer Starke Marke  und paddelte weiter den Waschbeckenfluss hinunter.
„Er wurde bestimmt frühzeitig abgetrieben.“ beharrte Dr. Sauerbier mit einer anständigen Prise Lachgas in der Nase.
„Ja, genau, deshalb ist er so unausgegoren, so restlos gehirnlos, so vertrottelt, das die Dämlichkeit pfundweise aus ihm herausspritzt.“ gab Winnetou III dazu. Ihm steckte eine Friedenspfeife im linken Ohr, mit feinstem Cannabis randvoll gestopft.
„Wo soll das nur hinführen, hm? Immer nur hetzen und zerhacken, im Blut sudeln und solch abartiges Zeug. Das kann doch nicht gesund sein.“ äußerte ein kreisendes Prisma. Es hatte die Farbe Lila verloren und suchte sie nun im Schwarzen Land.
„Wer war deine Mutter, rotznasiger Eimer Abtritt? Hatte sie auch so eklig viele Glotzaugen wie du?“ fragte ein zorniger Apfelkuchen. Einhundertelf Kerzen brannten auf ihm, eine magische Zahl.
„Denk mal darüber nach, wie du nach Hause kommst, wie du wirklich nach Hause kommst! Du willst doch nach Hause, oder? Oder?“ begehrte Jules Verne zu wissen. Er hockte auf einer bunten Rakete, die Jagd auf den goldenen Meteor hatte gerade begonnen.
„Eins und zwei, und drei und weg, holla, holla Mausespeck. Polter, Pummel, Rumps und Stein, wir wollen noch viel mehrerererer sein.“ sang ein weißbärtiger Zwerg und rammte sich einen Taktstock tief in den Allerwertesten.
„Holla, holla, gut gesprochen, gut gestochen, holla, holla. Ich glaub, der große Weltenwringer kommt um die nächste Ecke geflossen, er wird den letzten Tropfen edelster Schlechtigkeit aus dir herauswringen.“ verkündete ein König, der ein leuchtender Stein war. Die Krone, golden und edelsteinbesetzt, spiegelte Herrn Rolands dunklen Turm .
„Sag mir endlich deinen richtigen Namen Kumpel, deinen richtigen Namen, dann lass ich dich zieh´n, aber nur dann, hörst du!“ verlangte der Rätselknacker hartnäckig. Seine Unterwäsche war grasgrün und übersät mit Fragezeichen. Drei sprechende Blumen wuchsen zu seinen Füßen, doch sie hatten Halsweh und konnten deshalb nichts dazu sagen.
„Also ehrlich, so machst du dir niemals Freunde, das muss ich dir sagen. Du solltest dich mal fragen, ob du nicht auch zu anderem fähig bist, als nur zum Jagen, Jagen, Jagen. Da ist nämlich noch so viel mehr, so unglaublich viel mehr, das dir deine einhundertelf Augen aus der Birne purzeln würden, wenn du dich nur trauen würdest, sie zu öffnennennennen…“ beteuerte ein nackter Optiker mit rosa Brille. Lange, grauschwarze Stacheln sprossen aus seinem Rücken hervor wie ein Streifen widerborstiger Pelz. Er schüttelte den Kopf und zeigte immer wieder auf seine Stirn.

Allmählich kam Rage über Bösaug. Wenn sich diesen verflixten Alptraumgestalten nur packen, wenn sie sich irgendwie stellen ließen, um ihnen den Wahnsinn auszutreiben, doch sie waren wie Nebel und Wind, wie Nacht und Verzweiflung, überall und nirgends, einfach nicht zu fassen.
Bevor sie ihn endgültig in Raserei versetzten konnten, wie es mitunter geschah, wenn ihn das Chaos nicht so bald freigeben wollte, erfasste ihn jäh ein kraftvoller Sog und riss ihn in mörderischem Tempo in die Tiefe. Die Alptraumgestalten blieben enttäuscht zurück, winkten, und riefen ihm zum Abschied Schmähungen zu. Er überließ sie mit Vergnügen ihrem wolkigen Wahnsinn. An sich hinabblickend entdeckte er die Ursache des mächtigen Sogs: Ein titanischer Tornadotrichter, der ganze Welten zu fassen schien. Aus seiner Mitte glotze ihm ein beunruhigend schwarzes Auge entgegen. Schon von Ferne fühlte er die Schwere, die von dem Auge ausging und seine gewaltvolle Verheißung. Beinah hätte er erleichtert aufgeseufzt, das Ende des Chaos kam in Sicht. Als er schließlich mit dem Auge in Kontakt kam, ging alles sehr schnell. Er strömte hinein wie strudelndes Wasser und wurde augenblicklich von ihm verschluckt.



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Mit deinem Kuss ging´s mir in die Hände,
zu sperren den Drachen hinter brennende Wände.
Nun binden ihn Ketten aus verzaubertem Feuer,
nun winselt und schnurrt es das Ungeheuer.
Tom Erde
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denLars
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Beitrag03.02.2014 14:37

von denLars
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Hallo Tom Erde,

dein Text hat für mich Format. Allein der Einstieg ist schon stilistisches Breitwandkino, sehr episch, sehr gesetzt. Der Teil mit Susann hat mich hier sogar an den Anfang von Nabokovs "Lolita" erinnert. Vom Genre her sortierst du diesen Text als Fantasy/Abenteuer ein. Nun werden sicher einige sagen, dass der Stil dafür nicht massentauglich genug ist, zu sperrig, zu verschachtelte Sätze, zu viele Adjektive. Aber ich finde, du beherrschst ihn, was seinen Einsatz durchaus legitim macht.
Du gehst nichtsdestotrotz damit ein Risiko ein - und an vielen Stellen habe ich das Gefühl, dass der ausufernde Stil dem Fortlauf der Handlung im Weg steht. Style over substance, wenn man so will. Wenn du da manchmal deinen Formulierungsdrang ein wenig zurückschrauben würdest, könnte das ein Gewinn für den ganzen Text sein.

So viel erst mal, sitze nur in der Mittagspause. Werde hoffentlich nochmal im Laufe der Woche genauer auf den Text eingehen können, da steckt viel Gutes drin.

LG,
Lars


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Tom Erde
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Beitrag04.02.2014 21:32

von Tom Erde
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Hallo Lars,

vielen Dank für deine Kritik. Solcherlei ist am Hilfreichsten. Schreiben gleicht natürlich immer einem Eiertanz, den der Schreibende zwischen den eigenen Ansichten, Empfindungen und Hoffnungen, und den Erwartungen, Vorlieben und Meinungen der anderen aufführt, womit ich dir sicherlich nichts epochal Neues mitteile. Vielleicht hätte ich dem Text eine kurze Einführung vorausschicken sollen, da er lediglich den Auftakt zu einer Geschichte darstellt, die dann in einem leicht abgewandelten Stil weitererzählt wird, doch ich wollte gerne ein reines Feedback dazu.
Diesen Auftakt, der insgesamt knapp dreißig Schreibmaschinenseiten umfasst und zwei Widersachern des Helden Kontur verleihen soll, wollte ich so anlegen, dass er jenen Leser entgegenkommt, die eine exakte Wiedergabe des Ablaufes schätzen, die noch wissen, wie man den Handlungsfaden geistig und emotional durch die Finger der Fantasie gleiten lässt. Er ist aber für das Verständnis der Geschichte nicht zwingend notwendig und kann gegebenenfalls übersprungen werden.
Dennoch habe ich deinen Rat aufgenommen und den Text in der Hinsicht leicht abgewandelt, dass ich einige Adjektive entfernt, und ein paar Verschachtelungen aufgelöst habe. Was der Lesart guttat.


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Tom Erde
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Beitrag07.02.2014 13:31

von Tom Erde
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Für all jene, die es interessiert, folgt eine adjektivbereinigte Fassung der ersten Seiten des Präludium, die, da muss ich Lars unbedingt Recht geben, sich flüssiger liest und zudem dichter und gereifter wirkt. Das einleitende Stückchen Lyrik habe ich diesmal weggelassen.

Damit es sich lohnt, diese Fassung zu lesen, habe ich noch ein, zwei Seiten drangehängt, die ich ebenfalls überarbeitet habe.

Präludium

Die Liebe, so sagt man, soll angeblich alle Schatten vertreiben, sie soll das Herz weit machen, die Augen sehend, und soll die Welt mit beglückendem Feuer überziehen. Manche behaupten sogar, dass sie imstande wäre, den Stachel des Bösen aus dem Fleisch der Menschen zu ziehen, dass sie das Schicksal versöhnlich stimmen, und selbst den Tod in eine machtlose Ecke verweisen könnte. Daran hatte er auch geglaubt, so einfältig und fraglos wie er als kleiner Junge die Existenz der heiligen Mutter hinnahm, so fest und treu wie er später als angehender Priester von der göttlichen Fügung überzeugt gewesen war. Bis ihn die Liebe lachend in den Schlund der Hölle gestoßen hatte. Susann hieß die Tür, die ihn ins Feuer führte, Susann der Engel, süß, schön und gütig. Susann die Hexe, bitter, verschlagen und gemein.
Seine entsetzlichen Taten, die dem unsäglichen Schmerz ihres Verrats so unvermeidlich nachfolgten, wie Missernte einem spätsommerlichen Hagelsturm, hatten ihn nicht nur in den Wahnsinn getrieben, nein, obendrein bescherten sie ihm einen qualvollen Tod und die Verdammnis zu einem Dasein, das an Erbärmlichkeit seinesgleichen suchte. Nun war sein Name Bösaug, nun war er ein Dämon, ein Antaá Muúl, was in der alten Sprache der Feuerebene Vieläugiger Tod bedeutete.
Irgendwo tief vergraben in seinem Geist ahnte er, dumpf und traumhaft, dass es früher einmal anders gewesen sein musste. Doch mit dem verfluchten Urteil hatten sie ihm neben der Menschlichkeit auch seine Vergangenheit geraubt. Die Erinnerung an sein ehemaliges Leben glich einem fadenscheinigen Teppich, dessen Muster zu bloßen Schemen verblasst waren. Auf die Frage seiner Herkunft, hätte ihm sein dunkler Herr allerdings eine von Wehmut und Schadenfreude zerrissene Fratze dargeboten, und ihm kichernd mitgeteilt, dass seine Ahnungen lediglich Illusion seien, dass er schon immer als Dämon unter dem roten Himmel der Feuerebene gehaust und gelitten hatte. Tatsache oder Trug? Bedeutend oder belanglos? Bösaug wäre es einerlei gewesen, jetzt fiel derartiges bei ihm auf wüstes Land. Allein die Nacht würde sein Verschwinden bedauern.
„Ist es wieder soweit?“ fragte er die beiden Hüter der Feuerebene, merkwürdig schattenhafte Gestalten in schwarzen Anzügen. Ihre Bäuche stachen hervor als hätten sie schüsselweise Kinderköpfe verspeist.
Die Hüter nickten ihm zu, vogelartig und stumm. Anderes blieb ihnen auch nicht, da ihre spöttischen Schöpfer Münder scheinbar für unnötig erachtet hatten. Ihre Gesichter waren glatt wie gespanntes Leder, keine Nasen, keine Ohren weit und breit, und von der widerlichen Farbe toten Fleisches. In Stirnhöhe aber, saß bei ihnen ein einziges hühnereigroßes Auge, ganz und gar silbern. Ein gerundeter Spiegel ihrer seltsamen Seelen.
Auf welche Weise sie wohl meine Worte verstehen? Fragte sich Bösaug unbewegt. Ob sie die Kunst des Lippenlesens beherrschen? Gleichwohl er es nicht glaubte.
Er glaubte ohnehin an wenig: An seine Fähigkeiten, die die Klinge im Rücken seiner Feinde waren, an den Hass, der in ihm brannte, wild, und mit Zähnen aus vergiftetem Stahl, an die Gewalt, die von ihm ausging wie eine tödliche Schwingung, und an seinen Herrn, der die schreckliche Finsternis war, und der ihn so nahm, wie er es wollte, hässlich, abstoßend, und ergeben, bis in den niemals kommenden Tod.
Seine Heimat, die er immer nur auf Geheiß eines Eingeweihten verlassen konnte, war ein gewaltiges Flammenmeer, war wie ein See aus brennendem Öl, der sich uferlos in alle Richtungen erstreckte, topfeben und beißend stickig. Anfangs war er viel umhergewandert, hatte verzweifelt nach einem Ende der Feuerebene gesucht. Trotzdem er weit ging, und er meinte, dass es Millionen Meilen gewesen waren, fand er nichts als Flammen und andere Verbannte wie ihn. Diese brachten zuerst etwas Abwechslung in sein tristes Dasein. Weil sie jedoch ausnahmslos dem Irrsinn der Ewigkeit anheimgefallen waren, kranke, somnambule Geister, die sich in Schmerz und Hass suhlten wie Schwein im Schlamm, zog er sich bald von ihnen zurück. Sie hatten nichts, das seiner Achtung wert erschien.
Nun aber war es wieder soweit! Er fühlte es bereits seit einer Weile in jeder Faser seines Leibes, eine willkommene Veränderung bahnte sich an. Bald, ja, sehr bald würde er es wieder sein, der Angst und Schrecken verbreitete, der die Welt der Lebenden mit unsäglichem Leid überzog.
Die Worte der Beschwörungsformel vernahm er mit wachsender Anspannung. Die Stimme ihres Sprechers, der ihn aus einer anderen Sphäre zur Jagd rief, besaß eine befehlsgewohnte Eindringlichkeit. Hohl und gefühllos hatte sie geklungen und ihm überraschend wohlgetan.
Als der letzte Ton verhallt war, tauchten die Hüter auf, in wenigen Schritten Entfernung und mit maschinenartig ruckenden Köpfen. An ihnen lag es zu entscheiden, ob dem Ansinnen seines Rufers auf vorübergehende Entlassung stattgegeben wurde, ob alle Voraussetzungen für den Übertritt vorlagen oder nicht.
Doch darüber machte er sich keine Sorgen. Das einzige worüber er sich Gedanken machte, war das Chaos des Dazwischen, dass er immer erst überwinden musste, um in die Welt der Lebenden zu gelangen. Es war der Grenzwall, der die Ebenen voneinander trennte. Das Chaos verwirrte ihn und bestürmte ihn mit Fragen, denen er sich höchst ungern stellte, und es ließ Zweifel bei ihm aufkommen, die für einen Dämon seines Schlags mehr als ungewöhnlich waren.
Er bedachte die Hüter mit einem Blick, den sie nachdrücklich starrend erwiderten. Dann blinzelten sie ihm bestätigend zu. Ihr Urteil war gefallen, er durfte hinaus.
Bösaug meinte sich zu erinnern, dass ihre Beratung bei seinem letzten Übertritt wesentlich länger gedauert hatte, und erwog, ob die rasche Entscheidung von Bedeutung war, ob diesmal etwas Besonderes auf ihn warten würde? Obwohl ihm eine teuflische Gerissenheit innewohnte, tat er dies nur oberflächlich, er war kein großer Denker, eventuell möglichen Möglichkeiten nachzujagen lag ihm nicht, seine Stärke war anderer Natur.
Um die Tür herbeizurufen, die ihn ins Dazwischen führen sollte, streckten die Hüter ihre Hände aus, hielten sie dicht vor ihr verspiegeltes Auge, und studierten sie beflissen. Ihre Hände erschienen beinahe noch verstörender, als die Gesichter, denn nach Fingern suchte man an ihnen vergeblich. Stattdessen befanden sich sieben goldene Schlüssel mit zackigen Bärten an jeder Hand, dünn, lang, und fragil anmutend.
Ein flüchtiger Betrachter hätte sie möglicherweise einfach für Schlüssel gehalten, für eigenartige und absonderliche, nichtsdestotrotz für Schlüssel, deren vornehmlicher Sinn es war, Türen zu öffnen. Wer ihnen näher kam, und in den Kreis ihres Liedes trat, konnte diesem Irrtum nicht mehr unterliegen. Nicht nur, das von ihnen ein für die Hölle unpassend ätherischer Schein ausging, nein, sie sangen außerdem ein wundersames Summen, schmerzlich einsam und grauenhaft schön.
Als Bösaug ihrer Ansichtig wurde, brach ohne Vorwarnung eine aufwühlende Bilderflut über ihn herein, zwingend und irgendwie flehentlich. Zuerst: Eine verrostete Maschine, die seit Jahrtausenden tief unter der Erde schnurrend ihren Dienst versah und Wasser in gigantische Becken pumpte. Sie lag vergessen da, diese uralte Maschine, allein und unbesucht. Fahl leuchtende Moose wuchsen in ihrem Schatten und gaben ein spukhaftes Licht dazu. Hin und wieder schlich sich meckerndes Schleifen, rostig und unrund, in den Lauf der Pumpe. Ihre Tage waren gezählt, das war unüberhörbar. Dann: Ein Chor bräunlicher Sumpfgnome. Zu tausenden sangen sie einen einzigen Akkord des Wohlgefallens, hingebungsvoll, anschmiegsam, der so gar nicht zu ihrem knorrigen Aussehen passen wollte. Eine vereinzelte Stimme vermochte den Ton nicht zu halten, brachte einen dissonanten Hauch in die Symphonie, der sich auszubreiten suchte. Zuletzt: Ein entfernter Sturm, rot, mächtig und stark. Er jagte über einen Wüstenboden wie gestocktes Blut und formte mit jeder Böe Universen und verwarf sie wieder. Jedes Stäubchen ein Sonnensystem, jedes Sandkorn eine Galaxie.
Das Summen der Schlüssel schien allen Daseins Quelle zu sein und vereinigte sich in den Händen der Hüter, die damit Welten verbanden, die Löcher in sie stießen, um jene einzulassen, die unter dem fragwürdigen Schirm der Schicksals standen.
Bösaug schüttelte die Bilder wütend ab, sie ließen Gefühle bei ihm aufkommen, die ihm ekelerregend waren. Trauer, Verlassenheit. Und das schlimmste: Hilflosigkeit. Er hasste den Klang der Schlüssel. Bei ihm fühlte er sich klein und schwach. Sie hatten auf der Feuerebene nichts zu suchen, sie gehörten vielmehr dem Himmel an, und der war ihm widerwärtig und abstoßend.
Mit einem Zwinkern, das skurrilen Humor erahnen ließ, wählten die Hüter den Schlüssel namens Mondgras aus. Er war der zweite nach dem Daumenschlüssel und funkelte dunkel. Augenblicklich begannen sie, mit dem Mondgrasschlüssel elliptische Bahnen durch die wabernde Luft zu schneiden, denen für Sekunden eine feurige Spur folgte. Sobald die Zeremonie beendet war, nahmen sie etwas Abstand auf und führten die beiden Schlüssel in einer zärtlich und zugleich linkisch wirkenden Geste zusammen. Sie hatte etwas von dem ersten, scheuen Kuss, den frisch Verliebte tauschen, noch voller Unsicherheit, ob ihre Zuneigung auch erwidert wurde.
Da blitzte und knallte es laut und Magnesit artig blendende Funkenschauer ergossen sich unter dem Bogen, den die Arme der Hüter bildeten. Erst fiel der Regen breit und zügellos herab, aber schon bald bündelte er sich zu einer haarfeinen Linie, die, wie flüssiger Stahl in einer Rinne aus Sand floss, sukzessive einen quadratischen Umriss ausbildete. Als die Kontur komplett war, lösten die Hüter ihre Schlüssel wieder voneinander. Rasch verlöschten der Funkenregen und das Glühen und die magische Tür nahm Gestalt an.
Sie war von erschreckend lichtlosem Schwarz. Ein silberner Rahmen, der über und über mit Tiergravuren versehen war, hielt sie in Position. Bösaug interessierte das wenig. Lediglich die kleine Schildkröte in der oberen, rechten Ecke der Tür erregte wie gewöhnlich seine Aufmerksamkeit. Sie erinnerte ihn an irgendetwas. Er konnte nicht sagen, woran. Nur, dass es mit der Zeit vor dem vernichtenden Richterspruch, der ihn zum Dasein als Dämon verurteilt hatte, zusammenhing. Aber auch das war für ihn ohne Bedeutung. Seine Vergangenheit als Mensch, seine Name, seine Geschichte, all dies wurde vor langer Zeit zu Staub zertreten, war jetzt ein zersplitterter Traum, verloren und unwiederbringlich dahin.
Abermals streifte sein Blick die Schildkröte. Sie war wie aus tausend Sternensplittern gemacht und trug eine Schale auf ihrem Panzer. Das beklemmende Dunkel der Tür wurde von ihr nur unwesentlich gemildert.
Plötzlich berührte ein neuerliches Bild seinen Geist. Sattgrüner Rasen, der fast etwas frevelhaft Lebendiges hatte, eine alte Holzkiste, gefüllt mit Stroh und ein paar Salatblättern. Aus einer Strohhöhle in der Kiste lugte ein schuppiges Köpfchen hervor, das auf einem faltigen Hals saß.
Mona, fuhr es durch ihn hindurch, ihr Name war Mona. Ein Gefühl des Bedauerns regte sich in ihm wie ein dunkler Wind. Es war ihm peinlich, als wäre er beim Griff in die Keksdose erwischt worden. Ein Dämon kannte kein Bedauern, ein Dämon war ein Werkzeug der Vernichtung, der verheerenden Gewalt. Bedauern war etwas für Schwächlinge, war etwas für die Rückgratlosen und Kriecher. Kriechen hatte er vor Jahrhunderten verlernt.
Leises Klicken verscheuchte seinen inneren Streit. Er sah die Tür aufspringen, und erblickte das Chaos.
Gedämpfte Stimmen drangen aus den tosenden Gewalten hervor, Stimmen, die gleich wie eine Sturmflut auf ihn einschlagen würden, unwiderstehlich und mit klammem Aberwitz in ihrem Schoß. Während er sich ungewohnt erregt fragte, welche Welt ihn diesmal zur Jagd rief, nähert er sich langsam der Öffnung. Die Erde? Kappa Omikron? Ai Oni? Oder sogar das Goldene Land Commandi? Noch darüber grübelnd, versetzten ihm die Hüter kurzerhand einen Stoß, der ihn haltlos durch den Rahmen trieb. Krachend schlugen sie die Tür hinter ihm zu. Er wand sich um. Sie war fort. Da erfasste ihn der Wind des Chaos und er stürzte:

„Kennst du die Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit?“ fragte ein kieksendes Kind in seinem Kopf. Schrill, laut, unnachgiebig!
„Wo denkst du hin, das dumme Vieh doch nicht, das kennt nur Hauen, Stechen und Blutlutschen.“ antwortete ein blauer Bär. Brummig und überzeugt.
„Lasst ihn ruhig antworten, vielleicht ist er gar nicht so doof wie er stinkt!“ warf Pinocchio ein. Seine Nase ragte weit über die Unendlichkeit hinaus.
„Diesmal wirst du endgültig verrecken, du blutgeiles Vieh, wirst vergehen wie dein grausamer Gestank, wirst den Bach runtergehen und ihn nie wieder raufkommen!“ drohte eine schneidende Scherenstimme. Klirrend, scharf, nervtötend.
„Liegt deine Schwester nicht am kurzen Bach begraben? Hast du ihr – ritsch ratsch – den Hals durchgeschnitten?“ fragte Winston Smith  aus einem Weißkohl heraus. Der große Bruder rief ihn zur Ordnung.
 
Während Bösaug durch graue Wolkenmassen trudelte, und von einem Wirbel zum nächsten geschleudert wurde, infiltrierten die Stimmen sein Bewusstsein, verbissen sich in seinen Gedanken wie Zecken, und er konnte nichts dagegen tun.
 
„Jadebein und Schwartebeiß scheißen Ringe gern im Kreis. Kannst du das auch? Oder hast du bereits vergessen, wie man es so richtig in die Schüssel scheppern lässt? fragte Rumpelpumpel aus seinem Grab am kurzen Bach heraus, wobei ihm Luft und Blut blubbernd aus dem offenen Hals sprudelten.
„Wie hieß dein Bruder, hirnloser Haufen Blutwurst? War sein Name Gurkenschleim, oder Grüner Häschen Hüpfer?“ War Hazel-rah´s  Frage an den Dämon während er die finsteren Gänge unter Efrafra entlanghoppelte, die Nase schnuppernd im Dreck.
„Er sollte ausnahmsweise mal was Gutes tun, findet ihr nicht? Einer Kröte über die Straße helfen, oder einer Oma das Strickzeug reichen. Das wär doch mal ne tolle Sache.“ behauptete ein grünes Männchen im selbstgestrickten Pullover und warnte gleichzeitig einen Autofahrer davor, dem ollen Blechgefährt keinesfalls seine Seele zu schenken.
„Nein, nein, nein, ach du gute Güte, bloß das nicht, dann würde er ja anschwellen wie ein überreifes Furunkel am Arsch und patsch, quatsch zerplatzen. Er würde auslaufen und ohne Bedauern weggewischt werden. Bis auf ein bisschen stinkende Schmiere würde nichts bleiben. Na, ist das keine riechenswerte Aussicht?“ fragte eine aufblasbare Puppe in weißem Kittel. Sie hatte ein Stethoskop um und eine dicke, blaue Schnecke streichelnd im Arm.

All dies huschte in einem idiotischen Reigen verbunden an Bösaug vorbei. Er sah hämische Masken, die ihn verhöhnten, putzige Spielzeuge, die ihn anstachelten, großäugige Trolle, die ihn auffressen wollten.

„Wer war denn dein Vater, saublöder Schluck Eiter?“ ging es weiter. „War sein Schädel genauso entzündet wie deiner?“ fragte der Indianer Starke Marke  und paddelte weiter den Waschbeckenfluss hinunter.
„Er wurde bestimmt frühzeitig abgetrieben.“ beharrte Dr. Sauerbier mit einer anständigen Prise Lachgas in der Nase.
„Ja, genau, deshalb ist er so unausgegoren, so restlos gehirnlos, so vertrottelt, das die Dämlichkeit pfundweise aus ihm herausspritzt.“ gab Winnetou III dazu. Ihm steckte eine Friedenspfeife im Ohr, mit feinstem Cannabis randvoll gestopft.
„Wo soll das nur hinführen, hm? Immer nur hetzen und zerhacken, im Blut sudeln und solch abartiges Zeug. Das kann doch nicht gesund sein.“ äußerte ein kreisendes Prisma. Es hatte die Farbe Lila verloren und suchte sie nun im Schwarzen Land.
„Wer war deine Mutter, rotznasiger Eimer Abtritt? Hatte sie auch so eklig viele Glotzaugen wie du?“ fragte ein zorniger Apfelkuchen. Einhundertelf Kerzen brannten auf ihm, eine magische Zahl.
„Denk mal darüber nach, wie du nach Hause kommst, wie du wirklich nach Hause kommst! Du willst doch nach Hause, oder? Oder?“ begehrte Jules Verne zu wissen. Er hockte auf einer bunten Rakete, die Jagd auf den goldenen Meteor hatte gerade begonnen.
„Eins und zwei, und drei und weg, holla, holla Mausespeck. Polter, Pummel, Rumps und Stein, wir wollen noch viel mehrerererer sein.“ sang ein weißbärtiger Zwerg und rammte sich einen Taktstock tief in den Allerwertesten.
„Holla, holla, gut gesprochen, gut gestochen, holla, holla. Ich glaub, der große Weltenwringer kommt um die nächste Ecke geflossen, er wird den letzten Tropfen edelster Schlechtigkeit aus dir herauswringen.“ verkündete ein König, der ein leuchtender Stein war. Die Krone, golden und edelsteinbesetzt, spiegelte Herrn Rolands dunklen Turm .
„Sag mir endlich deinen richtigen Namen Kumpel, deinen richtigen Namen, dann lass ich dich zieh´ n, aber nur dann, hörst du!“ verlangte der Rätselknacker hartnäckig. Seine Unterwäsche war grasgrün und übersät mit Fragezeichen. Drei sprechende Blumen wuchsen zu seinen Füßen, doch sie hatten Halsweh und konnten deshalb nichts dazu sagen.
„Also ehrlich, so machst du dir niemals Freunde, das muss ich dir sagen. Du solltest dich mal fragen, ob du nicht auch zu anderem fähig bist, als nur zum Jagen, Jagen, Jagen. Da ist nämlich noch so viel mehr, so unglaublich viel mehr, das dir deine einhundertelf Augen aus der Birne purzeln würden, wenn du dich nur trauen würdest, sie zu öffnennennennen…“ beteuerte ein nackter Optiker mit rosa Brille. Lange, grauschwarze Stacheln sprossen aus seinem Rücken hervor wie ein Streifen widerborstiger Pelz. Er schüttelte den Kopf und zeigte immer wieder auf seine Stirn.

Allmählich kam Rage über Bösaug. Wenn sich die Alptraumgestalten nur irgendwie stellen ließen, um ihnen den Wahnsinn auszutreiben, doch sie waren wie Nebel und Wind, wie Nacht und Verzweiflung, überall und nirgends, einfach nicht zu fassen.
Bevor sie ihn endgültig in Raserei versetzten konnten, wie es mitunter geschah, wenn ihn das Chaos nicht so bald freigeben wollte, erfasste ihn jäh ein kraftvoller Sog und riss ihn in die Tiefe. Die Alptraumgestalten blieben enttäuscht zurück, winkten, und riefen ihm zum Abschied Schmähungen zu. Er überließ sie mit Vergnügen ihrem wolkigen Wahnsinn. An sich hinabblickend entdeckte er die Ursache des Sogs: Ein titanischer Tornadotrichter, der ganze Welten zu fassen schien. Aus seiner Mitte glotze ihm ein beunruhigend schwarzes Auge entgegen. Schon von Ferne fühlte er die Schwere, die von dem Auge ausging und seine gewaltvolle Verheißung. Beinah hätte er erleichtert aufgeseufzt, das Ende des Chaos kam in Sicht. Als er schließlich mit dem Auge in Kontakt kam, ging alles sehr schnell. Er strömte hinein wie flüssige Bosheit und wurde augenblicklich von ihm verschluckt.

Nachdem ihn die Hölle erneut ausgespien hatte, schwindlig, und trunken vor Erleichterung, irrten die letzten Sätze des Chaos noch für eine Weile durch seinen Geist. Es war irritierend. Wie könnte er jemals etwas anderes sein, als ein von Vernichtungswillen getriebener Dämon, dessen kümmerlicher Seelenrest einem Klumpen Asche gleichkam? Das war unmöglich! Undenkbar! Und Überhaupt gab es nun wichtigeres als den Hirngespinsten des Chaos hinterherzuhasten. Herauszufinden, wo er gelandet war, zum Beispiel, wer ihn gerufen hatte und zu welchem Zweck. Somit überließ er das undämonische Gedankenspiel der Schlangengrube seines Unbewussten und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung, in der er sich befand.
Kälte war das erste, das er wahrnahm. Das zweite, der ölige Mief von brennenden Fackeln. Ein Dutzend steckten um ihn her im Boden wie ein feuriger Ring. Darin eingebettet, der penetrante Gestank von Blut und Fäulnis, in dem sich ein säuerlicher Unterton verbarg.
Verrottendes Eisen liegt hier unter der Oberfläche, massenhaft und uralt, dachte er. Und: Der Tod ist hier. Der Tod ist unvermeidlich, wenn man mich ruft.
Bösaug sah sich um. Dabei kamen ihm die einhundertelf Augen zugute, die seinen Leib gleich einem glubschäugigen Ausschlag bedeckten. Ein lidloses Auge reihte sich an das andere, hässlich und glotzend, nur unterbrochen von feinen Tentakeln und seinem Mund, ein lappiger Spalt wie eine nässende Wunde. Regungslos in seiner Position verharrend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen.  
Ein geheimnisvolles Kellergewölbe tat sich vor ihm auf, dessen Kuppel von meterdicken Säulen getragen wurde. Große Teile des Gewölbes verbargen sich im Dunkeln, das Licht der Fackeln reichte vielleicht zwanzig Meter weit, dahinter erhob sich eine wabernde Schattenwand, die selbst sein scharfsichtiger Blick nicht zu durchdringen vermochte.
Eine der Säulen, sie erhob sich wenige Meter von ihm entfernt, breit und seltsam unförmig, weckte sein Interesse. Von Raureif überlagert entdeckte er blassrote Schriftzeichen auf ihr, die wie Vogelspuren wirkten, wie wahllos in den Schnee geworfene Stöckchen. Doch es war kein wahlloses Muster, beileibe nicht, die Zeichen trugen einen Sinn, dass bemerkte er sofort. Und er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben! Es war Jahrhunderte her, auch dass wusste er, und die Erinnerung getrübt, verschlagen wie ein dampfiger Spiegel, in dem nur Gespenster huschten, und doch...
Der Ort, an dem ich sie sah, war luftig und hell gewesen, ging es ihm auf. Ein Mann, stattlich wie ein Elfenkönig aus alten Tagen, saß auf einem Thron aus weißem Marmor. Neben ihm, ein Frau, ebenfalls auf einem Thron. Ihre Erscheinung war ätherisch, ja, nahezu göttlich gewesen. Purpuraugen, klar und unergründlich und trotzdem voll Zartgefühl und wissendem Verstehen, hatten ihm aus einem Gesicht entgegengeblickt, das manchmal verzweifelnden Helden im Traum erschien, um ihnen Mut zu machen, um ihnen ein Bild zu schenken, das die Leere ihrer Herzen mit Anbetung füllte. Das Paar wurde von großen Skulpturen eingefasst, die an ihren Seiten standen. Von Löwen mit gebleckten Zähnen und… Bösaug grübelte, aber die Erinnerung zerrann, zog sich in eine unerreichbare Ecke zurück. Er tastete nach ihr, vorsichtig und behutsam, doch vergeblich. Wenn er dachte, sie endlich in seinen Fingern zu haben, glitschte sie fort und versteckte sich noch tiefer in ihrem Schlupfwinkel.
Ich werde mich später damit befassen müssen, endschied er, jetzt gilt es erst einmal zu erfahren, wer mich gerufen hat und wohin.
Ein Blick auf den Grund des Feuerrings, in dem er schwebte, zeigte ihm den totgeborenen Säugling, der von jeher als Opfer notwendig war, um ihn vom Dazwischen in die Welt der Lebenden zu bringen. Ohne ihn könnte er das Chaos nicht verlassen, er war der Schlüssel, der die Tür von der anderen Seite her aufschloss.
Der Säugling lag in einem Nest aus Blättern, die Hände im Todeskampf zu Fäusten geballt. Sein Mund stand unnatürlich weit offen, eine finstere Höhle, in der jetzt nur noch Grabesstille wohnte. Rötliche Haare klebten in blutverkrusteten Kringeln an seinem Kopf.
Vertrocknete Regenwürmer auf fahler Haut, dachte Bösaug ungewollt. Darauf folgend: Speise für´ s Leben.
Um das Blätternest breiteten sich große Blutlachen aus, die den hellen, ebenfalls mit Raureif bedeckten Boden dunkel färbten. Das Blut stammte aber nicht vom Säugling, er war, soweit Bösaug sehen konnte, unverletzt, sondern von drei Mokassinschlangen, die jemand mit abgeschlagenen Köpfen um das Kind drapiert hatte wie einen makabren Geburtstagskranz.
Wenige Schritte entfernt entdeckte Bösaug einen kräftigen, jungen Mann mit kurzgeschorenen Haaren. Er lag schlafend auf einer löchrigen Decke und hatte außer einer Hose nichts an. Und obwohl er vollkommen reglos dalag, ging von ihm eine verblüffende Vitalität aus, als wäre er ein Schmetterling – eben noch auf einer Sommerwiese fröhlich Nektar schlürfend – den urplötzlich die Eiszeit überrascht hatte.
„Ich hoffe, dein neues Behältnis sagt dir zu?“ Kam nichtsahnend eine substanzlose Stimme von vorn, knisternd und hohl wie blätterschwerer Herbstwind, der durch die Flure eines verfallenen Hauses streicht. Der Stimme auf den Fersen trat ein Mann aus der Dunkelheit ins Licht.
Geballte Finsternis, war Bösaugs erster Gedanke. Der schwarze Mann, sein zweiter.
„Denn du sollst Außergewöhnliches damit vollbringen.“ fügte der Mann hinzu und setzte gleichzeitig ein Lächeln auf, mit dem er Horden unartiger Kinder schreiend in ihre Betten hätte scheuchen können.
Was zum einen daran lag, das sein Gesicht aus zäh wogendem Rauch bestand, giftig schwarz und matt funkelnd, der aufgrund irgendeines wundersamen Zaubers die Form hielt, zum anderen aber auch an seinen nadelspitzen Zähnen, die von silbrigen Käfern umwuselt hinter seinen Lippen hervorragten wie das liederliche Grinsen eines längst verstorbenen. Ein langer, dünner Zigarillo klebte im linken Mundwinkel des Mannes, von dem er hin und wieder einen genüsslichen Zug nahm.
Direkt nach dem Mann kamen zwei gigantische Gestalten knirschenden Schrittes hinter der Schattenwand hervor. Sie trugen schneeweiße Pelze und waren so groß, das der Mann bestenfalls an ihre Gürtel hätte heranreichen können. Gürtel, in denen Äxte steckten, mit deren Hilfe sie wahrscheinlich ganze Wälder in Nullkommanichts zu Kleinholz hätten verarbeiten können. Es waren Ciganii, die man hier im Goldenen Land Commandi auch unter dem Namen Glitzernde Riesen kannte.
Auferstandene Rachegötter mit Speer und Schild, kam es Bösaug in den Sinn. Und sie sind keine Wesen der Finsternis, jedenfalls noch nicht, doch sie haben ihr Herz einem Ungeheuer geöffnet, das ihre Sehnsucht nach Ruhm und Ehre zu nutzen weiß, um sie zu solchen zu machen.
Ein Gedanke, der ihn befriedigte.
„Wer seid ihr?“ fragte Bösaug donnergrollend. „Und wozu habt ihr mich gerufen?“ Die Riesen und der Mann standen nun dicht vor ihm, der Mann ein wenig näher als die Riesen.
„Alles zu seiner Zeit mein Guter.“ erwiderte der Mann spöttisch, ohne einen Funken Angst vor der Höllengestalt zu zeigen, und trat in den Fackelring hinein. „Wenn das Ritual abgeschlossen ist, werde ich dir all deine Fragen beantworten.“ versprach er und bedeutete dem Dämon mit einem Blick, er möge etwas zurückweichen. Dann kniete er sich vor den Säugling hin, nahm den Zigarillo aus dem Mund, und sagte unerwartet sanft: „Deine Schuld ist hiermit bezahlt.“ Und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Danach ritzte er mit dem Daumennagel ein Kreuz auf die Stelle des Kusses. „Nun kannst du gehen, wohin es dir beliebt.“ sagte er noch, klemmte sich den Zigarillo wieder in den Mundwinkel, und hob das Kind auf, um mit ihm den Kreis zu verlassen. Am Rand der Schattenwand hielt er inne, bückte sich, strich mit einer Hand über den Boden und eine verborgene Klappe sprang auf. Nachdem er das Kind in die Vertiefung darunter gelegt hatte, drückte er die Klappe wieder zu.
Selbst in Commandi, wo Zauberer und böse Geister fast eine Alltäglichkeit darstellten, war der dunkle Mann eine Kreatur außergewöhnlicher Art. Sein Name, den er uns später noch verraten wird, wurde hier nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert, von zahnlosen Veteranen, die ihren Verstand dem Wein geopfert hatten, oder von Maulhelden, die vor  ihren Mädchen Mut beweisen wollten. Wie Bösaug, war auch er einmal ein Mensch gewesen, wenn auch zu einer späteren Zeit. Damals hatte er in Nordamerika gelebt, in der Ära der Pioniere, der Revolverhelden und berühmten Marshalls, wie Billy Books und Wild Bill Hickok. Das meiste davon hatte er vergessen, worüber er froh war, aber nicht alles. Er wusste noch, dass er ein ärmliches, ein drittklassiges Leben geführt hatte. Die Tage verbachte er mit Faulenzen und kleinen Gaunereien, die Nächte mit stinkenden Weibern, Kartenspiel und gepantschtem Whiskey. Bis er auf den unheimlichen Mann in Rot traf. Sein Name war Tobin Rantu gewesen. Anfangs hatte Tobin bloß einen billigen Diener gesucht, der ihm die Kleider ausbürstete, die Schuhe putzte, und der skrupellos genug war, um jene Sachen für ihn zu erledigen, an denen er sich selbst nicht die Hände schmutzig machen wollte. Doch dann hatte er die verborgenen Kraft in ihm gespürt und sie aus ihrem Versteck gezerrt. An das, was danach kam, vermochte er sich noch sehr gut zu erinnern. Wie könnte er es jemals vergessen? Wie könnte ein Mann überhaupt je vergessen, dass man ihm das Herz aus dem Leib schnitt, und dass sein Blut zu schwarzen Tränen wurde?


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Beitrag09.02.2014 19:03

von Kruemel3000
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Hi Tom,
ich liebe schreienden Wahnsinn und ungezügelte Fantasie, und damit den zweiten Teil deiner Geschichte, herrliche Bilder, Pinocchio, Jadebein und Schwartebeiß, ein einizg zugekiffter Blick in die Lavalampe! Bravo - hier wurde was riskiert, herzerfrischend, hat mir gut gefallen.
Aber (wenn doch bloss nicht immer dieses ABER mit seinem Genörgl...)) -
aber Bösaug...  - muss ich sagen, beeindruckt mich nicht so sehr, schon der Name erinnert mich mehr an einen Mopshund als an einen flammschwertig kindsfressenden und unendlichbösen Dämon. Da (also fast in der gesamten ersten Hälfte) fehlt mir sprachlich der Kontrast, um ihn auch wirklich so böse zu machen, wie er vermutlich sein soll. Es reicht manchmal nicht aus, (nur) die Flammen und den Abgrund und alle hunderttausend heulenden Höllenhunde zusammen zuzitieren, ohne zeitgleich das Kontrastmittel zum Einsatz zu bringen, was deren Bosheit erst so richtig böse macht - in dem Fall: das Gute, das Normale, das Friedliche. Ich habe mal den gleichen Fehler gemacht, als ich versuchte einen hausgroßen, tonnenschwer fetten Fettklopps mit übereinander quellenden Fladen in die Unendlichkeit widerlichster Schwere und Trägheit treiben zu wollen - es wäre vielfach effektvoller gewesen, hätte ich dem einfach etwas Federleichtes, zartgliedrig Schwebendes entgegen gestellt. Will sagen: der brachiale Höllenton, den du oben anstimmst, verpufft in den eigenen Reihen.
Dies aber halte ich für einen handwerklichen Mangel, dem man womöglich durch Übung beikommt. Der Mut aber, der den Wahnsinn des zweiten Teils hervorbrachte, den halte ich für etwas durchaus Außergewöhnliches und Bemerkenswertes! Ganz toll!

In diesem Sinne einen lieben Gruss von
Kruemel
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Tom Erde
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Beitrag10.02.2014 17:58

von Tom Erde
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Hallo Kruemel3000,

vielen Dank für dein Lob, das baut einen auf. Deinem - Aber - muss ich wohl oder übel beipflichten. Da ich ein von Haus aus friedliebender und netter Mensch bin, widerstrebt es mir, mich tief in den Charakter eines bitterbösen Dämons hineinzuversetzen, was zweifelsohne bei seinen Aussagen durchschimmert. Um dies perfekt umzusetzen, braucht es wahrscheinlich eine multiple Persönlichkeit, die in der Lage ist, mit jedem Wechsel, die Gedanken und Gefühle des entsprechenden Protagonisten in sich lebendig werden zu lassen. Eine sehr schwere Angelegenheit. Dieses Problem, die Charaktere sprachlich und emotional zu trennen, sehe ich bei vielen Autoren, und die Lösung dessen, stellt meiner Ansicht nach eine der Meisterprüfungen für den angehenden Schriftsteller dar.
Jetzt könnte man sagen: Dann lass solche Charaktere einfach beiseite. Diese Möglichkeit hatte ich leider nicht, und ich fände sie zudem feige. Mit dem Präludium, das übrigens noch wesentlich länger ist, wollte nicht nur zwei-drei Protagonisten Kontur verleihen, sondern auch eine Allegorie zu der Tragödie schaffen, der sich etliche Menschen im Laufe ihres Lebens gegenübersehen, meistens in jungen Jahren. Es ist eine Spiegelung des alten Liedes: Mann, oder Frau, ganz wie man möchte, gibt sich gleich einem Süchtigen bedingungslos der Liebe hin, wird verraten, oder glaubt es auch nur, und versinkt anschließend im Morast des Liebeskummers. Die Folge: Ein Rückzug aus der Welt, die absolute Konzentration auf den eigenen Schmerz, und die Schaffung einer selbstgebastelten, inneren Hölle. Plötzlich wird Mann oder Frau durch eine unsichtbare Tür gestoßen und findet sich in einer Welt wieder, in der alles anderes ist. Das Gefühlsleben gerät ins Chaos, die normalen und gut einstudierten Verhaltensweisen greifen nicht mehr, erscheinen schal und sinnentleert, selbst der eigene Körper scheint einem anderen zu gehören. Die Leine reißt, Neid, Hass und Missgunst auf jene, die ihr Leben ungerührt weiterleben, machen sich breit, Glück erfährt Verachtung, Liebe wird in den Schmutz gezogen und alle Augen, innere wie äußere, sind auf Leid, Weh und Ach gerichtet (Deshalb der Name Bösaug.) Emotionen von innerer Abgestorbenheit und allumfassender Tristes gewinnen die Oberhand, die anderen Menschen interessieren nicht mehr, und die, die sich erdreisten, trotz allem zufrieden und fröhlich zu sein, werden verflucht. Schließlich entwickelt sich der- oder diejenige im übertragenen Sinn zum lebenden Zombie, zum Dämon. Naja, ich denke, du weißt, was ich damit meine. Letztendlich wendet man sich an andere Dämonen, wird durch hunderterlei schreckliche Universen gejagt, um irgendwann wieder zurückzufinden in die Welt des Lichtes. (Amen und Halleluja!)
Dies ist also die Intention hinter dem Text, mit reichlich Flitter verbrämt, doch immerhin noch sichtbar. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich werde mein Möglichstes tun, um Bösaug noch böser zu machen und ihn nicht nur als böse beschreiben!

Danke nochmal für dein Lob, es gibt mir das Gefühl, zumindest auf der richtigen Spur zu sein.

Tom Erde


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Beitrag11.02.2014 20:53

von Tom Erde
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Hallo miteinander,

im Zuge einiger Anmerkungen und guter Tipps, hat der Auftakt eine weitere Überarbeitung erfahren. Zum Verständnis möchte ich nochmal anmerken, dass der Auftakt, vom dem ich erst ein Fünftel rausgehauen habe, eben nur der Beginn einer episch angelegten Geschichte ist, die dann in einem etwas abgewandelten Stil weitererzählt wird.

Kurz zusammengefasst: Die Story handelt von einem vierzehnjährigen Jungen (Zocco Kirschkern) und seinen fünf Freunden und Freundinnen (Spagetti, Monster, Trickser, Pappe und Blume) Gemeinsam werden sie unter mannigfachen Verwicklungen und Abenteuern ins Goldene Land Commandi gerufen, um Zoccos Eltern, sowie das Land, vor dem bösen Bruderpaar Arges und Bellus zu retten.

Weitere Mitspieler sind: Der Finsterer, die Zwickwichte Zwickli und Zwackli, der Drache Zwar, die Spiegeltänzer, der Zwerg Stötzel Flöz, Meister Schatten, die Trolle Rumps und Rumpel, der Sumpfgnom Stummel Natz, Onkel Flammbert und, und, und.

Ich habe darüber nachgedacht, den Text kürzer zu halten, doch dann hätte ich einfach zwischendrin aufhören müssen, was ich nicht übers Herz brachte. So hat das Ganze wenigstens einen halbwegs sinnigen Schluss.


Auftakt

Die Liebe, so sagt man, soll angeblich alle Schatten vertreiben, sie soll das Herz weit machen, die Augen sehend, und soll die Welt mit beglückendem Feuer überziehen. Manche behaupten sogar, dass sie imstande wäre, den Stachel des Bösen aus dem Fleisch der Menschen zu ziehen, dass sie das Schicksal versöhnlich stimmen, und selbst den Tod in eine machtlose Ecke verweisen könnte. Daran hatte er auch geglaubt, so einfältig und fraglos wie er als kleiner Junge die Existenz der heiligen Mutter hinnahm, so fest und treu wie er später als angehender Priester von der göttlichen Fügung überzeugt gewesen war. Bis ihn die Liebe lachend in den Schlund der Hölle gestoßen hatte. Susann hieß die Tür, die ihn ins Feuer führte, Susann der Engel, süß, schön und gütig. Susann die Hexe, bitter, verschlagen und gemein.
Seine entsetzlichen Taten, die dem Schmerz ihres Verrats so unvermeidlich nachfolgten, wie Missernte einem spätsommerlichen Hagelsturm, hatten ihn nicht nur in den Wahnsinn getrieben, nein, obendrein bescherten sie ihm einen qualvollen Tod und die Verdammnis zu einem Dasein, das an Erbärmlichkeit seinesgleichen suchte. Nun war sein Name Bösaug, nun war er ein Dämon, ein Antaá Muúl, was in der Sprache der Feuerebene Vieläugiger Tod bedeutete.
Irgendwo tief vergraben in seinem Geist ahnte er, dumpf und schemenhaft, dass es früher einmal anders gewesen sein musste. Doch mit dem verfluchten Urteil hatten sie ihm neben der Menschlichkeit auch seine Vergangenheit geraubt. Die Erinnerung an sein ehemaliges Leben glich einem fadenscheinigen Teppich, dessen Muster zu bloßen Traumgebilden verblasst waren. Auf die Frage seiner Herkunft, hätte ihm sein dunkler Herr allerdings eine von Wehmut und Schadenfreude zerrissene Fratze dargeboten, und ihm kichernd mitgeteilt, dass seine Ahnungen lediglich Illusion seien, dass er schon immer als Dämon unter dem roten Himmel der Feuerebene gehaust und gelitten hatte. Tatsache oder Trug? Bedeutend oder belanglos? Bösaug wäre es einerlei gewesen, jetzt fiel derartiges bei ihm auf wüstes Land. Allein die Nacht würde sein Verschwinden bedauern.
„Ist es wieder soweit?“ fragte er die beiden Hüter der Feuerebene, merkwürdig schattenhafte Gestalten in schwarzen Anzügen. Ihre Bäuche stachen hervor als hätten sie schüsselweise Kinderköpfe verspeist.
Die Hüter nickten ihm zu, vogelartig und stumm. Anderes blieb ihnen auch nicht, da ihnen ihre Schöpfer, ob aus Verschlagenheit, oder weil sie sich lieber faul in der Sonne räkeln, keine Münder mitgegeben hatten. Ihre Gesichter waren glatt wie gespanntes Leder, keine Nasen, keine Ohren weit und breit, und von der widerlichen Farbe toten Fleisches. In Stirnhöhe aber, saß bei ihnen ein einziges hühnereigroßes Auge, ganz und gar silbern. Ein gerundeter Spiegel ihrer seltsamen Seelen.
Wie sie mich wohl verstehen? Fragte sich Bösaug unbewegt. Nix dran an ihren Köpfen, das sie hören machen könnte. Ob sie Lippenlesen? Gleichwohl er es nicht glaubte.
Er glaubte ohnehin an wenig: An seine Fähigkeiten, die die Klinge im Rücken seiner Feinde waren, an den Hass, der in ihm brannte, wild, und mit Zähnen aus vergiftetem Stahl, an die Gewalt, die von ihm ausging wie eine tödliche Schwingung, und an seinen Herrn, der die schreckliche Finsternis war, und der ihn so nahm, wie er es wollte, hässlich, abstoßend, und ergeben, bis in den niemals kommenden Tod.
Seine Heimat war ein gewaltiges Flammenmeer, war wie ein See aus brennendem Öl, der sich uferlos in alle Richtungen erstreckte, zum Kotzen heiß und beißend stickig. Anfangs war er viel umhergewandert, hatte verzweifelt nach einem Ende der Feuerebene gesucht. Trotzdem er weit ging, und er meinte, dass es Millionen Meilen gewesen waren, fand er nichts als Flammen und andere Verbannte wie ihn. Diese brachten zuerst etwas Abwechslung in sein Dasein. Weil sie jedoch ausnahmslos dem Irrsinn der Ewigkeit anheimgefallen waren, kranke, somnambule Geister, die sich in Schmerz und Hass suhlten wie Schwein im Schlamm, zog er sich bald von ihnen zurück. Sie hatten nichts, das seiner Achtung wert erschien.
Nun aber war es wieder soweit! Er fühlte es bereits seit einer Weile in jeder Faser seines qualligen Leibes, eine Veränderung bahnte sich an. Bald, ja, sehr bald würde er es wieder sein, der andere in Brand setzte.
Die Worte der Beschwörungsformel vernahm er mit wachsender Anspannung. Die Stimme ihres Sprechers, der ihn aus einer anderen Sphäre zur Jagd rief, besaß eine befehlsgewohnte Eindringlichkeit. Hohl und gefühllos hatte sie geklungen und ihm überraschend wohlgetan.
Als der letzte Ton verhallt war, tauchten die Hüter auf, in wenigen Schritten Entfernung und mit maschinenartig ruckenden Köpfen. An ihnen lag es zu entscheiden, ob dem Ansinnen seines Rufers auf vorübergehende Entlassung stattgegeben wurde, ob alle Voraussetzungen für den Übertritt vorlagen oder nicht.
Doch darüber machte er sich keine Sorgen. Das einzige worüber er sich Gedanken machte, war das Chaos des Dazwischen, dass er immer erst überwinden musste, um in die Welt der Lebenden zu gelangen. Es war der Grenzwall, der die Ebenen voneinander trennte. Das Chaos verwirrte ihn und bestürmte ihn mit Fragen, denen er sich höchst ungern stellte, und es ließ Zweifel bei ihm aufkommen, die für einen Dämon seines Schlags mehr als ungewöhnlich waren.
Er bedachte die Hüter mit einhundertelf Blicken, die sie nachdrücklich starrend erwiderten. Dann blinzelten sie ihm bestätigend zu. Ihr Urteil war gefallen, er durfte hinaus.
Bösaug meinte sich zu erinnern, dass ihre Beratung bei seinem letzten Übertritt wesentlich länger gedauert hatte, und erwog, ob die rasche Entscheidung von Bedeutung war, ob die Hüter damit eine Niedertracht verfolgten, oder ob diesmal etwas Besonderes auf ihn warten würde? Obwohl ihm eine teuflische Gerissenheit innewohnte, tat er dies nur oberflächlich, er war kein großer Denker, eventuell möglichen Möglichkeiten nachzujagen lag ihm nicht, seine Stärke war anderer Natur.
Um die Tür herbeizurufen, die ihn ins Dazwischen führen sollte, streckten die Hüter ihre Hände aus, hielten sie dicht vor ihr Auge, und studierten sie beflissen. Ihre Hände erschienen beinahe noch verstörender als die Gesichter, denn nach Fingern suchte man an ihnen vergeblich. Stattdessen befanden sich sieben goldene Schlüssel mit zackigen Bärten an jeder Hand, dünn, lang, und fragil anmutend.
Ein flüchtiger Betrachter hätte sie möglicherweise einfach für Schlüssel gehalten, für eigenartige und absonderliche, nichtsdestotrotz für Schlüssel, deren vornehmlicher Sinn es war, Türen zu öffnen. Wer ihnen näher kam, und in den Kreis ihres Liedes trat, konnte diesem Irrtum nicht mehr unterliegen. Nicht nur, das von ihnen ein für die Hölle unpassend ätherischer Schein ausging, nein, sie sangen außerdem ein wundersames Summen, schmerzlich einsam und grauenhaft schön.
Als Bösaug ihrer Ansichtig wurde, brach ohne Vorwarnung eine Bilderflut über ihn herein, aufwühlend und irgendwie flehentlich. Zuerst: Eine verrostete Maschine, die seit Jahrtausenden tief unter der Erde schnurrend ihren Dienst versah und Wasser in gigantische Becken pumpte. Sie lag vergessen da, diese uralte Maschine, allein und unbesucht. Fahl leuchtende Moose wuchsen in ihrem Schatten und gaben spukhaftes Licht dazu. Hin und wieder schlich sich ein meckerndes Schleifen in den Lauf der Pumpe, rasselnd und unrund. Ihre Tage waren gezählt, das war unüberhörbar. Dann: Ein Chor bräunlicher Sumpfgnome. Zu tausenden sangen sie einen einzigen Akkord des Wohlgefallens, hingebungsvoll, anschmiegsam, der so gar nicht zu ihrem knorrigen Aussehen passen wollte. Eine vereinzelte Stimme vermochte den Ton nicht zu halten, brachte einen dissonanten Hauch in die Symphonie, der sich auszubreiten suchte. Zuletzt: Ein entfernter Sturm, rot, mächtig und stark. Er jagte über einen Wüstenboden wie gestocktes Blut und formte mit jeder Böe Universen und verwarf sie wieder. Jedes Stäubchen ein Sonnensystem, jedes Sandkorn eine Galaxie.
Das Summen der Schlüssel schien allen Daseins Quelle zu sein und vereinigte sich in den Händen der Hüter, die damit Welten verbanden, die Löcher in sie stießen, um jene einzulassen, die unter dem fragwürdigen Schirm der Schicksals standen.
Bösaug schüttelte die Bilder wütend ab, sie ließen Gefühle bei ihm aufkommen, die ihm ekelerregend waren. Trauer, Verlassenheit. Und das schlimmste: Hilflosigkeit. Er hasste den Klang der Schlüssel. Bei ihm fühlte er sich klein und schwach. Sie hatten auf der Feuerebene nichts zu suchen, sie gehörten vielmehr dem Himmel an, und der war ihm widerwärtig.
Mit einem Zwinkern, das skurrilen Humor erahnen ließ, wählten die Hüter den Schlüssel namens Mondgras aus. Er war der zweite nach dem Daumenschlüssel und funkelte dunkel. Augenblicklich begannen sie, mit dem Mondgrasschlüssel elliptische Bahnen durch die Luft zu schneiden, denen für Sekunden eine feurige Spur folgte. Sobald die Zeremonie beendet war, nahmen sie etwas Abstand auf und führten die beiden Schlüssel in einer zärtlich und zugleich linkisch wirkenden Geste zusammen. Sie hatte etwas von dem ersten, scheuen Kuss, den frisch Verliebte tauschen, noch voller Unsicherheit, ob ihre Zuneigung auch erwidert wird.
Da blitzte und knallte es laut und magnesitartig blendende Funkenschauer ergossen sich unter dem Bogen, den die Arme der Hüter bildeten. Erst fiel der Regen breit und zügellos herab, aber schon bald bündelte er sich zu einer haarfeinen Linie, die, wie flüssiger Stahl einer Rinne aus Sand nachfloss, sukzessive einen quadratischen Umriss bildete. Als die Kontur komplett war, lösten die Hüter ihre Schlüssel wieder voneinander. Rasch verlöschten der Funkenregen und das Glühen und die magische Tür nahm Gestalt an.
Sie war von erschreckend lichtlosem Schwarz. Ein silberner Rahmen, der über und über mit Tiergravuren versehen war, hielt sie in Position. Bösaug interessierte das wenig. Lediglich die kleine Schildkröte in der oberen, rechten Ecke der Tür erregte wie gewöhnlich seine Aufmerksamkeit. Sie erinnerte ihn an irgendetwas. Er konnte nicht sagen, woran. Nur, dass es mit der Zeit vor dem vernichtenden Richterspruch, der ihn zum Dasein als Dämon verurteilt hatte, zusammenhing. Aber auch das war für ihn ohne Bedeutung. Seine Vergangenheit als Mensch, seine Name, seine Geschichte, all dies wurde vor langer Zeit zu Staub zertreten, war jetzt ein zersplitterter Traum, verloren und unwiederbringlich dahin.
Abermals streifte sein Blick die Schildkröte. Sie war wie aus Sternensplittern gemacht und trug eine Schale auf ihrem Panzer. Das beklemmende Dunkel der Tür wurde von ihr nur unwesentlich gemildert.
Plötzlich berührte ein neuerliches Bild seinen Geist. Sattgrüner Rasen, der fast etwas frevelhaft Lebendiges hatte, eine morsche Holzkiste, gefüllt mit Stroh und ein paar Salatblättern. Aus einer Strohhöhle in der Kiste lugte ein schuppiges Köpfchen hervor, das auf einem faltigen Hals saß.
Mona, fuhr es durch ihn hindurch, ihr Name war Mona. Ein Gefühl des Bedauerns regte sich in ihm wie ein dunkler Wind. Es war ihm peinlich, als wäre er beim Griff in die Keksdose erwischt worden. Ein Dämon kannte kein Bedauern, ein Dämon war ein Werkzeug der Vernichtung, der verheerenden Gewalt. Bedauern war etwas für Schwächlinge, war etwas für die Rückgratlosen und Kriecher. Kriechen hatte er vor Jahrhunderten verlernt.
Leises Klicken verscheuchte seinen inneren Streit. Er sah die Tür aufspringen, und erblickte das Chaos.
Gedämpfte Stimmen drangen aus den Gewalten hervor, Stimmen, die einer Sturmflut gleich auf ihn einschlagen würden, unwiderstehlich und mit brüllendem Aberwitz in ihrem Schoß. Diesmal würde er ihnen die Stirn bieten, nahm er sich vor, würde sie mit Klauen und Zähnen empfangen, ihnen die Zungen herausreißen, sie fressen, und sie dann mit einem Tritt in die schimmelige Ecke zurückbefördern, aus der sich gekrochen kamen. Während er sich noch voll grimmiger Entschlossenheit gegen den ersten Angriff wappnete, versetzten ihm die Hüter kurzerhand einen Stoß, der ihn haltlos durch den Rahmen trieb. Krachend schlugen sie die Tür hinter ihm zu. Er wand sich um. Sie war fort. Da erfasste ihn der Wind des Chaos und er stürzte:

„Kennst du die Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit?“ fragte ein kieksendes Kind in seinem Kopf. Schrill, laut, unnachgiebig!
„Wo denkst du hin, das dumme Vieh doch nicht, das kennt nur Hauen, Stechen und Blutlutschen.“ antwortete ein blauer Bär. Brummig und überzeugt.
„Lasst ihn ruhig antworten, vielleicht ist er gar nicht so doof wie er stinkt!“ warf Pinocchio ein. Seine Nase ragte weit über die Unendlichkeit hinaus.
„Diesmal wirst du endgültig verrecken, du blutgeiles Vieh, wirst vergehen wie dein grausamer Gestank, wirst den Bach runtergehen und ihn nie wieder raufkommen!“ drohte eine schneidende Scherenstimme. Klirrend, scharf, nervtötend.
„Liegt deine Schwester nicht am kurzen Bach begraben? Hast du ihr – ritsch ratsch – den Hals durchgeschnitten?“ fragte Winston Smith  aus einem Weißkohl heraus. Der große Bruder rief ihn zur Ordnung.
 
Während Bösaug durch die Wolkenmassen trudelte, und wie Laub von einem Wirbel zum nächsten geschleudert wurde, infiltrierten die Stimmen sein Bewusstsein, verbissen sich in seinen Gedanken wie Zecken, und er konnte wieder einmal nichts dagegen tun.
 
„Jadebein und Schwartebeiß scheißen Ringe gern im Kreis. Kannst du das auch? Oder hast du bereits vergessen, wie man es so richtig in die Schüssel scheppern lässt? fragte Rumpelpumpel aus seinem Grab am kurzen Bach heraus, wobei ihm Luft und Blut blubbernd aus dem offenen Hals sprudelten.
„Wie hieß dein Bruder, hirnloser Haufen Blutwurst? War sein Name Gurkenschleim, oder Grüner Häschen Hüpfer?“ War Hazel-rah´s  Frage an den Dämon während er die finsteren Gänge unter Efrafra entlanghoppelte, die Nase schnuppernd im Dreck.
„Er sollte ausnahmsweise mal was Gutes tun, findet ihr nicht? Einer Kröte über die Straße helfen, oder einer Oma das Strickzeug reichen. Das wär doch mal ne tolle Sache.“ behauptete ein grünes Männchen im selbstgestrickten Pullover und warnte gleichzeitig einen Autofahrer davor, dem ollen Blechgefährt keinesfalls seine Seele zu schenken.
„Nein, nein, nein, ach du gute Güte, bloß das nicht, dann würde er ja anschwellen wie ein überreifes Furunkel am Arsch und patsch, quatsch zerplatzen. Er würde auslaufen und ohne Bedauern weggewischt werden. Bis auf ein bisschen stinkende Schmiere würde nichts bleiben. Na, ist das keine riechenswerte Aussicht?“ fragte eine aufblasbare Puppe in weißem Kittel. Sie hatte ein Stethoskop um und eine dicke, blaue Schnecke streichelnd im Arm.

All dies huschte in einem idiotischen Reigen verbunden an Bösaug vorbei. Er sah hämische Masken, die ihn verhöhnten, putzige Spielzeuge, die ihn anstachelten, großäugige Trolle, die ihn verschlingen wollten.

„Wer war denn dein Vater, saublöder Schluck Eiter?“ ging es weiter. „War sein Schädel genauso entzündet wie deiner?“ fragte der Indianer Starke Marke  und paddelte weiter den Waschbeckenfluss hinunter.
„Er wurde bestimmt frühzeitig abgetrieben.“ beharrte Dr. Sauerbier mit einer anständigen Prise Lachgas in der Nase.
„Ja, genau, deshalb ist er so unausgegoren, so restlos gehirnlos, so vertrottelt, das die Dämlichkeit pfundweise aus ihm herausspritzt.“ gab Winnetou III dazu. Ihm steckte eine Friedenspfeife im Ohr, mit feinstem Cannabis randvoll gestopft.
„Wo soll das nur hinführen, hm? Immer nur hetzen und zerhacken, im Blut sudeln und solch abartiges Zeug. Das kann doch nicht gesund sein.“ äußerte ein kreisendes Prisma. Es hatte die Farbe Lila verloren und suchte sie nun im Schwarzen Land.
„Wer war deine Mutter, rotznasiger Eimer Abtritt? Hatte sie auch so eklig viele Glotzaugen wie du?“ fragte ein zorniger Apfelkuchen. Einhundertelf Kerzen brannten auf ihm, eine magische Zahl.
„Denk mal darüber nach, wie du nach Hause kommst, wie du wirklich nach Hause kommst! Du willst doch nach Hause, oder? Oder?“ begehrte Jules Verne zu wissen. Er hockte auf einer bunten Rakete, die Jagd auf den goldenen Meteor hatte gerade begonnen.
„Eins und zwei, und drei und weg, holla, holla Mausespeck. Polter, Pummel, Rumps und Stein, wir wollen noch viel mehrerererer sein.“ sang ein weißbärtiger Zwerg und rammte sich einen Taktstock tief in den Allerwertesten.
„Holla, holla, gut gesprochen, gut gestochen, holla, holla. Ich glaub, der große Weltenwringer kommt um die nächste Ecke geflossen, er wird den letzten Tropfen edelster Schlechtigkeit aus dir herauswringen.“ verkündete ein König, der ein leuchtender Stein war. Die Krone, golden und edelsteinbesetzt, spiegelte Herrn Rolands dunklen Turm .
„Sag mir endlich deinen richtigen Namen Kumpel, deinen richtigen Namen, dann lass ich dich zieh´n, aber nur dann, hörst du!“ verlangte der Rätselknacker hartnäckig. Seine Unterwäsche war grasgrün und übersät mit Fragezeichen. Drei sprechende Blumen wuchsen zu seinen Füßen, doch sie hatten Halsweh und konnten deshalb nichts dazu sagen.
„Also ehrlich, so machst du dir niemals Freunde, das muss ich dir sagen. Du solltest dich mal fragen, ob du nicht auch zu anderem fähig bist, als nur zum Jagen, Jagen, Jagen. Da ist nämlich noch so viel mehr, so unglaublich viel mehr, das dir deine einhundertelf Augen aus der Birne purzeln würden, wenn du dich nur trauen würdest, sie zu öffnennennennen…“ beteuerte ein nackter Optiker mit rosa Brille. Lange, grauschwarze Stacheln sprossen aus seinem Rücken hervor wie ein Streifen widerborstiger Pelz. Er schüttelte den Kopf und zeigte traurig immer wieder auf seine Stirn.

Allmählich ging Bösaug die Galle über. Was er auch tat, um die Alptraumgestalten zu stellen, so oft er auch nach ihnen griff und biss, um ihnen den Wahnsinn auszutreiben, sie blieben wie Nebel und Wind, wie Nacht und Verzweiflung, waren überall und nirgends, einfach nicht zu packen.
Bevor sie ihn in blindwütige Raserei versetzten konnten, wie es manchmal geschah, wenn ihn das Chaos nicht so bald freigeben wollte, erfasste ihn jäh ein kraftvoller Sog und riss ihn in die Tiefe. Die Alptraumgestalten blieben enttäuscht zurück, winkten, und riefen ihm zum Abschied Schmähungen zu. Er überließ sie mit Vergnügen ihrem wolkigen Wahnsinn. An sich hinabblickend entdeckte er die Ursache des Sogs: Ein Tornadotrichter, der ganze Welten zu fassen schien. Aus seiner Mitte glotze ihm ein beunruhigend schwarzes Auge entgegen. Schon von Ferne fühlte er die Schwere, die von dem Auge ausging und seine gewaltvolle Verheißung. Beinah hätte er erleichtert aufgeseufzt, das Ende des Chaos kam in Sicht. Als er schließlich mit dem Auge in Kontakt kam, ging alles sehr schnell. Er strömte hinein wie flüssige Bosheit und wurde augenblicklich von ihm verschluckt.

Nachdem ihn die Hölle erneut ausgespien hatte, irrten die letzten Sätze des Chaos noch für eine Weile durch seinen Geist. Es war irritierend. Wie könnte er jemals etwas anderes sein, als ein von Vernichtungswillen getriebener Dämon, dessen erbärmlicher Seelenrest einem schwelenden Klumpen Asche gleichkam? Das war unmöglich! Undenkbar! Und Überhaupt gab es nun wichtigeres als den Hirngespinsten des Chaos hinterherzuhasten. Herauszufinden, wo er gelandet war, zum Beispiel, wer ihn gerufen hatte und zu welchem Zweck. Somit überließ er das Gedankenspiel der Schlangengrube seines Unbewussten und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung, in der er sich befand.
 
Für weitere Anregungen und Kommentare wäre ich mopsmäßig entzückt.

Tom Erde


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Jenni
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Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag13.02.2014 21:10

von Jenni
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Hallo Tom.

Habe ich gesagt, ich habe "leider" versprochen, deinen Text zu lesen? Das möchte ich mal ganz schnell zurücknehmen. Ich habe den nämlich tatsächlich sehr gerne gelesen. smile
Die zweite Version, muss ich mal gleich dazusagen, denn mir geht das hier leider ein bisschen zu schnell. Während ich noch überlege, was ich dir jetzt dazu sagen möchte, hast du schon wieder überarbeitet? Minimal oder alles umgeschmissen, keine Ahnung. Ich finde das ja wirklich umwerfend, wie du dich hier reinstürzt, ich mag Menschen, die sich begeistern können, und zwar sehr - aber hey, schalt mal nen Gang runter, wenn es dir darum geht, ernsthaft Feedback zu bekommen. Für die Zukunft: weniger Text, dann lesen den auch mehr Leute und sagen etwas dazu - und dann warte doch mal ein paar Meinungen ab, wie willst du sonst entscheiden können, wie ernst du Kritikpunkte zu nehmen hast?

Jedenfalls, was wollte ich sagen. Oh je, Detailarbeit gibt es bei so einer Textmenge nicht von mir, nur ein bisschen allgemeinen Leseeindruck, okay?
Mir scheint, du sprühst nur so vor Ideen, das finde ich toll, und ich glaube dir jetzt, dass du dem Genre mehr abtrotzen wirst, als eine banale Zwerge-und-Elfen-Geschichte nach Schema F. Du weißt auch durchaus dich auszudrücken und zeigst eine Art Wortwitz, der ich viel abgewinnen kann.
Mir war das am Anfang sprachlich fast ein bisschen arg ... überladen? pathetisch? (antiquiert?) Aber nur fast. Mir gefällt, wie bildlich du schreibst und wie eigen. Und dann diese Figur, der Dämon Bösaug, zu dem diese Sprachgewalt einfach hervorragend passt. Dieser Dämon macht mich sehr neugierig, er wirkt so zerrissen auf mich, das gefällt mir an ihm, als ob er sich noch nicht damit abgefunden hat, böse zu sein, dagegen ankämpft ... Leider habe ich auch deinen Kommentar danach gelesen, der so klingt, als wolltest ihn noch grundböser gestalten - vielleicht würdest du dir damit etwas vergeben? (Na gut, ich finde halt Grauschattierungen spannender als schwarz/weiß.)
Des Dämons Geburt in die Welt Comandi ist herrlich überdreht und abgedreht ... und dann frage ich mich natürlich ab einem Punkt, soll das so weitergehen?? Und soviel du zu deinem Vorhaben schreibst ja offenbar nicht. Ist der Großteil der Geschichte aus Sicht dieses Jungen, Zocco, erzählt? Ich vermute jetzt mal, dass sich dessen Erzählsprache sehr von Bösaugs unterscheidet? Dann würde ich es vielleicht nicht zu sehr ausreizen, die fünffache Menge von dem was hier steht an pathetisch überdrehter Bösaug-Sprache und -Weltsicht könnte dann vielleichte etwas falsche Erwartungen wecken? Ja hm, schwer zu sagen.

Jetzt einfach mal aus der Warte "Einstand" heraus: Mich machst du neugierig, ich bin gespannt was von dir noch kommt. Ich finde das hier sehr vielversprechend und bedaure es selbst, dass ich nicht die Zeit habe, mich detailierter damit auseinanderzusetzen.
Wie gesagt, geh es eine Spur langsamer an, dann wirst du womöglich hier glücklicher. wink

LG Jenni
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Tom Erde
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Beitrag14.02.2014 20:54

von Tom Erde
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Hallo Jenni,

danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, den Text zu lesen. Zu deinen Kommentaren muss ich mal folgendes loswerden: Ich kann gut verstehen, dass sich der eine oder andere von ein wenig mehr Text überfordert fühlt, allerdings hätte ich dies nicht im Deutschen Schriftstellerforum erwartet, da sich hier doch eigentlich - berichtige mich bitte, wenn ich in diesem Punkt falsch liege - die Creme de la Creme des Landes tummeln müsste. Und eine solche müsste ebenfalls wissen, dass man die Güte und das Werk eines Schreibenden nicht anhand von fünfhundert Worten beurteilen kann. Ich persönlich fand meinen ersten Beitrag schon reichlich kurz. Überdies ist mir bei meinen Exkursionen durch den Einstand mancher Text aufgefallen, der sich mit weniger begnügt hat, der nicht viel mehr als einen Abriss eine Skizze geboten hat, und dessen Schreiber sich dennoch für einen verkannten Shakespeare hielt, und der durch entsprechende Kritik auch noch in seiner Selbstüberschätzung unterstützt wurde. Vielleicht bin ich tatsächlich ein bisschen ungeduldig, in mir brennt ein Feuer, das bedingungslos nach Ausdruck verlangt, und Halbheiten sind mir schon immer ein Greul gewesen.  Bitte nicht böse nehmen, wie schon angemerkt, schätzte ich ein klares Wort.
Nichtsdestotrotz habe ich eine weitere Geschichte - die in einem vollkommen anderen Stil gehalten und eher lustig ist - in den Einstand gestellt, unter dem Titel - Freundschaftliches -  Diese hat auch nur fünfhundert Worte, also eine Menge, die durchaus zu schaffen ist.

Was die Figuren und den Anfang des Auftakts anbelangt. Dieser bedient ein bekanntes Thema: Vor der eigentlichen Geschichte wird ein Blick gewährt in die Welt, in der die Story hauptsächlich spielen soll. Er ist absichtlich tiefgründig - wenn man so will pathetisch - gehalten, um ein Zeugnis abzulegen und einen Fingerzeig zu geben. Ein Zeugnis darüber, dass da noch mehr ist, als die Wissenschaft mit Lupe und Rastertunnelmikroskop herausgefunden hat, und einen Fingerzeig auf das, was den Helden in Bälde erwartet.

Zu der Figur Bösaug: Sie stellt eine Allegorie, einen Spiegel, ein Gleichnis auf die alte Tragödie dar. Mann oder Frau, ganz wie du möchtest, gibt sich mit ganzem Herzen der Liebe hin und erfährt Verrat, oder glaubt es auch nur. Die Folge: Rückzug von der Welt, die Konzentration auf den eigenen Schmerz, die Schaffung einer selbstgebastelten Hölle. Plötzlich wird er durch eine Tür gestoßen und findet sich in einer Welt wieder, die vollkommen anderen Gesetzen gehorcht. Chaos bricht aus, tausend Stimmen werden laut. Äußere, die einem jeden Scheiß raten. Innere, die sich dem anschließen. Selbst der eigene Körper scheint ein anderer zu sein. Alle gut einstudierten Verhaltensweisen greifen nicht mehr, der Faden reißt, Absturz. Schließlich wird alles und jeder, der trotzdem glücklich weiterlebt mit Hass betrachtet - Bösaug - . Nun beginnt die Jagd nach der Welt, wie sie einmal war, nach der Unschuld, der Tugend und dem Glück. Dies symbolisiert der Held Zocco und seine Freunde, deren Jäger Bösaug wird usw.

Ob Bösaug letztlich wieder zum Licht findet, liegt noch im Dunkel. Der Rest ist Flitter und Träumerei.

Noch eine Kleinigkeit zum Thema Pathetik. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Pathetik - Tiefgründigkeit - immer nur jenen aufstößt, die selbst keine besitzen. Sollte man also bloß noch oberflächliche Beschreibungen von der hübschen Welt abgeben, Blumenflattern, Wolkenziehn, Scherenschnitte von der Tristes des Alltäglichen, darüber, wie nasse Taschentücher in schmierige Ritzen gestopft werden? Ich denke nein! Die Pathetik ist das Schloss, die Fantasie der Schlüssel. Und was liegt hinter der Tür?

Ich hoffe sehr, dass ich es mir mit meiner Aussage nicht mit dir verscherzt habe.

Liebe Grüße

Tom Erde


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Jenni
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Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag14.02.2014 21:41

von Jenni
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Du hast eine PN zur Klärung dessen, was mit deinem Text wenig bis nichts zu tun hat. VG Jenni
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KeTam
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Beitrag15.02.2014 12:19

von KeTam
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Tom Erde hat Folgendes geschrieben:
Ich kann gut verstehen, dass sich der eine oder andere von ein wenig mehr Text überfordert fühlt, allerdings hätte ich dies nicht im Deutschen Schriftstellerforum erwartet, da sich hier doch eigentlich - berichtige mich bitte, wenn ich in diesem Punkt falsch liege - die Creme de la Creme des Landes tummeln müsste. Und eine solche müsste ebenfalls wissen, dass man die Güte und das Werk eines Schreibenden nicht anhand von fünfhundert Worten beurteilen kann.


Der kursive Teil hört sich bestimmt nur unbeabsichtigt etwas schnippisch an, oder?

Wenn man sich einige Zeit mit dem Schreiben beschäftigt ist es durchaus anzunehmen, dass man auch anhand kürzerer Textstücke die Qualität eines Textes beurteilen kann.
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Tom Erde
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Beitrag15.02.2014 17:35

von Tom Erde
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Hallo KeTam,

nun, was das rein Handwerkliche anbelangt, kann ich dir nur beipflichten. Ob jemand Rechtschreibung, Zeichensetzung und Syntax halbwegs beherrscht, lässt sich sicher anhand weniger Sätze erkennen.

Wenn es jedoch um die folgenden, und meiner Meinung nach wesentlichen wichtigeren Punkte geht, (Kennt sich die/der Schreibende mit den Charakteren aus?   Kann sie/er mit ihnen spielen?   Hat sie/er die Beziehungen verstanden, die sie untereinander haben?   Hat sie/er die Geschichte überhaupt bis zum Ende durchdacht?  Weiß sie/er um ihre Allegorie?  Weiß sie/er, wovon die Charaktere träumen, was sie lieben, was sie  verabscheuen, was sie hoffen, planen, fühlen, fürchten usw.?   Kann sie/er längere, gut durchdachte Szenen bieten?   Kann sie/er einen Spannungsbogen aufbauen/halten/auflösen?   Kann sie/er einem längeren Ablauf folgen, einen Handlungsfanden spinnen?   Gib es überhaupt genügend Stoff, um eine längere Geschichte lebendig zu halten? Gibt es grundlegende logische Schwächen?  Kann sie/er abwechslungsreich genug schreiben, um eine längere Geschichte interessant zu halten?   Kann sie/er mit allen Farben des Spektrums malen?   Weiß sie/er Humor, Tragödie, Besinnliches, Aufrüttelndes, Liebe, Schmerz, Freundschaft, Weisheit, Aberwitz, Klugheit, Schönheit, Grausamkeit, Demut, Überheblichkeit usw. zu einem Gesamtbild zusammenzustellen?   Biete die Geschichte etwas Neues, Überraschendes in Gestaltung und Abschluss?) reichen ein paar hundert Worte ganz bestimmt nicht aus. Erst wenn solcherart Fragen geklärte sind, kann ich mir eine fundierte Meinung bilden, ob eine Geschichte Erfolg verspricht oder nicht.

Nochmal, ich will hier niemandem auf die Füße treten, und mir ist durchaus bewusst, dass die Kritiken von Menschen kommen, die Freude am Lesen haben, und dass keiner von ihnen dafür bezahlt wird. Zudem bin ich froh wie der Mops im Karton, dies Forum gefunden zu haben. Ein Forum von Menschen, die eine kluge Debatte zu schätzen wissen, die vieles über Literatur, Literaturgeschichte, literarische Techniken usw. auf dem Kasten haben.

Mit versöhnlichem Gruß

Tom Erde


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KeTam
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Beitrag16.02.2014 16:05

von KeTam
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Tom Erde hat Folgendes geschrieben:


nun, was das rein Handwerkliche anbelangt, kann ich dir nur beipflichten. Ob jemand Rechtschreibung, Zeichensetzung und Syntax halbwegs beherrscht, lässt sich sicher anhand weniger Sätze erkennen.



Hallo Tom,

das, was du oben schreibst sicher auch. Aber nicht nur. Du kannst an einem relativ kurzen Textstück auch sehen, wie ein Text stilistisch gehalten ist, obs da noch viel zu machen gibt usw. Und natürlich, wenns der Anfang einer längeren Sache ist, ob der Anfang den Leser so weit fesselt, dass er überhaupt weiter lesen würde.

Alle Punkte, die du sonst genannt hast, lassen sich aber wohl besser von Testlesern klären. Find ich zumindest. Das sprengt dann doch den Rahmen der Werkboards. Naja, du kannst den Text natürlich auch in kleineren Happen einstellen und sofern Interesse besteht, dann die Fortsetzung posten.

Lg, KeTam.
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Tom Erde
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Beitrag18.02.2014 18:27

von Tom Erde
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Hallo KeTam,

danke für deine Antwort. Sicher, solch eine detaillierte Bearbeitung würde  den Rahmen sprengen.

Grüße und bis bald.

Tom Erde


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