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Oliver
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Beitrag21.01.2014 18:57
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von Oliver
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Kraftlos verkrampft ihre dürre Hand. Adern, gestochen scharf und doch unscheinbar fein treten wie ein Blattgeäst hervor, pulsieren leer. Blut kriecht zäh in seinen Bahnen.
Rot sind auch die Augen, rot und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Unangenehmer Atem liegt in der Luft, feucht und übel riechend trocken, vermischt mit der stickigen, hohlen Luft des Raumes. Geblümte Tapete an der Wand, gelbe Blüte auf giftgrünem Hintergrund, ekelhaft eindringlich, auf erstaunliche Art faszinierend geschmacklos. Ihr verfilztes Haar liegt ihr in stumpfen, fettigen Strähnen am Kopf, das stolze Platinblond früherer Tage ist dem faden Grauton gewichen.
Grau sind auch die Augen, grau und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
An den Wänden gedeiht ein prächtiger Schimmel, wie ein nimmersattes Untier verschlingt er die kalkweiße Fläche, hinterlässt seine dunklen, nässenden Flecken. Ekzeme, die die Haut zerfressen. Spinnennetze flirren sacht durch die Winkel des Raumes. Sie vibrieren leicht, doch die Luft steht. Ihre Leichtigkeit gibt ihnen das Recht zu tun, was ihnen gefällt. Die raue Matratze scheuert unangenehm an ihrem Rücken. Schon wund vom vielen Liegen, doch anstatt den Schmerz zu meiden, fordert sie ihn stärker heraus, drückt sich  zusätzlich fester dagegen. Der Schmerz lenkt sie ab.
Kennt sie seinen Namen? Wer ist er?
Doch was ändert schon das Wissen?
Wie alt mag er wohl sein? 45? 55? Sein Haar beginnt schütter zu werden. In ein paar Jahren hat er wahrscheinlich eine Glatze. So wie ihr Vater eine hatte. Mein Gott. Und er ist alt. Alt und faltig. Alt und faltig und hässlich. Er keucht und schwitzt. Sein Schweiß riecht, riecht beißend wie ungewaschene Haut, wie mangelnde Hygiene. Und diese alte, weiße Haut.
Weiß sind auch ihre Augen, weiß und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Wie lange schon? Tage? Monate? Jahre?
Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit. Zeit begreifen bedeutet, eine Erinnerung zu wahren. Ihr bisheriges Leben gibt ihr nichts, was diese Anstrengung verdiente.
Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie hinein geraten war. Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie jemals wieder herauskommen soll.
Jetzt ist er bald fertig, sie sieht es in seinem Gesicht. Wie er vor Anspannung die Brauen hebt, wie lächerlich sich seine Nasenlöcher blähen. Die Ekstase verzieht sein altes Gesicht zu einer erschreckenden Fratze, seine Bewegungen werden härter, seine Hand krampft an ihrer Taille.
Wie viele Männer hatte sie so schon gesehen? Wenn sie sich nur sehen könnten, wie erbärmlich die Lust sie macht, wie ekelerregend ihre Erregung wirkt.
Es ist soweit. Er schließt die Augen. Seine Züge entspannen, er erschlafft. Angewidert wendet sie den Blick ab. Ein saurer Geschmack nach Erbrochenem steigt ihr die Kehle hoch. Ihr schwindelt. Der Raum dreht sich.
Spärliche Sonnenstrahlen dringen durch das verstaubte Fenster, die Spinnweben glänzen herrlich im Licht. Die stickige Luft schluckt die Strahlen.
Bevor er sich zur Seite wälzt, legt er ihr einen Hunderter aufs verklebte Haar. Sie atmet flach. Sie hört sein Schnarchen. Die geblümte Tapete grinst spöttisch, hat alles schon oft genug gesehen. Von draußen dringt freudiges Kindergeschrei an ihre Ohren. Ein Hund bellt. Die Welt dreht sich weiter. Ohne sie.
Sie wünscht, sie hätte noch Wünsche.
Farblos sind die Augen, farblos, starren fixiert und gelöst an ihm vorbei, in Richtung Decke, suchen einen Himmel in dieser Hölle. Den es nicht gibt.



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tschauen
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Beiträge: 6
Wohnort: Köln


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Beitrag26.01.2014 18:10

von tschauen
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Hallo Oliver.

Eine schöne Geschichte. Vor allem der Aufbau hat mir gut gefallen und die Ruhe und Zielgerichtetheit mit der du die Linse der Szene immer schärfer stellst.
Als Kritik muss ich dir sagen dass mir der erste Absatz zu verwirrend vorkam, sodass ich ihn auch jetzt bei der Kritik mehrmals lesen muss um den Bildern zu folgen. Das ist, denke ich, teilweise bestimmt auch so gewollt, andererseit sollte es ja auch nicht zu viel sein. Bspw:

"Ekzeme, die die Haut zerfressen..... Ihre Leichtigkeit gibt ihnen das Recht zu tun, was ihnen gefällt"

Ich würde im zweiten Absatz weniger Adjektive verwenden, denn vor lauter wie Wörtern kann man sich auf einmal garnichts mehr vorstellen, zumindest beim ersten Lesen, sodass ich fast nicht weitergelesen hätte.
Aber als dann die Matratze kam, hatte ich auf einmal ein klares Bild vor Augen und wurde wieder Neugierig.

Eine andere Sache ist dann noch das du im ersten Absatz einmal sagst "Rot sind die Augen..." (von wem? - im nachinein weiß man dass es ihre sind) und dann sagst du im zweiten Absatz "Grau sind die Augen..."
Ich könnte mir vorstellen, dass eine Offenlegung wem diese Augen gehören dem Leser etwas mehr Orientierung geben. Vielleicht reicht es zu sagen rot sind ihre Augen... Grau sind seine Augen.... - Ein Vorschlag.

Aber ansosten ein klasse Text. Hat Spaß gemacht ihn zu lesen, weil du es schaffst mit viel Atmospähre ihre Lebenssituation zu beschreiben.

Viele Grüße,

Tim
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firstoffertio
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Beitrag26.01.2014 23:23

von firstoffertio
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Ja, das ist verblüffend. Erst dachte ich, ein Mann besucht seine sterbende Mutter...

Die roten, grauen und dann farblosen Augen verwirren mich auch. Du hast dir sicher etwas dabei gedacht, aber ich komme nicht drauf.
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Klemens_Fitte
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Beiträge: 2934
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Beitrag26.01.2014 23:30

von Klemens_Fitte
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firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Die roten, grauen und dann farblosen Augen verwirren mich auch. Du hast dir sicher etwas dabei gedacht, aber ich komme nicht drauf.


Nehmen die Augen nicht einfach das farbliche Motiv des jeweils vorangehenden Absatzes auf? Rotes Blut - rote Augen, graue Haare - graue Augen, weiße Haut - weiße Augen. Keine Träume - farblose Augen.

Sobald ich mal etwas mehr Zeit habe, äußere ich mich ausführlicher zum Text, habe ich schon länger vor.
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nothingisreal
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Beiträge: 4002
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Beitrag26.01.2014 23:47

von nothingisreal
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Kann dir leider nicht soviel dazu schreiben (Zeitmangel). Fand es aber interessant zu lesen.
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Jack Burns
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 54
Beiträge: 1444



Beitrag27.01.2014 11:21

von Jack Burns
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Hallo Oliver

Zitat:
An den Wänden gedeiht ein prächtiger Schimmel,

gefällt mir

Das Aufgreifen der Farben, ist eine interessante Herangehensweise.
Du arbeitest mit Widersprüchen das verleiht dem Text eine erweiterte Ebene, da ich aus gewohnten Denkmustern herausgeschleudert werde.

Ich bin kein Vertreter der Adjektiv-Polizei, aber in diesem Fall muss ich einen Strafzettel ausstellen: Weniger wäre, speziell in den ersten Absätzen, eindeutig mehr.
Es erschlägt mich und ich verliere den Überblick.

Gegen widersprüchliche Beschreibungen habe ich eigentlich nichts einzuwenden, aber die Logik sollte man beachten.

Zitat:
kraftlos verkrampft ihre Hand
versuch das mal!

Zitat:
die Spinnweben glänzen herrlich im Licht. Die stickige Luft schluckt die Strahlen
Sie glänzen im Licht der verschluckten Strahlen ?

Zitat:
suchen einen Himmel in dieser Hölle. Den es nicht gibt.

Die religiöse Metapher klingt mir zu pathetisch, kitschig

Grüße
Martin


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Monster.
How should I feel?
Creatures lie here, looking through the windows.
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Hardy-Kern
Kopfloser

Alter: 74
Beiträge: 4841
Wohnort: Deutschland


Beitrag27.01.2014 17:06
Re: Punkte
von Hardy-Kern
Antworten mit Zitat

Oliver hat Folgendes geschrieben:

 Bevor er sich zur Seite wälzt, legt er ihr einen Hunderter aufs verklebte Haar. Sie atmet flach. Sie hört sein Schnarchen. Die geblümte Tapete grinst spöttisch, hat alles schon oft genug gesehen. Von draußen dringt freudiges Kindergeschrei an ihre Ohren. Ein Hund bellt. Die Welt dreht sich weiter. Ohne sie.
Sie wünscht, sie hätte noch Wünsche.


Eine Frau am Ende. Eine furchtbare Geschichte, deren Eindringlichkeit mich berührt hat. Leider sind mir derartige Schicksale bekannt, so dass an der Identität der Handlungsgrundlage kaum Zweifel aufkommen.
Den Hunderter, das fröhliche Geschrei der Kinder und das Bellen des Hundes könnte man noch besser einsetzen.

Z B. Das fröhliche Geschrei Ihrer Kinder...
Das Bellen Ihres Hundes...
Um wenigstens das zu erhalten, könnte der Hunderter beitragen und mehr ist nicht drin.

Weitere Wünsche, wie die Bekämpfung der Schimmelpilzes oder ein Tapetenwechsel sind undenkbar.
Eine äußerst gelungene, traurige Feststellung aus dem Milieu. Daumen hoch

Hardy
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Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag28.01.2014 01:26
Re: Punkte
von Constantine
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Hallo Oliver,

insgesamt hat mir das Thema deiner beschriebenen Situation gefallen. Deine Ausführung erinnert mich in manchen Passagen vom Kern her sprachlich und vom Aufbau der Sätze eher an Lyrik, die in Prosa gekleidet ist.
Von den Bildern her baust du anfangs eine fast morbide Atmosphäre auf und nach und nach lüftest du die eigentliche Situation.
Deinen Text hast du in mehreren strukturierten Abschnitten aufgebaut, z.B. die gleichen Satzstrukturen bei der vergleichenden Überleitung, wenn es um die Farbgebung der Augen geht. Du bleibst konsequent bei deiner Satz- und Wortwahl, was mich in der letzten Beschreibung (farblos...) leider gestört hat und mMn neben eines Logikfehlers zu pathetisch ausgefallen ist und nicht zum Gesamttext passt (siehe Kommentar im Text). Aber ein dramatisches Ende muss her, wahrscheinlich ist es diesem Gedanken geschuldet.

Manche Sätze finde ich etwas zu statisch vom Aufbau. Zwangsläufig integrierst du deshalb eine Unmenge von Adjektiven, die es hier und da mMn nicht bedarf und dir erlauben würden, dich von deiner Starre zu lösen. (Bespiele habe ich im Text markiert).


Zu deinem Text einige Anmerkungen:

Oliver hat Folgendes geschrieben:
Punkte

Kraftlos verkrampft ihre dürre Hand. Adern, gestochen scharf und doch unscheinbar fein (Komma) treten wie ein Blattgeäst hervor, pulsieren leer. Blut kriecht zäh in seinen <-- bezieht sich auf ihre Adern, müsste somit "ihren" anstelle "seinen" heißen Bahnen.
Rot <-- diese Überleitung von "Blut" zu "rot"irritiert. Hier bist du im Vergleich zu den anderen gleichwertigen Passagen nicht konsequent genug. In den anderen Passagen nennst du die Farbe zuvor und leitest mit der gleichen Farbe auf die Augen über. Hier ist zwar klar, dass Blut die Farbe rot hat, aber dein Arbeiten mit Kontrasten wie "kraftlos verkrampft", "gestochen scharf und doch unscheinbar fein" oder "pulsieren leer" stimmt mich, den Leser, auf Kontraste ein, und nun kommt plötzlich eine Überleitung von Blut zu rot. Ich würde die Farbe rot im Satz mit Blut erwähnen, indem du "Blut" weglässt und stattdessen auf diesen zähen, roten Saft eingehst. Der Leser weiß, dass es sich um Blut handelt und du hast die Farbe für deine Überleitung. sind auch die Augen, rot und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung <-- liest sich für mich nicht schön, holprig und nicht konkret genug. Sie starrt zur Decke hinauf, oder? Sie starrt die Decke an. Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Unangenehmer Atem liegt in der Luft, feucht und übel riechend trocken<-- würde ich weglassen. Anstelle "unangenehmer" kannst du dein "übel riechend" verwenden. aber den Satz würde ich abspecken. , vermischt mit der stickigen, hohlen Luft des Raumes. Geblümte Tapete an der Wand, gelbe Blüte auf giftgrünem Hintergrund, ekelhaft eindringlich, auf erstaunliche Art faszinierend geschmacklos. Ihr verfilztes Haar liegt ihr in stumpfen, fettigen Strähnen am Kopf <-- den Satzaufbau würde ich überdenken und den Satz vereinfachen. Z.B. liegt ihr Haar logischerweise am Kopf, also warum erwähnen. "stumpf" kannst du auch weglassen, denn im nächsten Satz beschreibst du, dass ihr Platinblond gewichen ist. das stolze Platinblond früherer Tage ist dem einem faden <-- würde ich weglassen. Der Grauton impliziert bereits eine fade Farbe im Vergleich zum Platinblond. Grauton gewichen.
Grau sind auch die Augen, grau und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung (dito wie oben) Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
An den Wänden gedeiht ein prächtiger Schimmel, wie ein nimmersattes Untier verschlingt er die kalkweiße Fläche <-- Wie genau ist der Raum tapeziert. Entweder sind überall an den Wänden diese Blütenmuster oder es sind kalkweiße Wände. Was nun, tapeziert oder kalkweiß? , hinterlässt seine dunklen, nässenden Flecken. Ekzeme, die vielleicht besser: welche die Haut zerfressen. Spinnennetze flirren sacht <-- würde ich weglassen. durch die Winkel des Raumes. Sie vibrieren leicht, doch die Luft steht <-- ich finde den Nebensatz nicht schön formuliert. Wie wäre es mit: Sie vibrieren leicht in der stehenden Luft. Ihre Leichtigkeit gibt ihnen das Recht zu tun, was ihnen gefällt. <-- dieser Satz liest sich sehr aufgesetzt und mMn unpassend. Würde ich weglassen. Die raue Matratze scheuert unangenehm <-- scheuern ist unangenehm. Würde ich somit weglassen. an ihrem Rücken. Schon wund vom vielen Liegen, doch anstatt den Schmerz zu meiden, fordert sie ihn stärker heraus, <-- den Satz würde ich umformulieren: "...meidet sie den Schmerz nicht, sondern fordert ihn heraus,..." drückt sich (Leerzeichen zu viel) zusätzlich <-- würde ich weglassen, denn das zuvor erwähnte Herausfordern des Schmerzes impliziert für mich ein zusätzlich. fester dagegen. Der Schmerz lenkt sie ab. <-- Ich würde den Satz löschen, denn sie verspürt den Schmerz nicht erst jetzt, sondern die Situation findet seit Beginn deines Textes und bereits davor bereits statt. Ablenken tut sie der Schmerz mMn nicht wirklich. Sie starrt an die Decke und versucht einen Punkt zu finden, den es nicht gibt. Von was soll sie der Schmerz ablenken? Lass sie den Schmerz ruhig intensiver spüren wollen, aber lass die Erklärung weg. Der Leser kann sich selbst überlegen, warum sie mehr Schmerz spüren möchte. Dieser "Erklärung" bzw des An-die-Hand-nehmens des Lesers bedarf es nicht.
Kennt sie seinen Namen? Wer ist er?
Doch was ändert schon das Wissen?
Wie alt mag er wohl sein? 45? 55? Sein Haar beginnt schütter zu werden. In ein paar Jahren hat er wahrscheinlich eine Glatze. So wie ihr Vater eine hatte. Mein Gott. Und er ist alt.
<-- Diese Gedanken passen meiner Meinung nach nicht zu ihr. Ihr ist der Kerl scheissegal. Er ist unangenehm, stinkt aus dem Mund und ist ein Job für sie. Drüber rutschen und fertig. Warum lässt du sie über seinen Namen nachdenken? Über sein Alter? "Mein Gott" passt für mich auch nicht. Ich würde diese Zeilen überdenken, von seinem schütteren Haar zu seiner alten, faltigen Haut übergehen und hier dann weiter machen. Alt und faltig. Alt und faltig und hässlich. Er keucht und schwitzt. Sein Schweiß riecht, riecht beißend <-- ich würde dies etwas weiter vorziehen, wenn du den Schmerz erwähnst. Erscheint mir passender. Somit kannst du hier von seinem schütteren Haar direkt zu seiner alten, faltigen Haut überleiten und nicht noch den Umweg über seinen Schweißgeruch machen, welches von der Reihenfolge weniger hin und her ist. wie ungewaschene Haut, wie mangelnde Hygiene. <-- würde ich weglassen. Und diese alte, weiße Haut.
Weiß sind auch ihre Augen, weiß und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, in Richtung (dito wie oben) Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Wie lange schon? Tage? Monate? Jahre?
Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit. Zeit begreifen (Komma) bedeutet, eine Erinnerung zu wahren. Ihr bisheriges Leben gibt ihr nichts, was diese Anstrengung verdiente.
Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie hinein geraten war. Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie jemals wieder herauskommen soll. <-- würde ich entfernen. Wirkt auf mich aufgesetzt, als ob der Autor seine Verlegenheit des Erklärens des "wie" und "warum" ungeschickt aus dem Weg gehen wollte. Für mich passt dies auch nicht zu deinem Abschluss und der Charakterisierung deiner Protagonistin.
Jetzt ist er bald fertig, sie sieht es in seinem Gesicht. Wie er vor Anspannung die Brauen hebt, wie lächerlich sich seine Nasenlöcher blähen. Die Ekstase verzieht sein altes Gesicht zu einer erschreckenden Fratze, seine Bewegungen werden härter, seine Hand krampft an ihrer Taille. <-- Die ganze Zeit über blickt sie an ihm vorbei an die Decke. Warum schaut sie ihn hier so detailiert an? Sie ist angeekelt, wirkt dennoch hier recht ruhig, ja schon apathisch. Was ist mit ihren Bewegungen auf der Matraze, um den Schmerz zu intensivieren? Wäre nicht das hier die bessere Situation, um den Schmerz zu intensivieren als die Beschreibung weiter oben? Auch als Erlösung, den Mann bald loszuwerden. Jetzt, wo der Mann heftiger zugange ist, scheint ihr der Schmerz und seine Brutalität nichts auszumachen.
Wie viele Männer hatte sie so schon gesehen? Wenn sie sich nur sehen könnten, wie erbärmlich die Lust sie macht, wie ekelerregend ihre Erregung wirkt.
Es ist soweit. Er schließt die Augen. Seine Züge entspannen, er erschlafft. Angewidert wendet sie den Blick ab. Ein saurer Geschmack nach Erbrochenem <-- würde ich weglassen. steigt ihr die Kehle hoch. Ihr schwindelt. Der Raum dreht sich.
Spärliche Sonnenstrahlen dringen durch das verstaubte Fenster, die Spinnweben glänzen herrlich im Licht. Die stickige Luft schluckt die Strahlen. <-- Widerspruch, oder? Ich würde den Satz mit der stickigen Luft, welche die Strahlen schluckt, weglassen. "herrlich" kann weg. Finde dieses Wort passt nicht zur sonst sehr drückenden Situation. Der Leser weiss von der stickigen Luft, diese Info ist redundant.
Bevor er sich zur Seite wälzt, legt er ihr einen Hunderter aufs verklebte Haar. <-- hat er sein Geld während des Aktes parat in seiner Hand, oder woher kommt der Schein so plötzlich? Ich würde diese Beschreibung überdenken. Z.B. Er wälzt sich von ihr, greift hinab in seine Hose, legt ihr mit einem zufriedenen Lächeln einen Hunderter aufs verklebte Haar und rollt erschöpft zur Seite. Sie atmet flach. Sie hört sein Schnarchen. Die geblümte Tapete grinst spöttisch, hat alles schon oft genug gesehen. Von draußen dringt freudiges Kindergeschrei an ihre Ohren. Ein Hund bellt. Die Welt dreht sich weiter. Ohne sie.
Sie wünscht, sie hätte noch Wünsche.
Farblos sind die Augen, farblos, starren fixiert und gelöst an ihm vorbei<-- Logik: ich glaube, er liegt nicht mehr auf ihr, sondern neben ihr und schläft. Sie hat freien Blick zur Decke hinauf. Zwar konsequent im Aufbau, aber dennoch für mich hier nicht korrekt., in Richtung (dito wie zuvor) Decke, suchen einen Himmel in dieser Hölle.<-- zu pathetisch und vom Bild her zu platt. Bleib bei der Suche nach dem Punkt an der Decke. Du bleibst konsequent bei deinem Aufbau, passt zu deinem gewählten Titel "Punkte" und ich denke, der Leser hat verstanden, dass die Situation eine Hölle für sie ist. Warum also direkt erwähnen? Brauchst du nicht. Den es nicht gibt.


LG,
Constantine
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Oliver
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Beitrag28.01.2014 13:25

von Oliver
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Hallo Tschauen,

ja, die Adjektive werden in der kommenden Version weniger.

Schön, dass dir meine morbide Stimmung gefällt.


Hallo First-Offertio,

die Farben der Augen greifen das Thema des Absatzes immer wieder auf. Ich komme eher vom Lyrischen, auch bei anderen Texten (man denke an "Regen") verwende ich gerne diese Doppelungen.

roten, grauen und dann farblose ist ein bisschen auch ein Niedergang, immer weniges Farbe, immer weniges lebenswerte Existenz.



Hallo Klemens,

tu das, ich freue mich auf dein Statement und Verbesserungsvorschläge.



Hallo nothingisreal,

kein Ding, hier steht sowieso soviel interessantes und hochwertiges Material zur Verfügung.



Hallo Martin,

danke für das Aufzeigen der Widersprüche, nicht alle waren beabsichtigt, ich werde sie entfernen. Einige dienen aber weiterhin als Stilmittel.



Hallo Hardy,

Ihre Kinder und ihr Hund ist wirklich eine spannende Überlegung. allerdings möchte ich die Distanz aufrechterhalten. Die Prota hat selbst kein Leben, sie hat nur dieses Scheissjob. Ihre Kinder und ihr Hund würden ihr einen Grund geben, zu tun, was sie tut. Ich möchte ihre Lage aber als absurd und fatal dargestellt lassen.

Der Text ist im Ursprung schon 8 Jahre alt. Zum ersten mal mit 16 verfasst (damals noch ohne sexuelle Erfahrungen), später mit etwa 24 mal grunderneuert und überabeitet und nun mit 24 (und leider als Strafrechtler auch beruflich damit kontaktiert) soll er nun seine Endfassung erlangen.



Hallo Constantine,

vielen Dank für diese eingehende und fleißige Analyse!!! Du hast genau das ausgesprochen, was mir an Kritik noch gefehlt hatte. Ich stimme dir in vielem zu, ich habe zahlreiche deiner Tipps beherzigt. Die neue Version folgt in Kürze.


Bis dann!!


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Oliver
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Beitrag28.01.2014 13:39

von Oliver
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So, da ist nun einiges der Verbesserungsvorschlägen eingebaut. Insbesondere die Farbwahl wurde leicht abgeändert. Ach die Adjektiv-Polizei hat ihrer Job gemacht. Ich persönlich finde, es hat weiter an Reife gewonnen. Danke!!

...


Punkte

Ihre dürre Hand verkrampft. Adern, gestochen scharf und doch unscheinbar fein, treten wie ein Blattgeäst hervor, pulsieren leer. Roter, klebriger Saft kriecht zäh in ihren Bahnen.
Rot sind auch die Augen, rot und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, hoch zur Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Übel riechender Atem liegt in der Luft, vermischt mit der stickigen Luft des Raumes. Geblümte Tapete an der Wand, gelbe Blüte auf giftgrünem Hintergrund, ekelhaft eindringlich, auf erstaunliche Art faszinierend geschmacklos. Ihr verfilztes Haar klebt in fettigen Strähnen, das stolze Platinblond früherer Tage ist dem Grau gewichen.
Grau sind auch die Augen, grau und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, hoch zur Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
An den Wänden gedeiht ein prächtiger Schimmel, wie ein nimmersattes Untier verschlingt er die kalkweiße Fläche, hinterlässt seine dunklen, nässenden Flecken. Ekzeme, die die Haut zerfressen. Spinnennetze flirren  durch die Winkel des Raumes. Sie vibrieren leicht. Die Luft steht. Ihre Leichtigkeit lässt sie tun, was ihnen gefällt. Die raue Matratze scheuert an ihrem Rücken. Schon wund vom vielen Liegen, doch anstatt den Schmerz zu meiden, fordert sie ihn stärker heraus, drückt sich  zusätzlich fester dagegen.
Kennt sie seinen Namen?
Doch was ändert schon das Wissen?
Wie alt mag er wohl sein? Sein Haar beginnt schütter zu werden. In ein paar Jahren hat er wahrscheinlich eine Glatze. So wie ihr Vater eine hatte. Mein Gott. Und er ist alt. Alt und faltig. Alt und faltig und hässlich. Er keucht und schwitzt. Sein Schweiß riecht, riecht beißend. Wie ungewaschene Haut. Und diese alte, weiße Haut.
Weiß sind auch ihre Augen, weiß und farblos, starren fixiert und gelöst durch ihn hindurch, hoch zur Decke, suchen einen Punkt. Den es nicht gibt.
Wie lange schon? Tage? Monate? Jahre?
Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit. Zeit begreifen bedeutet, eine Erinnerung zu wahren. Ihr bisheriges Leben gibt ihr nichts, was diese Anstrengung verdiente.
Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie hinein geraten war. Sie weiß nicht einmal mehr, wie sie jemals wieder herauskommen soll.
Jetzt ist er bald fertig, sie sieht es in seinem Gesicht. Wie er vor Anspannung die Brauen hebt, wie lächerlich sich seine Nasenlöcher blähen. Die Ekstase verzieht sein altes Gesicht zu einer erschreckenden Fratze, seine Bewegungen werden härter, seine Hand krampft an ihrer Taille. Sie drückt sich wieder fester in die Matratze. Fest. Zu fest.
Wie viele Männer hatte sie so schon gesehen? Wenn sie sich nur sehen könnten, wie erbärmlich die Lust sie macht, wie ekelerregend ihre Erregung wirkt.
Es ist soweit. Er schließt die Augen. Seine Züge entspannen, er erschlafft. Angewidert wendet sie den Blick ab. Ein saurer Geschmack steigt ihr die Kehle hoch. Ihr schwindelt. Der Raum dreht sich.
Spärliche Sonnenstrahlen dringen durch das verstaubte Fenster. Die Spinnweben glänzen im Licht.
Bevor er sich zur Seite wälzt, legt er ihr einen Hunderter aufs verklebte Haar. Sie atmet flach. Sie hört sein Schnarchen. Die geblümte Tapete grinst spöttisch, hat alles schon oft genug gesehen. Von draußen dringt freudiges Kindergeschrei an ihre Ohren. Ein Hund bellt. Die Welt dreht sich weiter. Ohne sie.
Sie wünscht, sie hätte noch Wünsche. Sie schließt die Augen und sieht das Schwarz ihrer Lieder.
Schwarz sind die Augen, schwarz, starren fixiert und gelöst an ihm vorbei, in Richtung Decke, suchen einen Himmel. Den es nicht gibt.


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