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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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G 12.01.2014 22:40 Himmel von G. Kritzel
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Himmel
Neulich war ich so verzweifelt, dass ich in einen Gottesdienst ging. Und wie ich so in der Kirchenbank saß, bemerkte ich, dass ich eigentlich schon gestorben war.
Vorne am Altar begann ein dunkelhäutiger Mann die Predigt. „Ja, Mann! Give praise an' love to di highest one, di allmighty Jah Ras Tafari! Big up, man ya, buh!“ Ich frage den Typen neben mir, ob es hier immer zugehe, wie beim Reggae-Konzert. Er lacht kurz. „Nein, dass ist im Grunde wie bei Poetry Slam. Jeder darf mal predigen. Nur, dass hier keiner gewinnt.“ „Aha“, denke ich und schaue dem grauen Mann auf den Mund. Es ist mein Vater. Ich frage ihn, ob er mich nicht erkannt habe, doch er antwortet nur, dass ich ja wohl derjenige sei, der erst jetzt verstand. Irgendwie war das alles seltsam. Die Predigt, mein Vater, einfach seltsam.
Ich entdecke einen Gospel-Chor, gleich vorne links. James Brown steht da, mitten in der rot berobten Menge. „Jamann!“, sagt der Prediger. Im Augenwinkel erkenne ich schemenhaft eine Gestalt. Es ist Hitler. Er schleicht sich gerade aus dem Beichtstuhl und verschwindet im Kirchendunkel. „Vater! Was soll das alles?“ „Lass dich von dem nicht stören“, sagt er „Der hat immer noch nicht begriffen, dass während der Liturgie nicht gebeichtet wird!“ „Nein, ich meine nicht Hitler, ich meine alles. Was soll das?“ Mein Vater schaut mich verdutzt an. „Das ist der Himmel. Sonst nichts!“ „Aha.“ Es überfordert mich. Ich staune nur noch. Ich staune voller Entsetzen. Ohnmacht erfasst mich. Ich muss mich orientieren, mir einen Eindruck verschaffen. Es erfüllt mich nicht mit Erstaunen, als ich in einem Seitenschiff der Kirche Leute vor Computern sitzen sehe. Mit dicken Brillen starren sie auf Bildschirme und hacken auf Tastaturen ein. Der Prediger ist meinem Blick gefolgt. Er ist jetzt ganz nah bei mir. „Haha“, sagt er. „Dis are people of di chaos computa club. They work inna dis place. And even if they say, that them do not belief in god, they also need a roof over their head. Funny, huh?“ Ja, ich hatte verstanden. Doch eigentlich wollte ich nur, dass er sich endlich von mir abwandte. Die anderen schien das alles gar nicht zu stören. „Was hattest du erwartet?“, fragte mich mein Vater. Ich wusste es nicht und ehrlich gesagt hatte ich einfach nichts erwartet. „Wenn du mit einem alten graubärtigen Herren gerechnet hast, den gibt es hier nicht. Oder ja, ich gebe zu, den gibt’s hier schon, aber mehrmals. Dreh dich doch nur mal um.“ Zuerst sah ich wieder nur Hitler, als ich verstohlen nach hinten blickte. Er trug einen Sidecut und sah damit eigentlich gar nicht so grimmig aus. Wie hatte er sich nur so leise hinter mich setzten können. Und ja, jetzt sah ich ihn. Neben Hitler saß Marx. Grau und alt, den Bart als stolze Mähne. Wie ein gutmütiger Elefant. Ich verstand immer noch nicht. Was sollte das alles? „Weißt du,“, fuhr mein Vater fort; „hier oben hast du die Freiheit denjenigen in dir zu erkennen, der du bist. Du brauchst dich nicht mehr über deine Nachbarn aufzuregen. Oder die Juden. Hier oben erkennst du, dass alles du selbst bist.“ Mir ist das noch immer zu hoch, ich brauche Übersicht. „Gibt es denn eigentlich auch eine Hölle?“ „Hölle! So ein Blödsinn! Das können sich nur Leute ausgedacht haben, die die Krümmung von Gurken normen. Oh, das ist aber eine krumme Gurke, ab mit dir in die Hölle! Ah, eine grade, du kommst in den Himmel. Wie stellst du dir das vor?“ Ich hatte es noch nie gemocht, wenn mein Vater mich belehrte, aber diesmal wagte ich nicht zu widersprechen. „Weißt du, hier oben bist du wirklich frei. Du hast den Schutz und du bist frei. Klar, wenn dir das zu viel ist, kannst du auch gerne wieder runter. Viele machen das. Reinkarnation sagen die dazu. Aber früher oder später landest du ja doch wieder hier oben. Du willst gar nicht wissen, wie oft John Lennon hier oben aufkreuzt. Nur um dann zu beschließen, dass es doch gar nicht so übel sei, sich in New York von einem geistig verwirrten Typen niederschießen zu lassen. Na ja, ich sage dir jedenfalls eins: Sei gewappnet. Dies ist nur der nächste Schritt. Wir alle dachten, dass uns die Unsterblichkeit befreien würde. Weißt du, hier oben gibt es keine Angst. Nur Erkenntnis. Reine und bittere Erkenntnis. Du musst wissen, ob du das willst.“ Ich hole tief Luft. Die Predigt war vorbei. Hitler und Marx hatten sich von ihren Plätzen erhoben, mein Vater ebenfalls. Sogar die Brillen wandten sich kurz von ihren Computern ab. Ich atmete nochmals tief ein. Ja, ich will versuchen diese bittere Freiheit zu ertragen. Und während vorne James Brown das Lied einzählt, stehe ich auf und singe. „Freedom, Freedom, Freedom!“
Weitere Werke von G. Kritzel:
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Catalano Leseratte
C Alter: 40 Beiträge: 136
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C 12.01.2014 22:56
von Catalano
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Vielleicht habe ich irgendwas nicht ganz verstanden, aber, du wechselst innerhalb der Gesichte immer zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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nebenfluss Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5994 Wohnort: mittendrin, ganz weit draußen
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13.01.2014 13:13
von nebenfluss
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Hallo G. Kritzel,
willkommen im Forum.
Eine skurrile Idee, könnte von einem Traum inspiriert sein.
Der Zeitenwechsel ist mir auch unschön aufgefallen - obwohl ich verstehe, warum das Ende im Präsens stehen soll. Der Zeitenwechsel gehört m. E. mit einem Zeitsprung kurz vor Ende gekoppelt. Das ginge, wenn du deinem Ich-Erzähler etwas Zeit lässt, um seine Entscheidung zu treffen, vor die er so unvermutet gestellt wird. Das ist doch der eigentliche Konfikt/Höhepunkt der Geschichte, dem du aber viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hast.
Einige Sätze sind redundant - Nicht-Verständnis und Seltsamkeit erschließt sich von selbst, braucht nicht immer wieder zu erwähnt werden und zieht den Text nur in die Länge. Diese Sätze würde ich auf jedem Fall streichen:
Zitat: | Ich frage ihn, ob er mich nicht erkannt habe, doch er antwortet nur, dass ich ja wohl derjenige sei, der erst jetzt verstand. Irgendwie war das alles seltsam. Die Predigt, mein Vater, einfach seltsam. |
Zitat: | Ich verstand immer noch nicht. Was sollte das alles? „Weißt du,“, fuhr mein Vater fort; |
Und hier beißt es sich gewaltig:
Zitat: | Ich staune nur noch. Ich staune voller Entsetzen. Ohnmacht erfasst mich. Ich muss mich orientieren, mir einen Eindruck verschaffen. Es erfüllt mich nicht mit Erstaunen, als ich in einem Seitenschiff der Kirche Leute vor Computern sitzen sehe. |
Gemeint ist wohl, dass der Erzähler beschließt, nicht mehr zu staunen / sich nicht mehr beeindrucken zu lassen. Das erfordert aber Macht über sich selbst - da passt die Ohnmacht nicht rein.
LG
_________________ "You can't use reason to convince anyone out of an argument that they didn't use reason to get into" (Neil deGrasse Tyson) |
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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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Lotta Eselsohr
Alter: 58 Beiträge: 260 Wohnort: Wunderland
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13.01.2014 17:45
von Lotta
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Hallo Kritzel,
köstlich, deine Geschichte.
Ich habe herzhaft gelacht.
Die Zeitformen bügelst du noch aus und die Hinweise der Anderen auch, und dann passt die Geschichte.
Liebe Grüße, Lotta
Marx ist tot, Lenin ist tot, und mir ist auch schon ganz schlecht.
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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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bordo Wortedrechsler
B
Beiträge: 83
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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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Ithanea Reißwolf
Alter: 34 Beiträge: 1062
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13.01.2014 23:45
von Ithanea
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Hallo G.Kritzel (ist dir G. oder Kritzel lieber? )
ich habe mich sofort in einem Traum gefunden. Ich kenne das aus meinen Träumen, dass sich die Umgebungen und Personen verändern, ohne dass es mich im Geringsten wundert und Absurdes Selbstverständliches darstellt. Dass es sich also wirklich um den Himmel oder den Totsein oder wie auch immer handeln könnte, kam erst später. Deswegen hätte ich am Anfang gerne eine Erklärung gehabt, woran der Prota merkt, dass er gestorben ist, aber im Nachhinein nehm ich das zurück. Das unerklärende Traumhafte passt schon.
Gebe aber nebenfluss Recht, dass du gar nicht so oft erkären musst, wie unlogisch das dem Prota vorkommt.
Gruß
Itha
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G. Kritzel Gänsefüßchen
G
Beiträge: 17
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Imagine Gänsefüßchen
Alter: 33 Beiträge: 17 Wohnort: Bonn
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16.01.2014 13:02
von Imagine
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Hey, G.Kritzel!
Ich muss auch sagen, dass ich den Text eigentlich recht erheiternd fand. Diese ganze Absurdität. Hitler, der neben Marx in der Kirche hockt ... John Lennon, der sich gerne niederschießen lässt und vor allem in seinem Lied Imagine (netter Zufall ) singt:
Zitat: | Imagine there's no heaven. |
So gesehen ... ziemlich ironisch das Ganze. Man merkt zwar schon, dass du eine gewisse Botschaft am Ende rüberbringen willst, aber so richtig deutlich wird das auch nicht ganz.
Aber letztlich war es doch recht unterhaltsam.
Liebe Grüße,
Imagine (... there's no heaven)
_________________ „Man muss die Welt nicht verstehen – man muss sich lediglich in ihr zurechtfinden können.“ – Albert Einstein |
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