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Großer Bruder, kleine Schwester (Außer Konkurrenz)

 
 
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Nayeli Irkalla
Geschlecht:weiblichReißwolf

Alter: 41
Beiträge: 1083
Wohnort: Ruhrgebiet
Extrem Süßes!


Beitrag24.11.2013 22:13
Großer Bruder, kleine Schwester (Außer Konkurrenz)
von Nayeli Irkalla
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Großer Bruder, kleine Schwester

„Ich bin ein zerbrechliches Mädchen, weißt du …? Er kann mich mit seiner harten Berührung töten.“

Das gleichbleibende Lächeln der blauen Stoffschildkröte spiegelte sich in Nathalies ernsten Augen. Das Mädchen wollte nicht weinen und biss auf ihre Lippen. Es war wichtig, dass sie keine Schwäche zeigte. Die Mutter durfte nichts merken. Sie hatte bereits genug Sorgen. Nathalie musste ihre Angst für sich behalten.

„Wirst du wieder durch den Spiegel gehen?“, fragte die Schildkröte. „Er ist gleich hier.“

Nathalie umklammerte die Scherbe in ihrer Hand. „Dieses Mal nehme ich ihn mit. Auf der anderen Seite bin ich die Starke.“

Mit aller Kraft blickte sie in den Spiegel, der über ihrem Bett hing. In ihm erblickte sie die geschlossene Tür ihres Zimmers. Gleich würde sie sich öffnen. Sie hatte beim Abendessen in Haralds Augen gesehen, dass es heute wieder so weit wäre.

Es war ein Trick, den Harald nie verstanden hatte. Wenn er zu Nathalie kam, fuhr sie kurz vorher mit der Seite ihres Zeigefingers über die alte Spiegelscherbe aus dem Treppenhaus im Keller. Den Finger mit dem Tropfen Blut presste sie mit aller Kraft an den Spiegel, so lange es dauerte. Auf der anderen Seite war sie frei. Er konnte sie nicht erreichen. Sie war stärker als er, so lange sie den Finger an das Glas drückte.

„Wie willst du das schaffen?“, fragte die Stoffschildkröte. „Er kennt den Weg nicht.“

Nathalies ernste Augen observierten die Türklinke, die sich langsam und leise senkte. „Er kann bluten wie ich.“

Die Stoffschildkröte schwieg, aber sie lächelte.

Harald schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf Nathalies Bettrand. „Schläfst du schon?“, fragte er sanft und streichelte ihr über das Haar.

„Mmh-mhh“, machte Nathalie und faste die Scherbe fester. Die Kanten drückten sich in ihre Handfläche, aber sie kümmerte sich nicht darum. Um auf die andere Seite zu kommen, brauchte sie auch etwas von ihrem eigenen Blut.

Sie hielt still, als Harald sie streichelte. Unterdrückte den Impuls, die Hand gegen den Spiegel zu drücken und zu fliehen. Dieses Mal würde sie ihn mitnehmen. Und tatsächlich ging es ganz leicht. Er erwartete nicht, dass sie sich wehrte. Er konnte bluten wie sie. An der gleichen Stelle wie sie. Mit einer Hand umklammerte Nathalie sein Handgelenk, mit der anderen presste sie das Blut von beiden gegen den Spiegel. Ein Saugen, ein kurzer Schmerz und das Gefühl von Seifenblasen auf ihre Haut.

Dann waren sie drüben.

***

„Hier werde ich mein Leben retten. Aber dafür muss ich dich töten“, sagte Nathalie. Sie lächelte. Die blaue Stoffschildkröte reiste mit ihnen und blickte ernst zu dem Mädchen.

„Es war doch nur ein Spiel“, sagte Harald und blickte sich um. Die Farben der anderen Welt stimmten nicht. Die Bäume leuchteten nicht grün, sondern so blau wie die Haut der Stoffschildkröte. Obwohl die Sonne nicht schien, leuchtete in keinem Fenster Licht. Jede Scheibe reflektierte die Außenwelt blind.

„Nur ein Spiel? Ich werde mein Leben lang ein Trauma tragen“, sagte Nathalie und wunderte sich nicht über die seltsamen Worte, die sie wählte.

„Früher hat es dir auch Spaß gemacht“, sagte Harald. „Du hättest nur etwas sagen müssen. Dann hätte ich aufgehört.“

Nathalie lachte und lachte. Sie konnte nicht mehr aufhören. Es fühlte sich an, als müssten Tränen aus ihren Augen laufen. Doch sie weinte nicht. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint.

„Ich habe etwas gesagt. Mit meinen Augen. Jedes Mal. Ich habe gefleht, dass du aufhören sollst. Aber du warst blind. Wer fühlen will, muss auch verstehen, was andere fühlen. Aber dir ging es immer nur um dich.“

„Das ist nicht …“

„Ich wünschte, du würdest ein einziges Mal in meinen Kopf sehen! Verstehen, wie es ist!“

„Kommt sofort“, sagte die blaue Stoffschildkröte. In der Welt hinter den Spiegeln ist niemand schneller als eine blaue Stoffschildkröte mit fröhlichem Lächeln und ernsten Augen. Wenige Augenblicke später stand sie wieder vor ihnen. „Hier ist der Spiegel!“

Nathalie schob den Spiegel zwischen sich und Harald. Sie wollte ihn töten. Die Spiegelscherbe in ihrer Hand war fest und hart. Wenn sie damit durch das Spiegelglas traf, würde sie sein Herz treffen und ihn genauso töten, wie er sie getötet hatte.

In der Spiegelwelt sind Spiegel durchsichtig. Sie sah Haralds Augen. Er sah ihre. In seinen Augen sah sie ihr Gesicht gespiegelt. Ihre Angst. Die Leere, die sich in ihr ausgebreitet hatte, seit er sie abends besuchte.

„Nathalie …“ wisperte er.

Ihre Augen hielten seinen Augen stand. In der Welt hinter den Spiegeln sind Mädchen stärker als große Brüder. Sie hob die Spiegelscherbe und richtete sie auf sein Herz. Es wäre ganz leicht. Er würde bluten, wie sie beim ersten Mal geblutet hatte. Und beim zweiten und dritten Mal. „Harald …“, hatte sie gewispert, aber nicht weiter gewusst. Er schon. Er hatte weitergemacht.

Sie sah seine Angst. Es war die gleiche Angst, die sie gefühlt hatte. Die gleiche Hilflosigkeit. Das gleiche Schweigen. Er konnte nichts mehr sagen. Endlich verstand er es.

„Armer großer Bruder“, sagte Nathalie, die immer noch die Spiegelscherbe mit der rechten Hand umklammerte. Endlich begriff sie. Sanft hob sie die linke Hand und streckte sie nach seiner aus. „Ich möchte nicht, dass du so leiden musst wie ich. Ich verzeihe dir.“

Bruder und Schwester berührten sich. Nathalies Hand war fest, während Haralds Hand zitterte.

„Fürchte dich nicht“, sagte Nathalie. „Es ist doch nur ein Spiel.“

***

In diesem Augen-Blick zerbrach der Spiegel und zerbarst in tausend und zwei Scherben. Wie Schneeflocken wirbelten sie empor und hüllten Nathalie ein, küssten ihre Arme, ihre Stirn und schmolzen zu roten Tropfen.

„Ich verzeihe dir“,flüsterte sie noch einmal, damit Harald auch wirklich verstand. Ihre linke Hand schmerzte. Vielleicht hätte sie ein Tuch um die Spiegelscherbe wickeln sollen, um sich zu schützen. Egal. Der Schmerz hatte keine Bedeutung mehr. Alles war gut. Nie hätte sie sich vorstellen können, das auch Harald Furcht vor dem verspürte, was er tat. Gestern noch hätte die Furcht in seinen Augen sie in ungläubige Erleichterung gestürzt. Heute spielte sie keine Rolle mehr. Nathalie war frei.

„Mutter!“, brüllte Harald. Nathalie lächelte, weil es so albern aussah, wie er die Hose hochzuziehen versuchte und den Stoff mit dem Blut von seiner Hand beschmierte. Sie hatte nie zuvor bemerkt, dass ihr Bruder Pickel auf dem Hintern hatte.

„Was ist denn?“ Die Stimme klang gereizt. Nathalie wusste, dass ihre Mutter müde war und noch einen großen Berg Bügelwäsche erledigen wollte. 'Lass sie doch in Ruhe', wollte sie wispern, doch ihre fehlte die Kraft dazu. Ihr war so müde zumute. So kalt. Das Blut in ihrem Bett war nicht länger warm, sondern klebte kühl und schmierig an ihrer Seite.

„Der Spiegel! Nathalies Spiegel!“ Haralds Stimme überschlug sich.

„Was?“

Harald schien zu schlucken und nachzudenken, die Hand immer noch am Hosenlatz. Das Mädchen auf dem Bett lächelte verträumt und schloss die Augen. Es war kalt.

„Nathalies Spiegel ist von der Wand gefallen und zerbrochen! Sie liegt mitten in den Scherben und blutet!“

Nie hätte Nathalie gedacht, dass ihr Bruder weinen könnte. Doch als die Mutter das Zimmer betrat, sank er auf den Boden und zerfloss in Tränen.

Die blaue Stoffschildkröte lächelte traurig: „Du hast ihn mit deiner sanften Berührung zerbrochen, weißt du …? Du bist ein tödliches Mädchen.“

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