Countdown (by me '96)

[Drakenheim]

Alles in allem ist die Technik in den letzten Jahrzehnten weit vorangeschritten. Wir empfangen 278 Fernsehsender, jeden in 10 verschiedenen Sprachen und wahlweise auch dreidimensional. Eigentlich eine große Auswahl. Aber seit 35 Stunden 40Minuten und 54 Sekunden läuft überall dasselbe.
Die kleine Sissy kauert sich ängstlich ans Tischbein. Sie versteht gar nichts. Sie ist noch zu jung. Vor wenigen Stunden hat sie noch gelacht. Es war schon immer lustig, zuzusehen, wie weißgekittelte Menschen hektisch hin und her laufen. Früher habe ich auch gelacht. Heute weiß ich, dass sie versuchen, den Countdown zu stoppen.
8 Minuten und 24 Sekunden.
Dann wird die erste Rakte starten. Wenn sie drüben ist, wird der Armeecomputer dort den Treffer registrieren. Und den Staarort lokalisieren. Dann wird er den Gegenangríff starten. Wenn seine Bomben hier sind, wird unser Computer reagieren. Er wird neue Raketen rüberschicken. Alles vollautomatisch. Sabotagesicher, einbruchssicher, autoregenerierend, vollkommen unabhängig vom Menschen. Der einzige Zugang zum System geht über eine verschlüsselte Tastatur, die nur auf Fingerabdrücke von wenigen, gut geprüften Vertrauensmenschen reagiert. Und jetzt klemmt dort eine Taste.
5 Minuten und 2 Sekunden.
Klein Sissy ist eingeschlafen. Sie nuckelt am Daumen. Das hatte sie sich vor zwei Jahren abgewöhnt. Sie ist ja schon ein großes Mädchen und freut sich aufs Erwachsenwerden.
3 Minuten und 34 Sekunden.

[Drakenheim]

Man merkt, ich bin im kalten Krieg aufgewachsen.

Das war mal eine Hausaufgabe. Was genau Aufgabe war, weiß ich heute nicht mehr. Nur, dass ich sonst keine Hausaufgaben mache und daher froh war, dass ich doch was Vorlesen hatte, als ich dran kam.
Nachdem ich ausgelesen hatte war es erst mal still im Klassenraum. Es könnte mit daran liegen, dass ich für die letzten Sätze zu wenig luft geholt hatte, und sie deswegen erstickt klangen.
Aber mein Lehrer war schwer beeindruckt, und meine Mitschüler auch. Von dem größten Nörgler und Besserwisser bekam ich sogar ein Lob über die Zeitangaben. Keiner hatte was auszusetzen, sie fanden es gut.
Darum habe ich den Text wohl bis heute aufgehoben.