18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Menschen im Fels


 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag24.01.2013 21:52
Menschen im Fels
von pna
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Neue Version »

Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und Öde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehenden Rockschößen den Berg hinauf, bis sie in den Wolken verschwand. Zuerst verschwand sie, und kurz darauf ihr Gezänk. Dein Pate kam aus dem Haus, holte dich an der Hand hinein und verpasste dir eine Trachtprügel für irgendein Vergehen. Später kamst du zurück und sagtest, dass du nicht geweint hättest, aber das hast du, denn deine Augen sind noch rot.
Meine Mutter ruft mich zurück ins Haus, es gibt Abendbrot. Wir essen Ziegenkäse und frisches Brot, wir Kinder trinken Wasser und Mutter und Vater trinken schweren, roten Wein. Sie unterhalten sich über deine verrückte Patin und ihren grobschlächtigen Mann, und als ich über die Schulter meines Vaters blicke, sehe ich dein dunkles Gesicht platt an der Schreibe. Du weichst etwas zurück und formst mit dem Mund ein O. Ich schlinge das Essen herunter und murmle etwas als Entschuldigung. Meine Eltern hören mich nicht und mein kleiner Bruder schnappt sich den Rest vom Ziegenkäse.
“Was ist?”, frage ich dich, als ich in dich rein renne. Inzwischen ist es dunkel und die Sterne funkeln am Himmel und der halbe Mond ist beinahe weiß. Nur aus wenigen Häusern unseres Dorfes dringt weiches Licht nach draußen. Es sind nicht mehr viele hier. Jedes Jahr werden es weniger, und mein Vater sagt, eines Tages wird Ruolfo ein Geisterdorf sein, mit nichts als Wind und Schatten.
Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüstertest: “Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.”
“Warum?”
“Sie sagt, oben am Llano wachsen lebende Menschen aus dem Gestein.”
Ich sehe dich ratlos an und verschränke die Arme unter dem Poncho. Die klamme Feuchtigkeit des Tages friert nachts zu einem hauchdünnen Film, der alles bedeckt. Jede Bewegung im Freien ist von einem dünnen Knistern begleitet. Du schaust mich erwartungsvoll an, und als ich zurückschaue, rutscht dein Blick weg, du legst den Kopf in den Nacken und äugst zum Berg. Die Wolken haben sich verzogen, seine Felsen und Grate sind scharf im Mondlicht zu erkennen; die Nordostflanke ist mit Eis und Schnee bedeckt.
Und der Wind hat gedreht, so wie immer in den Novembernächten. Er kommt jetzt vom Berg herunter gewieselt und er bringt ein dünnes, vielstimmiges Klagen mit sich. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf und ich sage: “Vielleicht hat sie wirklich etwas gesehen.”
Du legst den Kopf schief: “Ja, vielleicht.”
“Also, was machen wir?”
Du sagst: “Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren.”
Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten. Die Kinder, die jünger sind als wir, haben noch nicht die Kraft und Ausdauer, die Jugendlichen, die älter sind als wir, bemühen sich schon um die würdevolle Langsamkeit der peruanischen Bergbauern. Nein, wenn es ums Laufen geht, kann es nur um uns gehen. Während wir beratschlagt haben, wie wir vorgehen sollen, sind wir bereits losgelaufen, eng beieinander, verschwörerisch und schnell. Jetzt ist der Mond so weiß und groß, dass wir nächtlichen Schatten neben uns auf den Boden werfen, wir werfen Schatten und stürmen den Berg hinauf. Um uns ist es vollkommen still. Wir hören nur unser Atmen. Zwischendurch bleiben wir kurz stehen und tun so, als ob wir Luft holen müssten, in Wirklichkeit aber wir atmen hart aus und ziehen den Bauch ein um das Seitenstechen wegzukriegen. Dann laufen wir weiter und als wir die untere Ebene des Llano erreichen, hören wir die Schreie deutlicher. Es sind viele Stimmen, es sind die Stimmen von Frauen und Männer und Kinder. Ihr Klagen ist so elend, dass wir stehen bleiben und uns ansehen, wir prüfen uns, ob wir das wirklich sehen wollen. Wir gehen weiter, jetzt mit dem schweren sicheren Tritt von Jungen, die am Berg aufgewachsen sind, und nicht mehr leichtfüßig laufend wie Bergziegen.
Du fragst: “Wollen wir das wirklich sehen?”
Aber es ist zu spät. Wir erreichen die erste flache Anhöhe des weiten Llano, einem kargen Feld aus gigantischen Steintafeln und Eis. Und im Mondlicht sehen wir eine unglaubliche Anzahl von Menschen, die halb in den Stein eingesunken sind. Manche stecken verkehrt herum im Fels, von anderen sieht man nur noch die Arme. Viele aber stecken bis zu den Hüften im Fels, und einer, an dem wir vorbeikommen, als wir langsam weitergehen, liegt flach eingesunken im Stein. Seine Augen sind offen und suchen den Himmel nach einer Erklärung ab. Er formt den Mund um ein Wort zu sagen, aber es kommt nur ein nasses Zischen, das so klingt wie der Fluss im Tal, wenn er im März über die Ufer tritt. Ich flüstere: “Oh Jesus, wir müssen ihnen helfen.” Du zischst entsetzt: “Wie?”
Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich. Ein kleines Mädchen mit weißblonden Haaren greift nach meinem Bein, als ich an ihr vorbeigehe. Sie steckt bis zu den Knien im Gestein … Sie murmelt etwas, dass so klingt wie “Papa”. Dann rutscht ihre Hand ab und sie starrt fassungslos in die Sternennacht. Du sagst: “Es sind Hunderte. Wo kommen die bloß alle her? Sind die aus der Hölle?”
Zuerst zögern wir, aber dann gehen wir langsam, auf unsere Schritte achtend, zwischen diesen Menschen hindurch wie durch einen verrückten, bösen Wald. Immer wieder hören wir ein Weinen und ein Flehen, aber wir verstehen die Sprache nicht, wir sehen uns an und zucken mit den Schultern. Manche haben Uhren an den Handgelenken, die sehen komisch aus, die haben keine Zeiger, sondern nur eine glatte Fläche, unter der Zahlen sind. Wir sehen einen Mann, der fast frei ist, wirklich fast. Im Mondlicht steht er da, bis zu den Knöcheln im Fels eingesunken. Seine Kleidung sieht verbrannt und zerrissen aus, ja, über allem ist der Geruch von Brand und kalter, nasser Asche. Inzwischen hat der Wind aufgefrischt und ich sage zu dir: “Die müssen ja frieren. Wir müssen was tun, die sterben da ja alle!”
Du siehst mich an und zuckst die Schultern und hast einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dir egal. Du gehst zu einem hin, der schon beinahe tot ist, gehst um ihn herum, dann bückst du dich etwas und nimmst ihm die metallisch schimmernde Uhr ab, die er am linken Handgelenk hatte. Eigentlich will ich schimpfen, aber ich bin zwölf Jahre alte Neugierde, wie mein Papa immer sagt: “Was ist denn das?”
Du zuckst wieder mit den Schultern, aber dann sagst du: “Egal. Unten im Tal bringt mir das sicher ein Schaf.” Wir gehen zurück zur erhöhten Ebene. Der Wind stößt massive Wolken vor sich her, die an den Rändern silbern schimmern und ausfransen.
Ich raune: “Wir können versuchen, sie rauszuziehen.” Du schaust mich zweifelnd an, fast so, als wolltest du “Wieso?” sagen. Aber du flüsterst nahe an meinem Ohr: “Wenn das so einfach wäre, dann hätten die sich schon selbst befreit, oder was meinst du?”
“Ich wills bei dem kleinen Mädchen da versuchen. Die weint so schrecklich.” Ich gehe zu dem Mädchen mit den blonden Haaren und sage: “Hab keine Angst mehr, ich hol dich da jetzt raus.” Sie schaut mich mit großen, nassen Augen an und ich sehe, dass es ihr sogar schon zu kalt ist, um zu zittern. Der Rotz unter ihrer Nase ist gefroren, ihre Lippen sind blau und sie bekommt nur schwer Luft. Das geht vielen Leuten so, wenn sie die Luft hier in den Bergen nicht gewohnt sind. Manche Wanderer aus fremden Ländern sagen, dass die Landschaft hier in den peruanischen Anden, weit über dreitausend Meter, besonders streng und unnahbar ist und dass sie den Mensch zurückstößt, zurückweist. Ich verstehe diese Menschen nicht. Das Leben ist hart, ja. Aber wir leben in größter Freiheit. Das sage ich zu dem Mädchen: “Gleich bist du frei. Ich ziehe dich heraus, halt dich an meinen Armen fest.”
Ich packe sie an den Unterarmen stelle mich breitbeinig hin und fange zu ziehen an. Sie wimmert. Ich versuche es noch mal, verbessere meinen Stand, ziehe. Nichts. Jetzt weint sie so richtig laut. Weiter weg schreit ein Mann. Du zupfst mich am Ärmel, und lasse das Mädchen los und du sagst, klug, wie du bist: “Wir laufen hinunter schnell wie Gazellen. Wir holen Hilfe. Wir beide können da gar nichts machen.” Ich nicke und tänzle auf den Zehenballen wie ein rennbereites Pferd. Mir kommt vor, wir laufen besonders schnell. Nicht nur, weil uns inzwischen selbst kalt geworden ist, sondern, weil dieser Wald aus Menschen, die im Stein halbversunken weinen und schreien, wirklich unheimlich ist. Mehr noch, es ist wie eine dieser Geschichten, von denen man hört, dass sie irgendwann einmal irgendwer gehört hat, die sich von Mal zu Mal ändern, aber in ihrem Innersten immer unheimlich bleiben. Unheimlich und furchtbar tragisch.

Vier Stunden später saßen wir mit gekrümmten Rücken vor dem Haus deiner Patin, eingewickelt in dicke Decken und Ponchos. Wir hatten unsere Hauben auf. Unsere Gesichter waren geschwollen von den Schlägen, die wir kassiert hatten. Wir stanken nach Schweiß, Ruß und Benzin. Wir atmeten ruhig. Alles war jetzt gut. Alles war still. Am Llano oben war alles vollkommen still. Wir brauchten uns nicht mehr darum zu kümmern. Aber ich sah in deinen Augen, an der Art, wie du den Mund verzogst, teils wegen der Schmerzen, teils, weil du nachdachtest, dass wir niemals aufhören werden, uns zu fragen, woher diese Menschen gekommen waren. Und warum sie halb im Boden steckten, manche tiefer drin, andere fast heraußen, und manche, die flach da lagen, in den Himmel starrten und vor Schmerzen weinten.

Als wir ins Dorf gelaufen kamen, waren alle am großen Platz beim Brunnen versammelt. Sie rauchten und redeten wild. Da wurde uns schon ganz schlecht vor Angst. Mein Vater und dein Pate fingen uns im Lauf ab und zuerst einmal setzte es eine Tracht Prügel, bis wir zu erschöpft waren, um die Arme schützend über unsere Köpfe zu halten, erst dann ließen sie von uns ab. Dann herrschte uns dein Pate an: “Wo ward ihr? Was ist dort oben? Hat sie etwa recht?” Er zeigte auf die Patin, und in dieser Geste war viel Widerwillen und Wut. Ich hörte zu, wie du erzähltest, was dort oben war: Menschen von irgendwoher, manche noch am Leben, andere schon fast tot. Es sähe so aus, als ob sie in den Fels eingesunken wären, so, als ob er kurz zu Wasser oder so geworden wäre, um dann wieder fest zu werden. Blödsinn, schrie dein Pate, Felsen, die flüssig werden, lüg mich nicht an, schrie er.
Der Wind brachte erneut eine Welle von Klagerufen und elenden Weinen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu, ein paar andere brachten ihre erschreckten Kinder in die Häuser. Ich sagte: “Wir müssen sie retten.”
“Ja und wie?”, fragte mein Vater, und ich merkte, dass ihm keine der Aussichten im Moment wirklich gut gefiel. Der Bürgermeister unseres kleinen Dorfes sagte mit ruhiger Stimme: “So wie´s ist, kann´s aber auch nicht bleiben. Die Schreie von dort oben werden die Bewohner von Girablanco auch hören können, wenn sie sie nicht schon gehört haben. Dann werden sie wissen wollen, was da los ist. Sie werden kommen und uns vielleicht Vorwürfe machen, dass wir denen da oben nicht geholfen haben. Oder sie kommen von der Nordseite, gehen über den Gletscher rauf und holen sich von den Sterbenden, was zu holen ist. Was auch immer wir tun, wir müssen es wohl schnell tun.”
Alle nickten.
Dein Pate sagte: “Und wir sollten keine Spuren zurücklassen.” Er sah dich an, dann mich, dann raunte er: “Holt die Kanister und macht sie voll.”
Einige Frauen, die zurückgekommen waren, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hatten, stöhnten und machten das Kreuzzeichen. Die Frau des Bürgermeisters stellte sich vor ihn hin und stemmte die Hände in die Hüften: “Was bist du? Ein Mörder? Du willst sie umbringen, die da oben? Das ist ja verrückt! Sind wir noch Menschen?”
Ein anderer unterbrach sie: “Sie sind keine von uns. Sie kommen wer weiß, woher und niemand hat sie zu uns geholt. Und sie sterben sowieso. Wir müssen nur verhindern, das man uns was nachsagen kann. Noch zwei kräftige Jungen, los, jeder zwei Kanister. Wir gehen alle rauf und sehen uns um.”
Mit den Kanistern waren wir nur halb so schnell, Paolo plagte sich vor uns mit zwei großen, vollen Kanistern, hinter uns ging Enrique, der vor Erschöpfung jammerte und Tränen in den Augen hatte.
Der Wind stemmte sich gegen die Wolkenberge und hielt über uns ein großes Loch frei, durch das der Mond und die Sterne herab scheinen konnten. Jetzt waren die Erwachsenen still und sahen sich um, sie gingen in kleinen Gruppen zwischen den im Fels steckenden Menschen auf und ab, als würden sie Vieh begutachten. “Gut”, sagte der Bürgermeister dann, “nehmt, was ihr brauchen könnt, seid schnell, mir scheint, ich habe Fackeln am Gletscher gesehen.”
Inzwischen hatten wir die Menschen im Stein gezählt. Es waren, wenn wir keinen übersehen hatten, hunderteinundzwanzig Frauen, Männer und Kinder. Dein Pate nahm dir den Kanister weg und ging los. Die Frauen nahmen den Leuten Ringe und Uhren weg, Armreifen und Kettchen. Es war Schmuck, ja, aber solchen Schmuck hatte ich noch nie gesehen. Du auch nicht, oder?
Du auch nicht.
Als die Menschen im Fels begriffen, was wir vorhatten, begannen sie erst recht laut zu schreien, und der Bürgermeister lief auf und ab und rief, sie sollen das Maul halten, es sei eh schon alles egal. Sie verstanden ihn nicht.

Wir sahen unbewegt zu, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Sie brannten wie Fackeln und es stank nach brennenden Haaren und ihre Schreie waren wie Sturmgedröhn. Und erst, als sie das kleine blonde Mädchen mit Benzin übergossen und anzündeten, musste ich ein wenig weinen. Ich sah, dass es dir so ging wie mir. Und aus irgendeinem Grund beruhigte mich das.
Sie brannten lang. Mir kam es vor, als würden sie ewig brennen, als würden wir zusehen, wie ein Wald in Flammen aufging. Alles roch nach Feuer und heißem Stein, nach brennenden Haaren; ich werde den Geruch nie wieder vergessen können, den Geruch von Benzin und brennenden Haaren.
Irgendwann in der dunkelsten Nacht waren sie alle tot. Sie waren schwarze Kohle, sahen aus, wie verkrüppelte Bäume, die ein Feuerwind kahl gefegt hat.
Wir trugen die leeren Kanister ins Dorf, die Frauen gingen voraus und redeten darüber, was man alles anschaffen konnte, wenn man den Schmuck und die komischen Uhren ins Tal trug.
Als ich den Arm meines Vaters auf meinen Schultern spürte, fragte ich ihn: “Sind wir jetzt alle Mörder, sind wir verdammt?”
Er nickte und sah mich ernsthaft an: “Wir sind Mörder, aber es ist nicht so wild. Es waren ja keine von uns. Und sie waren sowieso zum Sterben verdammt. Siehst du das nicht auch so?”
Nach einer Weile nickte ich langsam, aber nachdrücklich.
Er fügte hinzu: “Wir haben sie erlöst und sonst nichts Böses getan.”

Ein Jahr später waren wir beide wieder oben am Llano. Mir kam vor, dass unter dem dünnen, gefrierenden Schnee, ein dünner Benzinhauch zu riechen war. Die Skelette der Toten sahen aus wie versteinert. Ja, dieser Teil der Ebene sah jetzt so aus, als ob hier der versteinerte Rest eines unheimlichen Waldes steht. Und manche Stellen im flachen Fels sehen so aus, wie Gesichter mit schreienden Mündern, eingesunken und hart.
Ein wenig unheimlich ist es schon. Und wir haben nie erfahren, woher diese Menschen kamen.
Und Jahre später, als wir als die Letzten, das Dorf mit unseren Frauen verließen, um uns im fruchtbaren Tal niederzulassen, war es uns egal.

Wir sehen uns nur von Zeit zu Zeit an und erkennen im Blick des anderen, dass wir nie aufhören werden, an die Toten im Fels zu denken.

Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag24.01.2013 22:00
Re: Menschen im Fels
von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

irrtümlich ein quote eingesetzt und gelöscht...
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Taugenichts
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 38
Beiträge: 1201



Beitrag25.01.2013 12:18

von Taugenichts
Antworten mit Zitat

Ungeheuerlich.
Ich habe mich eh sehr gefreut etwas Neues von dir lesen zu können und was soll ich sagen, ich wurde nicht nur nicht enttäuscht, sondern noch überrascht.
Eine Sprache klar wie frisch gefallener Schnee, so klar, dass man zwischen dem Erzählten noch so viel mehr hören kann. Unheimlich dicht.
Es gibt zwar noch eine Menge Kleinigkeiten zu korrigieren:
"Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und (der) Öde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehenden Rockschößen den Berg hinauf, bis sie in den Wolken verschwand. Zuerst (-verschwand-wdrhl) sie(,) und kurz darauf (auch) ihr Gezänk."

Aber die Geschichte selbst ist wirklich großartig. Ich war traurig, als sie vorbei war!

Zwei Sachen noch:
Ich finde es gut, wie du die Erzählung sprachlich reduzierst, um sie an den Erzähler anzupassen, finde aber, dass du stellenweise dann doch zu metaphorisch und lyrisch für einen peruanischen Berglümmel wirst.
Und ich finde, dass die Entdeckung der Steinmenschen doch ein wenig dramatischer und gespenstischer sein könnte. Nicht viel natürlich, aber ein bisschen beeindruckender sollte so eine Entdeckung in meinen Augen schon sein.

Bin begeistert!


_________________
Hellseherei existiert nicht. Die Leute glauben mir mein Geschwätz nur, weil ich einen schwarzen Smoking trage.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag25.01.2013 16:04

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Oh, vielen Dank für deine Begeisterung!

Das ist meine erste Kurzgeschichte seit rund einem Jahr, und ich fürchtete schon, ich hätte es verlernt, knackig zu schreiben - weil ich ja fast nur noch im epischen zu Hause bin Smile

Umso mehr freue ich mich, das Dir die Geschichte so gut gefällt! Was Deine Kritiken betrifft: Recht hast Du. Die kleinen Satzfehlerchen hab ich ausgemerzt. Was das Mystische betrifft: ich habe versucht, die Geschichte im Sound des lateinamerikanischen Magico Realismo daher kommen zu lassen, also in Form jener Fantastik, die sich dadurch auszeichnet, dass das Paranormale, das Furchtbare, alles irdische und Jenseitige gleichberechtigt nebeneinander existiert. Vielleicht fehlt es deshalb den Bauernjungs an westeuropäischem Staunen und Erzittern?

lg/Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Taugenichts
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 38
Beiträge: 1201



Beitrag25.01.2013 16:22

von Taugenichts
Antworten mit Zitat

Lustig, dass es mir nicht wie eine Kurzgeschichte vorkam, sondern der Prolog eines Romans...

Magico Realismo kannte ich nicht, aber toll, da ich immer nach einem Wort gesucht habe, eben jene Phantastik zu beschreiben, die Fantastisches und Reales gleichberechtigt behandelt. Immerhin würde ich so meine Lieblingsliteratur beschreiben!

Allerdings muss das Staunen und Zittern ja nicht nur durch die Protagonisten entstehen. Die Beschreibung der Entdeckung an sich könnte ja etwas dramatischer oder zumindest eindringlicher stattfinden.


_________________
Hellseherei existiert nicht. Die Leute glauben mir mein Geschwätz nur, weil ich einen schwarzen Smoking trage.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag25.01.2013 18:46

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hier ein paar Sätze über den magischen Realismus: http://de.wikipedia.org/wiki/Magischer_Realismus

lg/Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
lupus
Geschlecht:männlichBücherwurm

Alter: 56
Beiträge: 3913
Wohnort: wien



Beitrag25.01.2013 19:02
Re: Menschen im Fels
von lupus
Antworten mit Zitat

pna hat Folgendes geschrieben:
Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und [die] Öde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehenden Rockschößen den Berg hinauf, bis sie in den Wolken verschwand. Zuerst verschwand sie, und kurz darauf ihr Gezänk. Dein Pate kam aus dem Haus, holte dich an der Hand hinein und verpasste dir eine Trachtprügel für irgendein Vergehen. Später kamst du zurück und sagtest, dass du nicht geweint hättest, aber das hast du, denn deine Augen sind noch rot.
[...]
Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüstertest: “Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.”
“Warum?”
[...]
Du sagst: “Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren.”
Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten. Die Kinder, die jünger sind als wir, haben noch nicht die Kraft und Ausdauer, die Jugendlichen, die älter sind als wir, bemühen sich schon um die würdevolle Langsamkeit der peruanischen Bergbauern. Nein, wenn es ums Laufen geht, kann es nur um uns gehen. Während wir beratschlagt haben, wie wir vorgehen sollen, sind wir bereits losgelaufen, eng beieinander, verschwörerisch und schnell. Jetzt ist der Mond so weiß und groß, dass wir nächtlichen Schatten neben uns auf den Boden werfen, wir werfen Schatten und stürmen den Berg hinauf. Um uns ist es vollkommen still. Wir hören nur unser Atmen. Zwischendurch bleiben wir kurz stehen und tun so, als ob wir Luft holen müssten, in Wirklichkeit aber wir atmen [oder das 'in Wirklichkeit streichen'] hart aus und ziehen den Bauch ein um das Seitenstechen wegzukriegen. Dann laufen wir weiter und als wir die untere Ebene des Llano erreichen, hören wir die Schreie deutlicher. Es sind viele Stimmen, es sind die Stimmen von Frauen und Männer und Kinder. Ihr Klagen ist so elend, dass wir stehen bleiben und uns ansehen, wir prüfen uns, ob wir das wirklich sehen wollen.
[...]
 Mehr noch, es ist wie eine dieser Geschichten, von denen man hört, dass sie irgendwann einmal irgendwer gehört hat, die sich von Mal zu Mal ändern, aber in ihrem Innersten immer unheimlich bleiben. Unheimlich und furchtbar tragisch.

Vier Stunden später saßen wir mit gekrümmten Rücken vor dem Haus deiner Patin, eingewickelt in dicke Decken und Ponchos. Wir hatten unsere Hauben auf.
[...]

Wir sehen uns nur von Zeit zu Zeit an und erkennen im Blick des anderen, dass wir nie aufhören werden, an die Toten im Fels zu denken.


servus,
erste einmal ein Gesamteindruck:

eine interessante, spannende (ohne actionreich zu meinen), mitreißende, sehr 'schön' geschriebene Geschichte, mit einem ganz wunderbaren, wunderbar überraschenden Einstieg in der 2.Person , mit einigen ausnehmend gelungenen Formulierungen und rhetorischen Figuren (v.a. die Doppelungen, 'verschwand' und 'warfen'). Ich denke, du weißt selber ganz genau, welche Formulierungen das sind, also lass ich das Einfärbeln.

andererseits aber auch: mich lässt der Eindruck nicht los, dass du den Text bezüglich der Erzählzeit überarbeitet hast. Die Kombination aus Imperfekt und Präsens is ein bisserl gewöhnungsbedürftig, aber mei, es funktioniert ja trotzdem, wenn das Präsens als narratives interpretiert wird. Ob es dann nicht ein bisserl zu früh einsetzt? Es stört mich doch ein bisserl, vor allem, weil ich den Grund nicht erkenne. Und mit dem Schlusssatz im Präsens stellst du das Zeitkontinuum wieder auf den Kopf.

für mich ist das eine Geschichte, die erzählt wie Legenden entstehen, wie Gewalt in der Erziehung andersartige Gewaltanwendung 'vorbereitet', wie 'man' sich seine eigenen Rechtfertigungen zurechtrückt. So sehr Legende, dass man am Ende sich fragt: was kann davon überhaupt wahr sein? Deshalb aber würd ich den einen Satz streichen, weil er zu viel verrät. Auch, weil da eigentlich die Erzählerstimme aus der Retrospektive zu sehr durchkommt. Dieser Satz ist in die Gedanken des Jungen eingebaut, eigentlich scheint es aber eine Erkenntnis zu sein, die erst im Nachhinein erlangt wird. Und die Geschichte hat was archaisch anarchisches, etwas, wo Moral dem Nutzen unterworfen wird.

also: bis auf die Verwendung der Zeiten, an schöner Text, der ohne viel Gefühls-Show sehr viele Emotionen transportiert.


_________________
lg Wolfgang

gott ist nicht tot noch nicht aber auf seinem rückzug vom schlachtfeld des krieges den er begonnen hat spielt er verbrannte erde mit meinem leben

-------------------------------------------------------
"Ich bin leicht zu verführen. Da muss nur ein fremder Mann herkommen, mir eine Eiskugel kaufen und schon liebe ich ihn, da bin ich recht naiv. " (c) by Hubi
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Paradigma
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 54
Beiträge: 959
Wohnort: Östlich von Westfalen
Podcast-Sonderpreis


Beitrag25.01.2013 19:28

von Paradigma
Antworten mit Zitat

Wow. Das geht unter die Haut. Ich fand es spannend und die "Lösung" von schauriger Konsequenz.

Aber bei genauerem Durchlesen sträubt sich mein Kopf gegen viele der Abläufe, sie erscheinen mir nicht stimmig. Hier also meine Eindrücke. Vielleicht kannst du mit dem einen oder anderen was anfangen.

----
Ein wenig habe ich mich am Anfang verheddert mit der Paten-Geschichte: Du sprichst mich als Leser damit so an, als wäre ich der, mit dem du diese Geschichte erlebt hast. Das bringt die Geschichte sehr nahe an mich heran, aber mein Pate streitet mit meiner Patin, mein Pate verhaut grundlos, dann ruft dich deine Mutter, und die unterhält sich über meine Patin, dann siehst du mein Gesicht im Fenster ...
An der Stelle hätte ich beinahe aufgehört, das war mir zu verwuselt, zu viele ungewöhnliche Personenbezüge, da muss ich innehalten, den Kopf einzuschalten und erst mal die Personen sortieren, um wieder klarzukriegen, wer hier eigentlich wer ist, und in welcher Beziehung die Personen zueinander stehen. Ich will aber die Geschichte erst mal einfach genießen und mich von ihr gefangen nehmen lassen und sie nicht analysieren müssen.

Zitat:
Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüstertest: “Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.”
“Warum?”
“Sie sagt, oben am Llano wachsen lebende Menschen aus dem Gestein.”


Zum Glück kam dann  diese Stelle. Die lässt mich sofort neugierig weiter lesen.

Zitat:
Und der Wind hat gedreht, so wie immer in den Novembernächten. Er kommt jetzt vom Berg herunter gewieselt und er bringt ein dünnes, vielstimmiges Klagen mit sich. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf und ich sage: “Vielleicht hat sie wirklich etwas gesehen.”
Du legst den Kopf schief: “Ja, vielleicht.”
“Also, was machen wir?”

Du sagst: “Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren.”


Das geht mir ein ganz klein wenig zu schnell. Ein ganz kleines Zögern, ein kurzes "sollen wir wirklich?" hätte ich angemessener gefunden.

Zitat:
Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten.


Ich verstehe nicht, warum die Schnelligkeit so wichtig ist? Sie wollen erst mal nur ihre Neugier befriedigen, nicht das Dorf schnellstmöglich informieren und warnen, oder? Oder liegt dahinter ein unausgesprochenes: "Wenn es gefährlich ist können wir ganz schnell weglaufen"?
 
Zitat:
Wo kommen die bloß alle her? Sind die aus der Hölle?”


Keine Spekulationen? Kaum Unglauben, kein langsames realisieren des Unfassbaren? Mir fehlt hier auch ein wenig die Beschreibung der "Gefangenen". Winken die nicht, strecken die nicht flehentlich die Hände aus, erbitten Rettung (wenn auch in unverständlichen Worten)? Versuchen sie nicht verzweifelt, sich zu Befreien, jetzt, wo es Hilfe geben könnte?

Zitat:
“Die müssen ja frieren. Wir müssen was tun, die sterben da ja alle!”


Er erkennt sie also tatsächlich als Menschen, die in Not sind. Er will helfen. Weiß aber nicht wie ...

Zitat:
Du siehst mich an und zuckst die Schultern und hast einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dir egal. Du gehst zu einem hin, der schon beinahe tot ist, gehst um ihn herum, dann bückst du dich etwas und nimmst ihm die metallisch schimmernde Uhr ab, die er am linken Handgelenk hatte.

Ich raune: “Wir können versuchen, sie rauszuziehen.” Du schaust mich zweifelnd an, fast so, als wolltest du “Wieso?” sagen. Aber du flüsterst nahe an meinem Ohr: “Wenn das so einfach wäre, dann hätten die sich schon selbst befreit, oder was meinst du?”  


Und "ich" habe bereits realisiert, das diesen Menschen nicht zu helfen ist? Das unfassbare gesehen, achselzuckend registriert, meinen Vorteil draus gezogen? Braucht es nicht ein wenig länger, um so eine Entscheidung zu treffen, selbst wenn man ein eisenhartes, oft verdroschenes  Bergbauernkind ist?

Zitat:
Unsere Gesichter waren geschwollen von den Schlägen, die wir kassiert hatten.


Mir wird hier viel zu schnell und unmotiviert geprügelt. Die Geschichte würde auch anders funktionieren, oder?

Zitat:
Der Wind brachte erneut eine Welle von Klagerufen und elenden Weinen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu, ein paar andere brachten ihre erschreckten Kinder in die Häuser. Ich sagte: “Wir müssen sie retten.”
“Ja und wie?”, fragte mein Vater, und ich merkte, dass ihm keine der Aussichten im Moment wirklich gut gefiel. Der Bürgermeister unseres kleinen Dorfes sagte mit ruhiger Stimme: “So wie´s ist, kann´s aber auch nicht bleiben. Die Schreie von dort oben werden die Bewohner von Girablanco auch hören können, wenn sie sie nicht schon gehört haben. Dann werden sie wissen wollen, was da los ist. Sie werden kommen und uns vielleicht Vorwürfe machen, dass wir denen da oben nicht geholfen haben. Oder sie kommen von der Nordseite, gehen über den Gletscher rauf und holen sich von den Sterbenden, was zu holen ist. Was auch immer wir tun, wir müssen es wohl schnell tun.”
Alle nickten.
Dein Pate sagte: “Und wir sollten keine Spuren zurücklassen.”


Auch hier: Eine so entsetzliche Entscheidung so schnell, so ohne Suche nach Alternativen? Geht nicht einmal der Bürgermeister mit den Ratsmitgliedern hin, um selber zu sehen, was los ist? Gibt es keinen Steinmetz, keinen Meißel, keinen Hammer im Dorf?

Ist wirklich alles, was diese Leute interessiert die Frage, ob ihnen auch keiner was vorwerfen und nachweisen kann?

Gut, die Geschichte braucht Tempo, aber ein wenig mehr Gewissensqualen   würden die guten Leute und ihre letztendliche Entscheidung nicht weniger Hart wirken lassen, im Gegenteil.   

Zitat:
“Gut”, sagte der Bürgermeister dann, “nehmt, was ihr brauchen könnt, seid schnell, mir scheint, ich habe Fackeln am Gletscher gesehen.”


Das wirkt echt drängelig. SO eilig ist es jetzt auch nicht, 121 Leute in Brand zu setzten.

Zitat:
Wir sahen unbewegt zu, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Sie brannten wie Fackeln und es stank nach brennenden Haaren und ihre Schreie waren wie Sturmgedröhn.


Bei lebendigem Leib zu verbrennen ist ein grausamer Tod.

Wieso haben sie die Menschen verbrannt? Gut, es gab keine Möglichkeit die rauszuholen, gut, es wäre unmenschlich gewesen, sie in ihrer Lage noch länger leiden zu lassen - aber hätte man nicht zuerst die Menschen erschossen, erstochen oder ähnliches, um dann die Leichen zu verbrennen? Wieso auf diese furchtbare, unmenschliche Art? Nur, damit deine Story "böser" wird? Ich glaube nicht, das Menschen so handeln. Es wirkt unrealistisch und aufgesetzt.


Zitat:
Ein Jahr später waren wir beide wieder oben am Llano. Mir kam vor, dass unter dem dünnen, gefrierenden Schnee, ein dünner Benzinhauch zu riechen war. Die Skelette der Toten sahen aus wie versteinert.  


Ich dachte, es ging darum, Spuren zu verwischen. Ein Wald aus verbrannten Skeletten ist  alles andere als unauffällig, oder? Sie hätten die verbrannten Knochen einsammeln und beseitigen müssen.

Zitat:
Und manche Stellen im flachen Fels sehen so aus, wie Gesichter mit schreienden Mündern, eingesunken und hart.

Im Gestein müssen Löcher sein, in denen Beine, Arme, Oberkörper gesteckt haben. Das Fleisch ist verbrannt, Fleischreste vermodert, die Knochen liegen also lose in den tiefen, körperförmigen Höhlungen. Wenn darum geht um Spuren zu verwischen, hätten die Dörfler diese Höhlen zuschütten müssen.
------

Liebe Grüße, Para


_________________
Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will.

William Faulkner
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag25.01.2013 20:18

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Liebe Leute,

danke zuerst einmal für Eure ernsthaftes und konstruktives Interesse an dieser Geschichte.

Ich habe sie innerhalb von zwei Tagen in zwei Sitzungen zu je einer Stunde geschrieben, und als sie fertig war - vielleicht zu oberflächlich - korrigiert. Wie man sehen kann, gibt es da noch einiges zu tun.

1) Erzählzeit: Ich hatte das Bild vor Augen von zwei alten Crouchos, die nebeneinander in der Einöde sitzen, und mit Stimmen wie Holz, das auf Holz reibt, "eine jener Geschichten" in Erinnerung rufen. Der Erzähler spricht seinen Freund an, und der Wechsel in der Zeit simuliert die erinnerte Nähe, will heißen, im Präsens ist der Erzähler näher da, bei seinem Zuhörer, in der Vergangenheit verliert er sich in seinen Erinnerungen. Die Geschichte muss in der zweiten Person beginnen um den Erzählraum anzudeuten.

2) Unlogisches Verhalten: Mein Gedanke war, dass Menschen in Ausnahmesituationen vor allem eins sind: unlogisch. Da die Geschichte eine "alte" Erinnerung ist, bestünde die Gefahr, dass der Erzähler versucht, die Ereignisse zu verklären. Aber er sitzt neben seinem Freund aus Kindheitstagen, da wäre Verniedlichung und ein versuch, das alles moralisch zu erfassen, sinnlos- Obwohl ich doch eingestehen muss, dass ein zwei Sätze längerer Kampf um Anstand und Moral sicherlich gut wären. Da bietet sich die Frau des Bürgermeisters an, oder die Patin, die eh eine Zänkische ist.

3) Ich habe mir natürlich auch darüber Gedanken gemacht, woher die Menschen im Fels kommen, und welche Katastrophe sie in eine derart grässliche Situation brachte. Die Inspiration für die Menschen im Fels ist sicher die eine Szene aus dem Film: Das Philadelphia-Experiment, als das Kriegsschiff sich re-materialisiert, und einige der Matrosen halb im Stahl stecken, mit scheußlichen Verbrennungen.

4) Die Textänderungsvorschläge leuchten mir schon ein, vor allem die Kürzung, die Lupus vorschlägt, trägt zur Verknappung bei, die ich anstrebe - Danke Dir!

Ich mach mich mal dann an die Arbeit und poliere noch ein wenig.

Danke Euch!
Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Ralf Langer
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 57
Beiträge: 699
Wohnort: Gelsenkirchen


Beitrag25.01.2013 21:00

von Ralf Langer
Antworten mit Zitat

hallo pna

magischer realismus, ja, das ist wohl das richtige wort.

ich habe lange darüber gebrütet, wie es passieren konnte, wie die fremden
in den fels gelangt sind. aber dann wurde mir klar, es geht ja nicht um die menschen im fels, es geht um die menschen die unterhalb des felsens wohnen.

die beeinduckenste szene, liegt im entschluß ihnen zu helfen in dem sie
verbrannt werden, und es geht um das abstreifen von schuld, weil diese "hilfe" die einzige ist, die im nachhinein den weiteren alltag der bergbewohner legitimiert.

in diesem sinne sind die menschen im fels, das was im film ein
"macguffin" genannt wird. sie treiben die erzählung voran, ohne selbst
in erscheinung zu treten
( in etwa wie bei pulp fiction der koffer aus dem dieses seltsame licht leuchtet, alles dreht sich darum, aber das worum es sich dreht ist nur ein strudel, der initiator, der strudel selbst ist leer.

in diesem sinne deiner geschichte ist das schreckliche, nicht der einbruch des unheimlichen in den alltag, sondern der alltägliche umgang mit dem unheimlichen.

sehr gerne gelesen

ralf
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag27.01.2013 11:33

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Ralf,

herzlichen Dank für Deine freundliche Kritik. Der Begriff war mir nicht geläufig, scheint aber das abzudecken, was ich erzählerisch tun möchte: Das Fremdartige und Außergewöhnliche wird nicht erklärt sondern löst entlarvende Handlungen aus. In einer Geschichte, die ich gestern zu schreiben begonnen habe, stößt eine Familie, die aus unbekannten Gründen auf der Flucht ist, am Amazonas auf ein Dorf, in dem der Vater einen Doppelgänger seines ihm fremd gewordenen Sohnes trifft, der ihm viel lieber wäre, als der eigene.
Da ist es mir gar nicht wichtig, wohin die Familie in diesem dystopischen Szenario flieht, und auch nicht, wie es einen Doppelgänger geben kann (bis zum kleinsten Muttermal), sondern wie das die Handlung weitertreibt bis zu seiner erzählerischen Konsequenz.

Danke fürs Lesen,

Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Mardii
Stiefmütterle

Alter: 64
Beiträge: 1774



Beitrag27.01.2013 15:50

von Mardii
Antworten mit Zitat

Hallo Peter,

die Berge sind trächtig von Tragödien mit einem schweren Zug des Grauens. Die Zweisamkeit der Teilnehmer an dem Geschehen, die davon Zeugnis ablegen, macht es sehr authentisch. Ob es die Wahrheit ist oder ins Reich der Legende gehört, tritt dahinter zurück. Man glaubt es ihnen.

Andererseits können verkohlte Baumstämme die grauenvollsten Bilder heraufbeschwören. Ich denke an vermoderte Bäume, die im Wald liegen, wo man sich als Kinder Gestalten hinein dachte.

Einen anderen Hintergrund kann ich mir - abgesehen vom Gesagten - auch vorstellen: Menschen, die in schwere Not geraten sind, werden bestohlen und dann verbrannt, das ist z.B. Zigeunern geschehen, die unter den Nazis deportiert wurden.

Eine sehr eindrucksvolle Geschichte.

Grüße von Mardii


_________________
`bin ein herzen´s gutes stück blech was halt gerne ein edelmetall wäre´
Ridickully
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Lonlav
Wortedrechsler


Beiträge: 71
Wohnort: Zuhause, bei Vogel und in der WG


Beitrag30.01.2013 14:09

von Lonlav
Antworten mit Zitat

Eine unheimliche, und unheimlich dichte Geschichte, die du da webst.

Eine Erbse hab ich aber gefunden, ganz zu Beginn, als die Patin mit "wehenden Rockschößen" rennt. Du mischt hier die männliche und weibliche Rockbezeichnung durcheinander. In der Herrenschneiderei ist ein Rock eine Art Jacke und die Schöße sind an der Taille angesetzte Verlängerungen derselben. In der Damenschneiderei ist ein Rock genau das, was wir auch heute noch daruter verstehen, vereinfacht gesagt eine Art Röhre.

Wehende Rockschöße hat auf diesem Bild der eifrige Pianist
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Busch_Werke_v1_p_403.jpg

Ich glaube, das möchtest du nicht an deiner peruanischen Patin sehen. :-P


_________________
Per aspera ad absurdum.

Aktiver-Wortschatz-To-Do-Liste:
grenzdebil, jegliche, weiland,

the antidote was poison too
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag30.01.2013 15:09

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Lonlav hat Folgendes geschrieben:
Eine unheimliche, und unheimlich dichte Geschichte, die du da webst.

Eine Erbse hab ich aber gefunden, ganz zu Beginn, als die Patin mit "wehenden Rockschößen" rennt. Du mischt hier die männliche und weibliche Rockbezeichnung durcheinander. In der Herrenschneiderei ist ein Rock eine Art Jacke und die Schöße sind an der Taille angesetzte Verlängerungen derselben. In der Damenschneiderei ist ein Rock genau das, was wir auch heute noch daruter verstehen, vereinfacht gesagt eine Art Röhre.

Wehende Rockschöße hat auf diesem Bild der eifrige Pianist
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Busch_Werke_v1_p_403.jpg

Ich glaube, das möchtest du nicht an deiner peruanischen Patin sehen. Razz


LOL, das muss ich ausbessern. Und hab Dank für die Erinnerung an den guten alten Willhelm Busch Smile

lg/Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
adelbo
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1830
Wohnort: Im heiligen Hafen


Beitrag30.01.2013 16:00

von adelbo
Antworten mit Zitat

Hallo pna,

ich bin auch beeindruckt. Was für eine Geschichte. Ich habe ein Problem damit zu schreiben toll, da einfach auch sehr viel Grausamkeit in dieser Geschichte steckt, vor allem so selbstverständliche irgendwie logische Grausamkeit.
Die Frage des Jungen, sind wir jetzt Mörder und die Antwort des Vaters, ja, wir sind Mörder, aber das ist nicht so wild, sie sind ja nicht von uns, sie wären ja sowieso gestorben.
Sie wurden getötet, weil ihr Sterben zu laut gewesen wäre, darauf muss man erst mal kommen. Obwohl, es werden ja täglich Menschen aus ähnlich einfachen Gründen getötet.

Tolle Sprache, der Geschichte wunderbar angepasst.

Wirklich gute Kurzgeschichte.

LG
adelbo


_________________
„Das ist der ganze Jammer: Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel.“

Bertrand Russell
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag08.02.2013 14:19

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hier die korrigierte Version:

Als dein Pate abends von den Feldern kam, die im Osten liegen, und wo er Tag für Tag versuchte, dem Geröll und der Einöde Herr zu werden, gab es einen Streit mit deiner Patin. Und nach dem letzten und lautesten Wort von ihm stürmte sie wutentbrannt aus dem Haus, hastete mit wüstem Geschrei und wehendem Rock den Berg hinauf, bis sie in den hohen Wolken mottenhaft verging. Zuerst verschwand sie, und kurz darauf auch ihr Gezänk. Dein Pate kam aus dem Haus, holte dich an der Hand hinein und verpasste dir Schläge für irgendein Vergehen. Später kamst du und sagtest, dass du nicht geweint hättest, aber das hast du, denn deine Augen sind noch rot. Meine Mutter ruft mich zurück ins Haus, es gibt Abendbrot. Wir essen Ziegenkäse und frisches Brot, wir Kinder trinken Wasser und die Eltern trinken schweren, roten Wein. Sie unterhalten sich über deine verrückte Patin und ihren grobschlächtigen Mann, und als ich über die Schulter meines Vaters blicke, sehe ich dein dunkles Gesicht platt an der Schreibe. Du weichst zurück und formst mit dem Mund ein O. Ich schlinge das Essen herunter und murmle etwas als Entschuldigung. Meine Eltern hören mich nicht und mein kleiner Bruder schnappt sich den Rest vom Ziegenkäse. „Was ist?“, frage ich dich, als ich in dich rein renne. Inzwischen ist es dunkel und die Sterne funkeln am Himmel und der halbe Mond ist beinahe weiß. Nur aus ein paar Häusern unseres Dorfes dringt weiches Licht nach draußen. Es sind nicht mehr viele hier. Jedes Jahr werden es weniger, und mein Vater sagt, eines Tages wird Ruolfo ein Geisterdorf sein, mit nichts als Wind und Schatten. Du ziehst mich am Ohr zu dir ran, legst eine Hand vor den Mund und flüsterst: „Die Patin ist gerade zurück gekommen und jetzt ist sie ganz verrückt geworden.“ „Warum?“ „Sie sagt, oben am Llano wachsen lebende Menschen aus dem Gestein.“ Ich sehe dich ratlos an und verschränke die Arme unter dem Poncho. Die klamme Feuchtigkeit des Tages friert nachts zu einem hauchdünnen Film, der alles bedeckt. Jede Bewegung im Freien ist von einem dünnen Knistern begleitet. Du schaust mich erwartungsvoll an, und als ich zurückschaue, rutscht dein Blick weg, du legst den Kopf in den Nacken und äugst zum Berg. Die Wolken haben sich verzogen, seine Felsen und Grate sind scharf im Mondlicht zu erkennen; die Nordostflanke ist mit Eis und Schnee bedeckt. Und der Wind hat gedreht, so wie immer in den späten Novembernächten. Er kommt jetzt vom Berg herunter gewieselt und er bringt ein dünnes, vielstimmiges Klagen mit sich. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf und ich sage: „Vielleicht hat sie wirklich etwas gesehen.“ Du legst den Kopf schief: „Ja, kann sein.“ „Also, was machen wir?“ Du sagst: „Also, nur wir zwei? Wir sind die Schnellsten. Wir rennen den Steig hoch, den auch die Patin genommen hat, wir schaffen das im Nu. Wir sind wieder unten, bevor jemand merkt, dass wir überhaupt weg waren.“ Ich nicke. Wir sind wirklich die Schnellsten. Die Kinder haben noch nicht die Kraft und Ausdauer, die Jugendlichen bemühen sich schon um die würdevolle Langsamkeit der peruanischen Bergbauern. Nein, wenn es ums Laufen geht, kann es nur um uns gehen. Ich sage nachdenklich, weil ich noch nicht ganz sicher bin: „Sollen wir gleich den Bürgermeister und die anderen Erwachsenen dazuholen? Da oben liegen vielleicht Verletzte herum und es hat für deine Patin nur so ausgesehen, als ob ...“ Während wir beratschlagen, wie wir vorgehen sollen, sind wir bereits losgelaufen, eng beieinander, verschwörerisch und schnell. Du keuchst: „Quatsch. Wir gehen rauf und schauen, ob´s gefährlich ist und so. Danach informieren wir alle anderen und werden gelobt, wetten?“ Der Gedanke daran, ein Held zu sein, lässt mich schneller laufen, immer an deiner Seite.
Jetzt ist der Mond so weiß und groß, dass wir nächtlichen Schatten neben uns auf den Boden werfen, wir werfen Schatten und stürmen den Berg hinauf. Um uns ist es vollkommen still. Wir hören nur unser Atmen. Zwischendurch bleiben wir kurz stehen und tun so, als ob wir Luft holen müssten, aber wir atmen hart aus und ziehen den Bauch ein um das Seitenstechen wegzukriegen. Dann laufen wir weiter und als wir die untere Ebene des Llano erreichen, hören wir die Schreie deutlicher. Es sind viele Stimmen, es sind die Stimmen von Frauen und Männer und Kinder. Ihr Klagen ist so elend, dass wir stehen bleiben und uns ansehen, wir prüfen uns, ob wir das wirklich sehen wollen. Wir gehen weiter, jetzt mit dem schweren sicheren Tritt von Jungen, die am Berg aufgewachsen sind, und nicht mehr leichtfüßig laufend wie Bergziegen. Du fragst: „Wollen wir das wirklich sehen?“ Ich antworte: „Weiß nicht.“ Aber es ist zu spät. Wir erreichen die erste flache Anhöhe des weiten Llano, ein karges Feld aus gigantischen Steintafeln und Eis. Und im Mondlicht sehen wir eine unglaubliche Menge von Menschen, die halb in den Stein eingesunken sind. Manche stecken verkehrt herum im Gestein, von anderen sieht man nur noch die Arme und die Köpfe, manche sind mit dem Gesicht in den Fels gesunken, andere starren flehentlich in das graue Licht der Nacht und bewegen die Lippen. Viele aber stecken bis zu den Hüften im Fels, und einer, an dem wir vorbeikommen, als wir langsam weitergehen, liegt flach eingesunken im Stein. Seine Augen sind offen und suchen den Himmel nach einer Erklärung ab. Er formt den Mund um ein Wort zu sagen, aber es kommt nur ein nasses Zischen, das so klingt wie der Fluss im Tal, wenn er im März über die Ufer tritt. Ich flüstere: „Oh Jesus, wir müssen ihnen helfen.“ Du zischst entsetzt: „Wie?“ Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich. Ein kleines Mädchen mit weißblonden Haaren greift nach meinem Bein, als ich an ihr vorbeigehe. Sie steckt bis zu den Knien im Gestein … Sie murmelt etwas, dass so klingt wie „Papa“. Dann rutscht ihre Hand ab und sie starrt fassungslos in die Sternennacht. Du sagst: „Es sind Hunderte. Wo kommen die bloß alle her? Sind die aus der Hölle?“ Zuerst zögern wir, aber dann gehen wir langsam, auf unsere Schritte achtend, zwischen diesen Menschen hindurch wie durch einen verrückten, bösen Wald. Immer wieder hören wir ein Weinen und ein Flehen, aber wir verstehen die Sprache nicht, wir sehen uns an und zucken mit den Schultern. Manche haben Uhren an den Handgelenken, die schauen komisch aus, die haben keine Zeiger, sondern nur eine glatte Fläche, unter der Zahlen sind. Sie haben alle merkwürdige Kleidungsstücke an aus einem hellen, glänzenden Material, das in einer erst vor kurzem vergangenen Hitze geschmolzen war und auf ihrer Haut klebte ... oder mit der Haut verschmolzen war. Wir sehen einen Mann, der fast frei ist, wirklich fast. Im Mondlicht steht er da, bis zu den Knöcheln im Fels eingesunken. Seine Kleidung sieht verbrannt und zerrissen aus, ja, über allem ist der Geruch von Brand und kalter, nasser Asche. Inzwischen hat der Wind aufgefrischt und ich sage zu dir: „Die erfrieren. Wir müssen was tun, die sterben da ja alle!“
Du siehst mich an und zuckst die Schultern und hast einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich glaube, es ist dir egal. Du gehst zu einem hin, der schon beinahe tot ist, gehst um ihn herum, dann bückst du dich etwas und nimmst ihm die metallisch schimmernde Uhr ab, die er am linken Handgelenk hat. Eigentlich will ich schimpfen, aber ich bin zwölf Jahre alte Neugierde, wie mein Papa immer sagt: „Was ist denn das?“ Du zuckst wieder mit den Schultern, aber dann sagst du: „Egal. Unten im Tal bringt mir das sicher ein Schaf.“ Wir gehen zurück zur erhöhten Ebene. Der Wind stößt massive Wolken vor sich her, die an den Rändern silbern schimmern und ausfransen. Ich raune: „Wir können versuchen, sie rauszuziehen.“ Du schaust mich zweifelnd an, fast so, als wolltest du „Wieso?“ sagen. Aber du flüsterst nahe an meinem Ohr: „Wenn das so einfach wäre, dann hätten die sich schon selbst befreit, oder was meinst du?“
„Ich Wills bei dem kleinen Mädchen da versuchen. Die weint so schrecklich.“ Ich gehe zu dem Kind mit den blonden Haaren und sage: „Hab keine Angst mehr, ich hol dich da jetzt raus.“ Sie schaut mich mit großen, nassen Augen an und ich sehe, dass ihr sogar schon zu kalt ist, um zu zittern. Der Rotz unter ihrer Nase ist gefroren, ihre Lippen sind blau und sie bekommt nur schwer Luft. Das geht vielen Leuten so, wenn sie die Luft hier in den Bergen nicht gewohnt sind. Manche Wanderer aus fremden Ländern sagen, dass die Landschaft hier in den peruanischen Anden, weit über dreitausend Meter, besonders streng und unnahbar ist und dass sie den Mensch zurückstößt, zurückweist. Ich verstehe diese Leute nicht. Das Leben ist hart, ja. Aber wir leben in größter Freiheit. Das sage ich zu dem Mädchen: „Gleich bist du frei. Ich ziehe dich heraus, halt dich an meinen Armen fest.“ Ich packe sie an den Unterarmen stelle mich breitbeinig hin und fange zu ziehen an. Sie wimmert. Ich versuche es noch mal, verbessere meinen Stand, ziehe. Nichts. Jetzt weint sie so richtig laut. Weiter weg schreit ein Mann. Du zupfst mich am Ärmel, und lasse das Mädchen los und du sagst, klug, wie du bist: „Wir laufen hinunter schnell wie Gazellen. Wir holen Hilfe. Wir beide können da gar nichts machen.“ Ich nicke und tänzle auf den Zehenballen wie ein rennbereites Pferd. Mir kommt vor, wir laufen besonders schnell. Nicht nur, weil uns inzwischen selbst kalt geworden ist, sondern, weil dieser Wald aus Menschen, die im Stein halbversunken weinen und schreien, wirklich unheimlich ist. Mehr noch, es ist wie eine dieser Geschichten, unheimlich und furchtbar tragisch.

Vier Stunden später sitzen wir mit gekrümmten Rücken vor dem Haus deiner Patin, eingewickelt in dicke Decken und Ponchos. Wir hatten unsere Hauben auf. Unsere Gesichter waren geschwollen vom Weinen. Wir stanken nach Schweiß, Ruß und Benzin. Wir atmeten ruhig. Alles war jetzt gut. Alles war still. Am Llano oben war alles vollkommen still. Wir brauchten uns nicht mehr darum zu kümmern. Aber ich sah in deinen Augen, an der Art, wie du den Mund verzogst, teils wegen der Schmerzen, teils, weil du nachdachtest, dass wir niemals aufhören werden, uns zu fragen, woher diese Menschen gekommen waren. Und warum sie halb im Boden steckten, manche tiefer drin, andere fast heraußen, und manche, die flach da lagen, in den Himmel starrten und vor Schmerzen weinten.
Als wir ins Dorf gelaufen kamen, waren alle am großen Platz beim Brunnen versammelt. Sie rauchten und redeten wild. Da wurde uns schon ganz schlecht vor Angst. Mein Vater und dein Pate fingen uns im Lauf ab und schüttelten uns durch, warum wir da rauf gelaufen seien, das hätte ja gefährlich sein können? Dann herrschte uns dein Pate an: „Wo ward ihr? Was ist dort oben? Hat sie etwa recht?“ Er zeigte auf die Patin, und in dieser Geste war viel Widerwillen und Wut. Ich hörte zu, wie du erzähltest, was dort oben war: Menschen von irgendwoher, manche noch am Leben, andere schon fast tot. Es sähe so aus, als ob sie in den Fels eingesunken wären, so, als ob er kurz zu Wasser oder so geworden wäre, um dann wieder fest zu werden. Blödsinn, schrie dein Pate, Felsen, die flüssig werden, lüg mich nicht an, rief er. Der Wind brachte erneut eine Welle von Klagerufen und elenden Weinen. Die Frauen hielten sich die Ohren zu, ein paar andere brachten ihre erschreckten Kinder in die Häuser. Ich sagte: „Wir müssen sie retten.“ „Ja und wie?“, fragte mein Vater, und ich merkte, dass ihm keine der Aussichten im Moment wirklich gut gefiel. Der Bürgermeister unseres kleinen Dorfes sagte mit ruhiger Stimme: „So wie´s ist, kann´s aber auch nicht bleiben. Die Schreie von dort oben werden die Bewohner von Girablanco auch hören können, wenn sie sie nicht schon gehört haben. Dann werden sie wissen wollen, was da los ist. Sie werden kommen und uns vielleicht Vorwürfe machen, dass wir denen da oben nicht geholfen haben. Oder sie kommen von der Nordseite, gehen über den Gletscher rauf und holen sich von den Sterbenden, was zu holen ist. Was auch immer wir tun, wir müssen es wohl schnell tun.“ Alle nickten. Dein Pate sagte: „Und wir sollten keine Spuren zurücklassen.“ Er sah dich an, dann mich, dann raunte er: „Holt die Kanister und macht sie voll.“ Einige Frauen, die zurückgekommen waren, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hatten, stöhnten und machten das Kreuzzeichen. Die Frau des Bürgermeisters stellte sich vor ihn hin und stemmte die Hände in die Hüften: „Was bist du? Ein Mörder? Du willst sie umbringen, die da oben? Das ist ja verrückt! Sind wir noch Menschen?“ Ein anderer unterbrach sie: „Sie sind keine von uns. Sie kommen wer weiß, woher und niemand hat sie zu uns geholt. Und sie sterben sowieso. Wir müssen nur verhindern, das man uns was nachsagen kann. Noch zwei kräftige Jungen, los, jeder zwei Kanister. Wir gehen alle rauf und sehen uns um.“ Mit den Kanistern waren wir nur halb so schnell, Paolo plagte sich vor uns mit zwei großen, vollen Kanistern, hinter uns ging Enrique, der vor Erschöpfung jammerte und Tränen in den Augen hatte. Die Erwachsenen gingen in einigem Abstand vor und hinter uns und beleuchteten den Steinweg mit Fackeln. Der Wind stemmte sich gegen die Wolkenberge und hielt über uns ein großes Loch frei, durch das der Mond und die Sterne herab scheinen konnten. Jetzt waren die Alten still und sahen sich um, sie gingen in kleinen Gruppen zwischen den im Fels steckenden Menschen auf und ab, als würden sie Vieh begutachten. Die Frauen bekreuzigten sich und murmelten stumme Gebete. „Gut“, sagte der Bürgermeister dann, „nehmt, was ihr brauchen könnt, seid schnell, mir scheint, ich habe Fackeln am Gletscher gesehen.“ Inzwischen hatten wir die Menschen im Stein gezählt. Es waren, wenn wir keinen übersehen hatten, hunderteinundzwanzig Frauen, Männer und Kinder. Dein Pate nahm dir den Kanister weg und ging los. Die Frauen nahmen den Leuten Ringe und Uhren weg, Armreifen und Kettchen. Es war Schmuck, ja, aber solchen Schmuck hatte ich noch nie gesehen. Du auch nicht, oder? Du auch nicht. Als die Menschen im Fels begriffen, was wir vorhatten, begannen sie erst recht laut zu schreien, und der Bürgermeister lief auf und ab und rief, sie sollen das Maul halten, es sei eh schon alles egal. Sie verstanden ihn nicht.
Wir sahen unbewegt zu, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Sie brannten wie Fackeln und es stank nach brennenden Haaren und ihre Schreie waren wie Sturmgedröhn. Und erst, als sie das kleine blonde Mädchen mit Benzin übergossen und anzündeten, musste ich ein wenig weinen. Ich sah, dass es dir so ging wie mir. Und aus irgendeinem Grund beruhigte mich das. Sie brannten lang. Mir kam es vor, als würden sie ewig brennen, als würden wir zusehen, wie ein Wald in Flammen aufging. Alles roch nach Feuer und heißem Stein, nach brennenden Haaren; ich werde den Geruch nie wieder vergessen können, den Geruch von Benzin und brennenden Haaren. Irgendwann in der dunkelsten Nacht waren sie alle tot. Sie waren schwarze Kohle, sahen aus, wie verkrüppelte Bäume, die ein Feuerwind kahl gefegt hat. Wir trugen die leeren Kanister ins Dorf, die Frauen gingen voraus und redeten darüber, was man alles anschaffen konnte, wenn man den Schmuck und die komischen Uhren ins Tal trug. Als ich den Arm meines Vaters auf meinen Schultern spürte, fragte ich ihn: „Sind wir jetzt alle Mörder, sind wir verdammt?“ Er nickte und sah mich ernsthaft an: „Wir sind Mörder, aber es ist nicht so wild. Es waren ja keine von uns. Und sie waren sowieso zum Sterben verdammt. Siehst du das nicht auch so?“ Nach einer Weile nickte ich langsam, aber nachdrücklich. Er fügte hinzu: „Wir haben sie erlöst und sonst nichts Böses getan.“
Ein Jahr später waren wir beide wieder oben am Llano. Mir kam vor, dass unter dem dünnen, gefrierenden Schnee, ein dünner Benzinhauch zu riechen war. Die Skelette der Toten sahen aus wie versteinert. Ja, dieser Teil der Ebene sah jetzt so aus, als ob hier der versteinerte Rest eines unheimlichen Waldes steht. Und manche Stellen im flachen Fels sehen so aus, wie Gesichter mit schreienden Mündern, eingesunken und hart. Ein wenig unheimlich ist es schon. Und wir haben nie erfahren, woher diese Menschen kamen. Und Jahre später, als wir als die Letzten, das Dorf mit unseren Frauen verließen, um uns im fruchtbaren Tal niederzulassen, war es uns egal.

Wir sehen uns nur von Zeit zu Zeit an und erkennen im Blick des anderen, dass wir nie aufhören werden, an die Toten im Fels zu denken.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
adelbo
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1830
Wohnort: Im heiligen Hafen


Beitrag08.02.2013 14:39

von adelbo
Antworten mit Zitat

Hallo pna,

hast du bewusst keine Absätze gemacht? Ich finde den Text schwer zu lesen.


_________________
„Das ist der ganze Jammer: Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel.“

Bertrand Russell
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
pna
Geschlecht:männlichGrauzonenjunkie

Alter: 59
Beiträge: 1603
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag08.02.2013 16:54

von pna
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Im Originaltext habe ich Absätze gemacht, aber die hats mir augenscheinlich beim copy&paste irgendwie vermurkst Sad

lg/Peter
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Werkstatt
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du keine Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  


Ähnliche Beiträge
Thema Autor Forum Antworten Verfasst am
Keine neuen Beiträge Werkstatt
Von Menschen und Menschen
von Heribert
Heribert Werkstatt 35 12.08.2023 18:12 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Dies und Das
Schwarze Menschen einfach nur als men...
von Ayumi
Ayumi Dies und Das 60 18.01.2023 08:10 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Verlagsveröffentlichung
Ein DSFo-Duett: "Menschen und an...
von MoL
MoL Verlagsveröffentlichung 9 20.11.2022 20:45 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Feedback
Der Club der Menschen
von Kurzerede
Kurzerede Feedback 3 09.08.2022 16:07 Letzten Beitrag anzeigen
Keine neuen Beiträge Einstand
Es sind Menschen
von Burkhard Tomm-Bub DSFo
Burkhard Tomm-Bub DSFo Einstand 4 21.05.2022 18:40 Letzten Beitrag anzeigen

EmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungEmpfehlungBuchEmpfehlungBuchBuchEmpfehlung

von Abari

von mondblume

von jon

von Tjana

von Minerva

von hexsaa

von Mercedes de Bonaventura

von Jana2

von jon

von Boudicca

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!