Winterschlaf

[Pencake]

Winterschlaf

Madleine
schenke ich meist
nach Mitternacht ein.
Ihre Irissprenkel sind dann
entspannt wie ein Igel im Winterschlaf.
In etwa die gleiche Geschichte
erzählt sie immer.
Von dem Kerl, der sie so mies behandelt hat,
dass ihn Gott durch einen Verkehrsunfall zu sich holte.
Oder einem Anderen, der sie hintergangen hat,
bis ihm ein Dachziegel den Schädel zerschmetterte.
Heute ist es ein afrikanischer Macho,
den gerade eine heftige Krebsdiagnose ereilt hat.     
Ich weiß, dass alles erfunden ist,
aber es ist wichtig, den eigenen Platz
im Leben Anderer zu kennen.
Ich nicke und schenke nach.

Refrain.
1 - Sie zieht ein Handy aus der grellbunten Handtasche.
2 - Sie hält es ans Ohr, hört zu, nickt, verzieht das Gesicht.
3 - Sie beschimpft den Typen am anderen Ende, zetert,
warum er ihr das antue. Droht ihm, sagt, dass sie ihn in
die Hölle wünsche.
4 - Sie steckt das Handy zurück und bestellt noch einen Drink.

Ich nicke und schenke nach.
Im Winterschlaf ist jedes Wesen
wehrlos.

[anuphti]

[Vorlesepatin]

Tolle Lyrik, wäre mir bestimmt ebenfalls durch die Lappen gegangen, wenn anuphti den Beitrag nicht hochgeholt hätte.
Danke an Euch!

[Berni]

Ja, Pencake's Texte habe ich immer verschlungen. Auch das hier (danke, Nuff, fürs Zurückholen in die lyrische Öde hier) mag ich sehr. Lakonisch kommt er daher und doch voller Leben und Bilder. Und dann der feine Schluss, der so viel offen lässt ...

[Cholyrika]

Danke, alter Weggefährte.
Das ist das, warum ich überhaupt Lyrik lese


Michael