adelbo Reißwolf
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10.11.2011 19:01 Die Aufgabe von adelbo
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Kurz bevor ich mit den anderen in der großen schwarzen Öffnung verschwinden kann, erfasst mich ein kräftiger Windstoß, wirbelt mich in die Höhe, über den grauen Kopf des Scherers hinweg, ein Stück weit über den Damm, den ich so gut kenne und lässt mich hinter dem Zaun wieder los. Ich lande auf der saftigen Wiese, zu der Lukas oft sehnsuchtsvoll hinüber gestarrt hatte.
Neugierig schaue ich mich um. Es ist vertraut und doch fremd. Was nun, Pili lanei, frage ich mich.
Was wird aus unserer Aufgabe? Unserer Aufgabe, die der Schäfer, an vielen Tagen, Lukas ausführlich erklärt hatte. Kann ich sie alleine erfüllen? Hatte ich aufmerksam genug zu gehört?
Der Wind lässt mir keine Zeit zum Grübeln, er hebt mich auf und trägt mich fort. Bald ist kein Damm mehr zu sehen, das Grün unter mir verschwindet. Ich fliege über grauen Asphalt, pralle gegen einen Laternenpfahl, taumele und lande auf einem Autodach. Unglaublicher Lärm umgibt mich.
Das Dach ist kalt und glatt. Ich überlege. Friert ein Auto?
Es gibt einen Ruck, es knallt, erneut ein Ruck, das Auto fährt los. Wildes Gehupe, ich rutsche. Der Wind fängt mich auf, trägt mich über Köpfe, Hüte, Mützen.
Warum laufen die Menschen so schnell, frage ich mich. Sie halten ihre Taschen und Tüten umklammert und rennen. Vielleicht haben sie Angst, dass man sie ihnen wegnimmt, die Taschen und Tüten. Ganz selten sehe ich Menschen mit Menschen reden. Sie rennen in die Geschäfte, wirbeln zwischen Regalen und Kleiderständern, um dann erneut los zu rennen. Einige schreien, während sie rennen, in ihre Handys oder ihre Kinder an, die an ihren Armen zerren.
Eine alte Frau sitzt auf einer Bank und schaut den Rennenden hinterher. Einmal rechts, einmal links, so, als wolle sie sich keinen von ihnen entgehen lassen.
Sie friert, denke ich und lasse mich fallen. Mein erstes Mal. Ich überlege. Es will mir das Ende nicht in den Sinn kommen. Ich beginne, strenge mich an und es gelingt.
Nur kurze Zeit später, ich schaue stolz zurück und sehe die alte Frau, mit der weißen Mütze über den Ohren, das Kinn tief in den weißen Schal gedrückt, wie sie langsam zur Seite sinkt.
Der Wind trägt mich weiter. Die Läden mit den bunten Auslagen werden weniger, die Häuser werden kleiner, sie sind grau, dunkel. Die Straßen verengen sich geheimnisvoll. Die Menschen laufen langsamer, sehen sich um, verschwinden in Hauseingängen. Am Ende einer Straße geht eine junge Frau mit feuerroten Haaren auf und ab, auf und ab. Wunderschön sieht sie aus. Sie trägt eine grüne Corsage und goldene, sehr hohe Schuhe, die ihre Beine noch länger erscheinen lassen.
Es ist zu kalt, überlege ich und lasse mich fallen. Auf ihrer linken Schulter fange ich an. Ich komme gut voran und kurze Zeit später nutze ich den Wind und fliege davon. Lange schaue ich zurück, bis die schöne Statue, in ihrem langen weißen Kleid aus meinem Blick verschwindet.
Auf einem Fußballplatz komme ich ins Schwitzen. Es bläst ein frischer Wind und sie tragen fast alle nur kurze Hosen. Ich freue mich, denn ich bin nun sicher. Ich beherrsche die Aufgabe.
Der Wind ist zuverlässig, er trägt mich stetig voran. Das ist gut, denn ich habe viel zu tun. Vielen Bettlern, die auf Knien ihre Hüte hinhalten und den Vorbeirennenden hinter herrufen, gebe ich Schutz gegen die Kälte.
In einer Stadt nach der anderen erfülle ich meine Aufgabe. Sie macht mir Spaß. Ich vermisse nichts und niemanden.
Gerade blicke ich zufrieden auf einen schlafenden, jungen Mann, dem man wohl, während er schlief, die Kleidung gestohlen hatte und der nun warm eingemummelt, selig vor sich hin träumt, da erfasst mich eine starke Böe von vorne und treibt mich mit rasenden Geschwindigkeit meinen Weg zurück.
Treibt mich über eine stumme, unter einer weißen Decke, erstarrte Welt. Die Straßen sind weiß überzogen, weiß umhüllt die Häuser, die Bäume, die Laternen, die Autos und die Menschen. Kein Lärm, kein Gestank, niemand mehr, der rennt.
Ich bin entsetzt. Bin ich schuld? | |