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Wie der Winter klingt


 
 
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MelanieB
Geschlecht:weiblichErklärbär
M

Alter: 39
Beiträge: 2
Wohnort: Duisburg


M
Beitrag27.09.2011 20:30
Wie der Winter klingt
von MelanieB
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo!
So, ich wage es jetzt mal, den Anfang meines Romans hier reinzustellen.

Prolog
Zehn Jahre lebte ich nun schon hier in den grauen Straßen dieser Stadt, die nie stillsteht. In London wurde es nie langweilig. Und doch habe ich mich, trotz des ganzen Trubels, der Abwechslung und der vielen Menschen, nie vollständig gefühlt. Manchmal musste man aufpassen, dass man sich hier nicht selbst vergisst, im Lärm der Autos, dem Stimmengewirr und in der ewigen Hast von einem Termin zum nächsten, in der die Liebe und die Zufriedenheit keinen Platz haben.
Tief in mir drin barg ich die Hoffnung auf ein Leben, das mehr zu bieten haben muss als flüchtige Bekanntschaften, eintönige Gespräche und halbherzige Beziehungen.

Auch wenn ich mich für eine Suche danach momentan zu schwach fühlte, glaubte ich daran, es irgendwann zu finden. Solche Dinge treten ohnehin ins Leben, wenn man es am wenigsten erwartet. Deshalb wird das Schwierigste sein, es dann auch zu erkennen und wertzuschätzen, egal was geschieht.

Ich war mir nicht sicher, ob ich es je finden würde, doch ich durfte hoffen und das gab mir Kraft.

Dieses Verlangen nach mehr, nach einem Leben das lebenswerter ist, als das, das ich seit Jahren führe, war in einer verschlossenen Kammer meines Herzens verborgen.
Auch heute, als ich wieder an meine Mutter dachte...



1. Die Melodie

„Guten Morgen, Jane!“ Die glockenhelle Stimme meiner Kollegin riss mich aus meinen Gedanken wie ein Wecker aus dem Schlaf, als ich den Buchladen betrat. Ich lächelte halbherzig und schloss die Tür hinter mir.
„Morgen, Lissy! Du bist wie immer die gute Laune in Person!“ Lissy grinste, denn sie wusste genau, dass ich Recht hatte. Sie war ein Mensch, der sich mit dem Leben zufrieden gab, wie es war. Das Gegenteil von mir, sozusagen. In ihren stahlblauen Augen strahlte ständig Lebensfreude, egal ob sie gerade wieder einmal den Mann fürs Leben gefunden, oder es endlich geschafft hatte, eine Fehleroberung zu verlassen. Für sie war das Leben ein Spiel ohne Gedanken an die Zukunft, bei dem man eben auch gelegentlich verliert. Mehr als einmal habe ich diese Sicht der Dinge schon bewundert, weil man sich damit sicher viel Grübelei erspart.
Obwohl wir ziemlich unterschiedlich waren, konnte ich mit Lissy über alles reden und seit dem plötzlichen Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr, war sie meine engste Vertraute geworden, wenn man es so nennen konnte - meine einzige Freundin. Momentan war ich wirklich nicht einfach zu ertragen und fragte mich, wie sie es schaffte, so viel Trübsal und Gleichgültigkeit auszuhalten. Ich gab mir Mühe, gut gelaunt rüberzukommen und meistens gelang es mir, die freundliche, kompetente Buchhändlerin vorzuspielen. Heute jedoch war ein Tag, an dem ich es nicht konnte. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht lag es am trüben Januarwetter, bei dem man morgens schon schlechte Laune hat und am liebsten im Bett bleiben würde.
„Na ja, das kann man von dir nicht gerade behaupten“, sagte Lissy ernst, rückte ihre kleine Brille zurecht und schaute mir prüfend in die Augen. „Was ist los mit dir? Ist etwas passiert?“
„Ach Unsinn, was soll denn sein? Ich habe doch schon alles verloren, es gibt doch nichts mehr was mich erschüttern kann!“ Erschrocken über die Worte, die aus mir herausgebrochen waren, drehte ich mich weg von ihr, um mein Gesicht nicht zeigen zu müssen. Glücklicherweise war der „Bookworm“, wo wir beide arbeiteten, zu dieser Zeit noch leer.
„Oh, Jane, es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen“, Lissy legte mir ihre Hand auf die Schulter und seufzte mitleidig. Ich wusste nicht genau wie ich ihr, oder sogar mir selbst, mein Verhalten erklären sollte und suchte nach Worten.
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ständig spüre ich diese Unvollkommenheit in mir, als ob das Leben mir mit Absicht etwas vorenthalten würde, was es bereichert und lebenswerter macht. Ich weiß, das muss sich furchtbar egozentrisch oder deprimiert anhören und... ach, vergiss es einfach!“ Ich rollte mit den Augen und ging zum ersten Regal, um ein paar Bücher einzuordnen, die gestern von Kunden falsch zurückgeräumt worden waren. Lissy stand neben mir, bevor ich das zweite Buch einsortiert hatte.
„Weißt du, was ich glaube?“, fragte sie und versuchte aufmunternd zu klingen, aber mir entgingen die kleinen Sorgenfalten zwischen ihren Augenbrauen nicht. Sie nahm mir das Buch aus der Hand und ich versuchte, nicht zu genervt auszusehen. Ich wusste ja, sie meinte es gut. „Ich glaube, du brauchst Urlaub! Geh nach Hause, mach dir einen schönen Tag und nimm am besten morgen auch noch frei, dann hast du ein langes Wochenende!“ Ich hielt einen Moment inne und dachte darüber nach. Seit einem halben Jahr hatte ich nicht mehr frei gehabt. Und die paar Tage damals brauchte ich zur Organisation der...
Ich schluckte beim Gedanken an das Wort und versuchte, ihr in einem neutralen Ton zu antworten.
„Lissy, das geht nicht, ich kann dich nicht hier im Stich lassen und außerdem hält mich die Arbeit vom Grübeln ab.“ Ich fragte mich, ob das wirklich so war.
„Ach papperlapapp, Ablenkung! Mach dir zwei schöne Tage und du wirst sehen, dass du kaum Zeit zum Nachdenken haben wirst! Oder denkst du, ich komme nicht ohne dich klar?“ Mit diesen Worten schob sie mich zum Ausgang, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ich drehte mich noch einmal in der halb offenen Tür um und murmelte ein „Danke“, aber Lissy winkte ab und machte sich wieder an die Arbeit.
Vor dem Buchladen herrschte die typische Hektik der Großstadt, die einen erschlug, wenn man es nicht gewohnt war. Frauen liefen im Kaufrausch von einem Geschäft zum anderen mit mindestens drei Tüten in jeder Hand, Männer schlenderten eher gelangweilt durch die Sportgeschäfte und der eine oder andere hielt einen Kaffee oder ein belegtes Brötchen in der Hand. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass ich nie gerne shoppen ging. Nur wenn es unbedingt nötig war und meistens beschränkte ich mich auf die paar Geschäfte, bei denen ich mir nahezu sicher war, etwas zu finden. Aber heute, nachdem mich meine Kollegin „rausgeworfen“ hatte und die Wintersonne langsam zwischen zwei Wolken hervor blitzte, war mir komischerweise nach Bummeln zumute. Ich lief ziemlich lange die Einkaufsstraße entlang und schaute in die Schaufenster, ohne mich zu konzentrieren. Dutzende Markennamen, bunte Reklameschilder und Preise rauschten an mir vorbei. Würde mich jetzt jemand fragen, was im Schaufenster vorher der schönste Artikel gewesen war, könnte ich ihm nicht einmal antworten. Man sieht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht, dachte ich.
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre um mich herum und ich nahm die ganzen Menschen nur noch schemenhaft wahr. Es hätte Brad Pitt persönlich vorbeilaufen können und ich hätte es nicht bemerkt. Ich hielt kurz inne und zuckte ein wenig zusammen, als ich den Grund dafür aus der Entfernung wahrnehmen konnte. Ich hörte Musik, wahrscheinlich Violine oder Bratsche, soviel konnte man erahnen. Um es besser hören zu können, kuschelte mich in meinen schwarzen Lieblingsmantel und lief in die Richtung, aus der die Musik zu kommen schien. Eine unbekannte Melodie, die mir an diesem seltsamen Tag wenigstens etwas Ablenkung bringen würde.
Nachdem ich einige Meter südlich gelaufen war, hörte ich die Musik lauter und schaute mich um, um dann zu erkennen, dass auf der anderen Straßenseite ein Mann mit einer Geige stand und spielte. Er war etwa so alt wie ich, Ende zwanzig, vielleicht auch älter, und hatte mittelbraunes, leicht gelocktes Haar, das aussah, als hätte er seinen Friseurtermin vor ein paar Wochen verpasst. Einige störrische Strähnen fielen ihm in die Stirn. Er war in einen dunkelbraunen knielangen Mantel eingehüllt und trug einen schwarzen Schal um den Hals. Obwohl fast keiner auf ihn achtete, spielte er mit einem Lächeln auf den Lippen und bewegte sich im Takt seiner Musik. Sein Blick war verträumt auf die Saiten gerichtet, was von Weitem aussah, als hätte er die Augen geschlossen. Vielleicht dachte er gerade daran, wie es wäre, jetzt vor einem großen Publikum zu spielen und vor allem nicht in der Kälte. Von der Szene ging eine besondere Ruhe und stille Faszination aus, die schwer zu beschreiben war. Solche Straßenmusiker sieht man hier zwar häufiger, doch meistens läuft man achtlos vorbei und hört gar nicht erst hin, oder man kann die Musik nicht richtig hören, weil die Menschen drumherum zu laut sind.
Bei ihm war das anders. Es schien, als würde seine Musik über die Stimmen hinweg klingen, aber ohne penetrant zu wirken. Es war irgendwie faszinierend.
Ich habe Musiker schon immer bewundert, denn das Musizieren kam mir wie eine andere Welt vor, die von ihnen selbst geschaffen wird. Mit meinen verstaubten Kenntnissen, die ich als Kind beim Klavierunterricht erworben habe, werde ich leider nie in diese Welt eintauchen können.
Obwohl er die Augen fast geschlossen hatte, konnte man erkennen, dass er sich gerade genau in dieser Welt befand. Seine Augenbrauen waren konzentriert zusammengezogen und ab und zu konnte man eine kleine Regung erkennen. Sicher wird er in diesem Moment alle seine Sorgen vergessen haben, falls er welche hatte.
In meinen Gedanken versunken, suchte ich nach einer Sitzgelegenheit in der Nähe des Mannes und setzte mich auf eine Bank am Rande des angrenzenden Parks, von der aus ich ihn zwar sehen konnte, es aber nicht zu auffällig war, dass ich ihn beobachtete. Ich wollte schließlich nicht, dass er mich bemerkte. Ab und an blieben ein paar Leute stehen, hörten ihm kurz zu und der eine oder andere warf ein paar Münzen in den schwarzen Geigenkoffer. Ich lächelte. Es gab also doch Menschen, die ihn beachteten. Nachdem er mit ein paar Stücken fertig war, machte er eine kurze Pause um einen Schluck zu trinken. Als er seine Wasserflasche zurück auf den Boden gestellt hatte und seine Violine spielbereit machte, blickte er kurz in meine Richtung. Ich schaute so schnell wie möglich weg und merkte, wie ich rot wurde. Offensichtlich wusste er jetzt, dass ich ihn beobachtete. Wie peinlich. Das hatte mir heute gerade noch gefehlt. Ich überlegte kurz, ob ich mich woanders hinsetzen sollte, entschied mich aber um, als ich die vertrauten Klänge der nächsten Melodie hörte, die mich sofort so sehr fesselte, dass ich nicht aufstehen konnte.
Es fuhr mir wie ein Blitz durch Mark und Bein, denn es war die Titelmelodie des Films „Schindlers Liste“, einem der Lieblingsfilme meiner Mutter. Ich liebte dieses Stück genau wie sie, weil es viel Traurigkeit und Melancholie in sich trägt. Nur Musik kann Tragik derart passend ausdrücken.
Ich dachte an den letzten Tag mit meiner Mutter und sah alles so lebendig vor mir wie noch nie zuvor.



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OceanChild
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Beitrag28.09.2011 12:08
Re: Wie der Winter klingt
von OceanChild
Antworten mit Zitat

MelanieB hat Folgendes geschrieben:
Hallo!
So, ich wage es jetzt mal, den Anfang meines Romans hier reinzustellen.

Prolog
Zehn Jahre lebte ich nun schon hier in den grauen Straßen dieser Stadt, die nie stillsteht. In London wurde es nie langweilig. Und doch habe ich mich, trotz des ganzen Trubels, der Abwechslung und der vielen Menschen, nie vollständig gefühlt. Manchmal musste man aufpassen, dass man sich hier nicht selbst vergisst, im Lärm der Autos, dem Stimmengewirr und in der ewigen Hast von einem Termin zum nächsten, in der die Liebe und die Zufriedenheit keinen Platz haben.
Tief in mir drin barg ich die Hoffnung auf ein Leben, das mehr zu bieten haben muss als flüchtige Bekanntschaften, eintönige Gespräche und halbherzige Beziehungen.

Auch wenn ich mich für eine Suche danach momentan zu schwach fühlte, glaubte ich daran, es irgendwann zu finden. Solche Dinge treten ohnehin ins Leben, wenn man es am wenigsten erwartet. Deshalb wird das Schwierigste sein, es dann auch zu erkennen und wertzuschätzen, egal was geschieht.

Ich war mir nicht sicher, ob ich es je finden würde, doch ich durfte hoffen und das gab mir Kraft.

Dieses Verlangen nach mehr, nach einem Leben das lebenswerter ist, als das, das ich seit Jahren führe, war in einer verschlossenen Kammer meines Herzens verborgen.
Auch heute, als ich wieder an meine Mutter dachte...



1. Die Melodie

„Guten Morgen, Jane!“ Die glockenhelle Stimme meiner Kollegin riss mich aus meinen Gedanken wie ein Wecker aus dem Schlaf, als ich den Buchladen betrat. Ich lächelte halbherzig und schloss die Tür hinter mir.
„Morgen, Lissy! Du bist wie immer die gute Laune in Person!“ Lissy grinste, denn sie wusste genau, dass ich Recht hatte. Sie war ein Mensch, der sich mit dem Leben zufrieden gab, wie es war. Das Gegenteil von mir, sozusagen. In ihren stahlblauen Augen strahlte ständig Lebensfreude, egal ob sie gerade wieder einmal den Mann fürs Leben gefunden, oder es endlich geschafft hatte, eine Fehleroberung zu verlassen. Für sie war das Leben ein Spiel ohne Gedanken an die Zukunft, bei dem man eben auch gelegentlich verliert. Mehr als einmal habe ich diese Sicht der Dinge schon bewundert, weil man sich damit sicher viel Grübelei erspart.
Obwohl wir ziemlich unterschiedlich waren, konnte ich mit Lissy über alles reden und seit dem plötzlichen Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr, war sie meine engste Vertraute geworden, wenn man es so nennen konnte - meine einzige Freundin. Momentan war ich wirklich nicht einfach zu ertragen und fragte mich, wie sie es schaffte, so viel Trübsal und Gleichgültigkeit auszuhalten. Ich gab mir Mühe, gut gelaunt rüberzukommen und meistens gelang es mir, die freundliche, kompetente Buchhändlerin vorzuspielen. Heute jedoch war ein Tag, an dem ich es nicht konnte. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht lag es am trüben Januarwetter, bei dem man morgens schon schlechte Laune hat und am liebsten im Bett bleiben würde.
„Na ja, das kann man von dir nicht gerade behaupten“, sagte Lissy ernst, rückte ihre kleine Brille zurecht und schaute mir prüfend in die Augen. „Was ist los mit dir? Ist etwas passiert?“
„Ach Unsinn, was soll denn sein? Ich habe doch schon alles verloren, es gibt doch nichts mehr was mich erschüttern kann!“ Erschrocken über die Worte, die aus mir herausgebrochen waren, drehte ich mich weg von ihr, um mein Gesicht nicht zeigen zu müssen. Glücklicherweise war der „Bookworm“, wo wir beide arbeiteten, zu dieser Zeit noch leer.
„Oh, Jane, es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen“, Lissy legte mir ihre Hand auf die Schulter und seufzte mitleidig. Ich wusste nicht genau wie ich ihr, oder sogar mir selbst, mein Verhalten erklären sollte und suchte nach Worten.
„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ständig spüre ich diese Unvollkommenheit in mir, als ob das Leben mir mit Absicht etwas vorenthalten würde, was es bereichert und lebenswerter macht. Ich weiß, das muss sich furchtbar egozentrisch oder deprimiert anhören und... ach, vergiss es einfach!“ Ich rollte mit den Augen und ging zum ersten Regal, um ein paar Bücher einzuordnen, die gestern von Kunden falsch zurückgeräumt worden waren. Lissy stand neben mir, bevor ich das zweite Buch einsortiert hatte.
„Weißt du, was ich glaube?“, fragte sie und versuchte aufmunternd zu klingen, aber mir entgingen die kleinen Sorgenfalten zwischen ihren Augenbrauen nicht. Sie nahm mir das Buch aus der Hand und ich versuchte, nicht zu genervt auszusehen. Ich wusste ja, sie meinte es gut. „Ich glaube, du brauchst Urlaub! Geh nach Hause, mach dir einen schönen Tag und nimm am besten morgen auch noch frei, dann hast du ein langes Wochenende!“ Ich hielt einen Moment inne und dachte darüber nach. Seit einem halben Jahr hatte ich nicht mehr frei gehabt. Und die paar Tage damals brauchte ich zur Organisation der...
Ich schluckte beim Gedanken an das Wort und versuchte, ihr in einem neutralen Ton zu antworten.
„Lissy, das geht nicht, ich kann dich nicht hier im Stich lassen und außerdem hält mich die Arbeit vom Grübeln ab.“ Ich fragte mich, ob das wirklich so war.
„Ach papperlapapp, Ablenkung! Mach dir zwei schöne Tage und du wirst sehen, dass du kaum Zeit zum Nachdenken haben wirst! Oder denkst du, ich komme nicht ohne dich klar?“ Mit diesen Worten schob sie mich zum Ausgang, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ich drehte mich noch einmal in der halb offenen Tür um und murmelte ein „Danke“, aber Lissy winkte ab und machte sich wieder an die Arbeit.
Vor dem Buchladen herrschte die typische Hektik der Großstadt, die einen erschlug, wenn man es nicht gewohnt war. Frauen liefen im Kaufrausch von einem Geschäft zum anderen mit mindestens drei Tüten in jeder Hand, Männer schlenderten eher gelangweilt durch die Sportgeschäfte und der eine oder andere hielt einen Kaffee oder ein belegtes Brötchen in der Hand. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass ich nie gerne shoppen ging. Nur wenn es unbedingt nötig war und meistens beschränkte ich mich auf die paar Geschäfte, bei denen ich mir nahezu sicher war, etwas zu finden. Aber heute, nachdem mich meine Kollegin ("Kollegin" wirkt an der Stelle zu distanziert, hat man doch eben gesehen, dass die beiden mehr Freunde sind) „rausgeworfen“ hatte und die Wintersonne langsam zwischen zwei Wolken hervor blitzte, war mir komischerweise nach Bummeln zumute. Ich lief ziemlich lange die Einkaufsstraße entlang und schaute in die Schaufenster, ohne mich zu konzentrieren. Dutzende Markennamen, bunte Reklameschilder und Preise rauschten an mir vorbei. Würde mich jetzt jemand fragen, was im Schaufenster vorher der schönste Artikel gewesen war, könnte ich ihm nicht einmal antworten. Man sieht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht, dachte ich.
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre um mich herum und ich nahm die ganzen Menschen nur noch schemenhaft wahr. Es hätte Brad Pitt persönlich vorbeilaufen können und ich hätte es nicht bemerkt. Ich hielt kurz inne und zuckte ein wenig zusammen, als ich den Grund dafür aus der Entfernung wahrnehmen konnte. Ich hörte Musik, wahrscheinlich Violine oder Bratsche, soviel konnte man erahnen. (Die Abfolge ist hier falsch. Sie hört zuerst die Musik, dann veränderte sich die Atmosphäre, bzw. ihre Wahrnehmung der Atmosphäre. Ich würde die Musik davor setzen) Um es besser hören zu können, kuschelte mich in meinen schwarzen Lieblingsmantel und lief in die Richtung, (hier denkt man, dass sie sich in den Mentel kuschelt, um die Musik besser zu hören) aus der die Musik zu kommen schien. Eine unbekannte Melodie, die mir an diesem seltsamen Tag wenigstens etwas Ablenkung bringen würde.
Nachdem ich einige Meter südlich gelaufen war, hörte ich die Musik lauter und schaute mich um, um (das gleiche Wort direkt hintereinander, am besten umformulieren) dann zu erkennen, dass auf der anderen Straßenseite ein Mann mit einer Geige stand und spielte. Er war etwa so alt wie ich, Ende zwanzig, vielleicht auch älter, und hatte mittelbraunes, leicht gelocktes Haar, das aussah, als hätte er seinen Friseurtermin vor ein paar Wochen verpasst. Einige störrische Strähnen fielen ihm in die Stirn. Er war in einen dunkelbraunen knielangen Mantel eingehüllt und trug einen schwarzen Schal um den Hals. Obwohl fast keiner auf ihn achtete, spielte er mit einem Lächeln auf den Lippen und bewegte sich im Takt seiner Musik. Sein Blick war verträumt auf die Saiten gerichtet, was von Weitem aussah, als hätte er die Augen geschlossen. Vielleicht dachte er gerade daran, wie es wäre, jetzt vor einem großen Publikum zu spielen und vor allem nicht in der Kälte. Von der Szene ging eine besondere Ruhe und stille Faszination aus, die schwer zu beschreiben war. Solche Straßenmusiker sieht man hier zwar häufiger, doch meistens läuft man achtlos vorbei und hört gar nicht erst hin, oder man kann die Musik nicht richtig hören, weil die Menschen drumherum zu laut sind. ("Man" liest sich nicht schön. Da es ihre Gedanken sind, kann sie es auch auf sich beziehen, denn sie weiß ja nicht, ob die anderen Menschen in der Stadt das genauso empfinden wie sie)Bei ihm war das anders. Es schien, als würde seine Musik über die Stimmen hinweg klingen, aber ohne penetrant zu wirken. Es war irgendwie faszinierend.
Ich habe Musiker schon immer bewundert, denn das Musizieren kam mir wie eine andere Welt vor, die von ihnen selbst geschaffen wird. Mit meinen verstaubten Kenntnissen, die ich als Kind beim Klavierunterricht erworben habe, werde ich leider nie in diese Welt eintauchen können.
Obwohl er die Augen fast geschlossen hatte, konnte man erkennen, dass er sich gerade genau in dieser Welt befand. Seine Augenbrauen waren konzentriert zusammengezogen und ab und zu konnte man eine kleine Regung erkennen. Sicher wird er in diesem Moment alle seine Sorgen vergessen haben, falls er welche hatte.
In meinen Gedanken versunken, suchte ich nach einer Sitzgelegenheit in der Nähe des Mannes und setzte mich auf eine Bank am Rande des angrenzenden Parks, von der aus ich ihn zwar sehen konnte, es aber nicht zu auffällig war, dass ich ihn beobachtete. Ich wollte schließlich nicht, dass er mich bemerkte. Ab und an blieben ein paar Leute stehen, hörten ihm kurz zu und der eine oder andere warf ein paar Münzen in den schwarzen Geigenkoffer. Ich lächelte. Es gab also doch Menschen, die ihn beachteten. Nachdem er mit ein paar Stücken fertig war, machte er eine kurze Pause um einen Schluck zu trinken. Als er seine Wasserflasche zurück auf den Boden gestellt hatte und seine Violine spielbereit machte, blickte er kurz in meine Richtung. Ich schaute so schnell wie möglich weg und merkte, wie ich rot wurde. Offensichtlich wusste er jetzt, dass ich ihn beobachtete. Wie peinlich. Das hatte mir heute gerade noch gefehlt. Ich überlegte kurz, ob ich mich woanders hinsetzen sollte, entschied mich aber um, als ich die vertrauten Klänge der nächsten Melodie hörte, die mich sofort so sehr fesselte, dass ich nicht aufstehen konnte.
Es fuhr mir wie ein Blitz durch Mark und Bein, denn es war die Titelmelodie des Films „Schindlers Liste“, einem der Lieblingsfilme meiner Mutter. Ich liebte dieses Stück genau wie sie, weil es viel Traurigkeit und Melancholie in sich trägt. Nur Musik kann Tragik derart passend ausdrücken.
Ich dachte an den letzten Tag mit meiner Mutter und sah alles so lebendig vor mir wie noch nie zuvor.


Hallo Melanie,

ich finde dein Text ist recht gelungen!

Ein paar Anmerkungen habe ich im Text hinterlassen, ich hoffe sie erschlagen dich nicht, sie sind nicht böse gemeint. Ich finde den Prolog könntest du auch weglassen.

Geht der Text noch weiter? Würde geren mehr lesen.

Gruß
Karin


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MelanieB
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Beitrag28.09.2011 15:44

von MelanieB
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Hallo Karin!
Danke für deine Kritik, werde die Textstellen auf jeden Fall ändern, hört sich logisch an, manchmal ist man eben blind, auch wenn man etwas schon mehrmals korrigiert hat. Klar geht der Text noch weiter, hat 325 Normseiten Smile werde bei Gelegenheit noch etwas reinstellen. Das mit dem Prolog hab ich gemacht, damit man so nen kleinen Einblick über die Lebensituation bekommt, kam mir jetzt nicht unnötig vor (weil das mit der Mutter auch schon angedeutet wird). Ich lese gerne Geschichten, die einen Prolog haben, ist vielleicht Geschmackssache. Man könnte es natürlich auch in den Text mit einfließen lassen. Mal sehen.

LG Melanie


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Kew
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Beitrag28.09.2011 17:48

von Kew
Antworten mit Zitat

Hi,

ich habe nicht viel Zeit, daher erstmal nur etwas zum Prolog.

Tut mir leid, aber er gefällt mir gar nicht.

 Das Verlangen deines Erzählers nach "einem besseren Leben" ist zwar keineswegs verwerflich oder einer Geschichte im generellen abträglich, aber in dieser Aufmachung ... Das ist so klischeehaft. Die Großstadt mit ihrer Hektik. Oder "ewigen Hast von einem Termin zum nächsten" das sind so abgedroschene Bilder. Wenn es schon so los geht's, wie geht's dann weiter?

Zitat:
Tief in mir drin barg ich die Hoffnung auf ein Leben, das mehr zu bieten haben muss als flüchtige Bekanntschaften, eintönige Gespräche und halbherzige Beziehungen.

Bitte zeige doch die Eintönigen Situationen an hand eines Beispieles oder so. Auf diese Weise wirkt es wieder nur wie ein Klischee, ohne mir als Leser wirklich etwas mitzuteilen. Da wird nur ein Allgmeinplatz zitiert, der dann natürlich irgendein Bild beim Leser hervorruft.

Und auch der Rest des Prologs ist derart Klischee. Dieser Allgemeinplatz von Philosophie: "Solche Dinge treten ohnehin ins Leben, wenn man es am wenigsten erwartet." Natürlich kann man das zum Charakterisieren einer Figur verwenden. Aber nach den bereits gebrachten Holzschnittbeschreibungen, wirkt das nicht.

Mein Tipp soweit: Hau den Prolog raus bzw. mach ein, zwei Szenen drauß, in denen du deinen Erzähler charakterisierst. Versuch Klischees zu vermeiden, indem du sie nicht nur anzitierst. Sondern wirklich ausführst. Durch die Einzelheiten gewinnt das ganze dann leben.

Tut mir leid, dass es so negativ geworden ist. Aber mir hat's nicht gefallen.

Den Rest lese ich mal die Tage.

Gruß,
Kew
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Kew
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Beiträge: 44



Beitrag01.10.2011 14:19

von Kew
Antworten mit Zitat

So jetzt habe ich auch den Rest gelesen (und ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich diesem Nachtrag einen eigenen Post gewähre).

Es wird besser. Ich bleibe also dabei: Prolog raus und gut ist. Dass sie deprimiert ist, kommt auch ohne diesen heraus.

Zitat:
In ihren stahlblauen Augen strahlte ständig Lebensfreude, egal ob sie gerade wieder einmal den Mann fürs Leben gefunden, oder es endlich geschafft hatte, eine Fehleroberung zu verlassen.

Das geht natürlich als Beschreibung, wird aber sehr häufig verwendet für die lebensfrohe Freundin, die alles viel lockerer nimmt als die leicht melancholisch/depressive Protagonisten. Vielleicht fällt dir da etwas Eigenständigeres ein.

Zitat:
Obwohl wir ziemlich unterschiedlich waren, konnte ich mit Lissy über alles reden und seit dem plötzlichen Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr, war sie meine engste Vertraute geworden, wenn man es so nennen konnte - meine einzige Freundin.

Hast du öfters drin diese Einschränkungen. Würde ich raus nehmen. Nehmen den Aussagen immer viel Wirkung. Auch, wenn es als Charakterisierung benutz wird, bleibt es gefährlich.

Zitat:
Ich rollte mit den Augen

Das ließt sich für mich immer unfreiwillig komisch.

Zitat:
Ich wusste ja, sie meinte es gut.

Das wird dem Leser, denke ich, auch so klar. Kann gestrichen werden.

Zitat:
Vor dem Buchladen herrschte die typische Hektik der Großstadt, die einen erschlug, wenn man es nicht gewohnt war. Frauen liefen im Kaufrausch von einem Geschäft zum anderen mit mindestens drei Tüten in jeder Hand, Männer schlenderten eher gelangweilt durch die Sportgeschäfte und der eine oder andere hielt einen Kaffee oder ein belegtes Brötchen in der Hand

Diese Beschreibung ist wieder sehr Klischee behaftet bzw. bietet wenig/nichts Eigenständiges. Wie wäre es mit ein, zwei neuen Bildern. Die typische Großstadthektik ist dem größten Teil der Leser ja ohnehin bekannt. Da wirkt dann Ungewöhnliches besser als Allgemeinplätze.

Zitat:
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre um mich herum und ich nahm die ganzen Menschen nur noch schemenhaft wahr. Es hätte Brad Pitt persönlich vorbeilaufen können und ich hätte es nicht bemerkt.

Das kaufe ich dir nicht ab. Du lieferst nämlich keine Erklärung für die starke Wirkung der Musik. Erst nachher entsteht ein persönlicher Bezug bei der Filmmusik. Käme dieser gleich, würde zum einen die Reaktion erklärlich, zweitens wäre mehr Spannung vorhanden.

Zitat:
Eine unbekannte Melodie, die mir an diesem seltsamen Tag wenigstens etwas Ablenkung bringen würde.

Hier widersprichst du dir sogar selbst. Erst hat die Musik eine außerordentlich starke Wirkung und hier wird sie zur reinen Ablenkung degradiert.

Zitat:
Von der Szene ging eine besondere Ruhe und stille Faszination aus, die schwer zu beschreiben war.

Gefährlich, da mögliches Geständnis des eigenen Unvermögens. Zumal das Bild an sich sehr abstrakt und allgemein ist. Auch hier würde ich zu mehr Persönlichkeit raten.

Zitat:
Solche Straßenmusiker sieht man hier zwar häufiger, doch meistens läuft man achtlos vorbei und hört gar nicht erst hin, oder man kann die Musik nicht richtig hören, weil die Menschen drumherum zu laut sind.

Lieber kein Man, sondern Ich. Macht die Sache viel stärker.

Allgemein gesagt:

Ungewöhliches > Bekanntes. Persönliches > Allgemeines. Anschaulich > Abstrakt.
Wenn du die Klischees und Allgemeinplätze herausnimmst und erstetzt und die Umgebung stärker durch eigene, ungewohnte Assoziationen deiner Protagonisten kommentierst, würde deine Geschichte in meinen Augen fiel gewinnen.

Eine Frage noch: Kommt sie mit dem Straßenmusiker zusammen? Wenn ja, wäre es für mich zu offensichtlich.

Gruß,
Kew
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