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Frauenschicksale in einer Großstadt.. Teil 3


 
 
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Autor Nachricht
Lore
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 90
Beiträge: 932
Wohnort: Düsseldorf


Code Philomele
Frauenschicksale in einer Großstadt
Beitrag19.09.2011 19:11
Frauenschicksale in einer Großstadt.. Teil 3
von Lore
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Sieglinde (30),

nach wie vor auf der Suche nach Mister Right, ging mir mal wieder erheblich auf den Senkel.
Sie verstand sich als Ratgeber in allen Lebenslagen und selbigen vergab sie dann reichlich und vor allem unerwünscht.
Sie wurde schmallippig wenn man sich weigerte, ihre Sicht aufs Leben als stimmig anzusehen.
Was aber schon deshalb häufig geschah, weil ihr eigenes Leben eher einem aneinander reihen von Pannensituationen glich.
Ihr erstes Date - Folge eines Internetkontaktes - verlief
katastrophal, denn der etwas unschlüssige Kandidat wollte sie auf einer Inlineskatbahn treffen und Sieglinde hatte vergessen zu erwähnen, dass sie Bewegungslegastheniker war .
Ihre totale Unsportlichkeit war leider im Vorfeld nie ein Thema gewesen.
Desaster vorprogrammiert.
Dass man einfach nur ums Haus marschieren könne und das dann als sportliche Variante in Frage komme, war ihm nicht zu vermitteln.

Ich kannte Sieglinde aus Studienzeiten, wir hatten uns ein Zimmer geteilt und schon damals war sie auf dem Weltveränderungstrip, aus dem dann allerdings auch nichts wurde.
Sie gab den auf, als sich erwies, dass die Polizei sie bei einer Blockierung der Straßenbahngleise nicht mal wegtragen wollte, sondern sie ihren Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung im strömenden Regen aussitzen ließ, die Bahn war ohnehin mit einem technischen Schaden im
Betriebshof geblieben.

Wir verloren uns nie aus den Augen.
Auch nicht, als Sieglinde als jugendliche Naive in einem
Provinztheater anheuerte und fortan endlich die Miete für ihre Dachgartenwohnung ohne die Finanzierung ihrer Eltern aufbrachte.
Nach einer Serie zwischenmenschlicher Pannen, nach denen sie jedes mal bei mir aufkreuzte um den jeweiligen Lover tränenreich zu bezichtigen, ihr das Herz gebrochen zu haben , wurde es Zeit zu einer zielgerichteten Planung ihres künftigen Daseins.

Wir saßen bei einem Glas Rotwein auf ihrer Terrasse und Sieglinde eröffnete mir, dass sie sich ein zweites Standbein zulegen werde und müsse, denn die Schauspielerei habe durchaus ihre Grenzen, als
komische Alte wolle sie also nicht im Spielplan auftauchen.
Nicht, dass sie hätte beraten werden wollen, meine Zustimmung brauchte sie lediglich für den ersten Einsatz bei der Organisation eines so genannten
<Jumping>.

Wortreich erklärte sie mir, dass dies die moderne Variation einer Partnervermittlung sei und bis ins hohe Alter gewinnträchtig betrieben werden könne.
Meinen Einwand, dass ich immerhin in einer festen Beziehung sei und Andreas, mein Zukünftiger, es wohl nicht so gerne sehe, wenn sie ihr zweites Standbein mit meiner Hilfe aufbaue, fegte sie kurzerhand mit
der Bemerkung beiseite, ob ich etwa wolle, dass sie irgendwann, ausgemustert am Theater, ihr Dasein auf dem Rummel in einer Geisterbahn friste.

Sieglinde wartete meine Antwort gar nicht ab.
Bei ihrer wortreichen Schilderung hatte ich allerdings den Eindruck, dass sich auf dieser Kontaktbörse der besonderen Art, die Letzten der
es-hat-schon-wieder-nicht-geklappt-Enttäuschten
auf neutralem Boden trafen.

Die erste Zusammenführung geschah zwischen drei Männern und drei Frauen, die nicht mehr voneinander wussten, als dass sie sich jeweils als Köche zu beweisen hatten , was wohl als eine Art Auflockerung gedacht war.

Sieglinde und ich hatten das Anfangslos gezogen -zugegeben mit einigen Tricks von Sieglindes Seite - und durften in ihrer Wohnung die Vorspeise anbieten.
Es wäre erheblich bedenklicher geworden, wenn Sieglinde das Hauptgericht hätte auftischen müssen. Das hätte mit einem kulinarischen Fiasko geendet, denn meine liebe Freundin konnte allenfalls eine dekorative Kleinigkeit servieren, als Köchin war sie die totale Fehlbesetzung , ihre Braten hatten die Konsistenz altbackener Schuhsohlen und die Beilagen waren zumeist derart verkocht, dass nicht mehr zu erkennen war, aus welchem ernährungsbewussten Umfeld sie stammten.

Unsere Gäste waren eine Dame - geschätzte Enddreißigerin - mit dem Gehabe einer Sonderschullehrerin, was bedeutete, sie nannte dreimal ihren Vornamen *Tilda* und starrte uns dann aufmerksam an, als wolle
sie erkennen, ob diese Nachricht angekommen und vor allem verstanden worden sei.
Die drei Männer, Leo, Markus und Erich, konnten unterschiedlicher gar nicht sein.
Leo, markige Stimme, allerdings etwas flachbrüstig, was vermuten ließ, er habe die Stimme in einem Wochenendseminar für Laienschauspieler trimmen lassen.

Markus, sanftes Gesicht, Augenwimpern wie ein Model für Wimperntusche, aber Hände wie ein Schaufelradbagger, was ihn für Sieglinde nicht uninteressant machte, denn sie liebte das, was sie *zupackende Hände* nannte.

Der Dritte aber ließ auch bei mir zumindest erwachendes Interesse aufflackern.
Auf den ersten Blick stinknormal, äußerlich eher unauffällig, bis auf ein leichtes, kaum merkbares Hinken seines linken Beines, aber mit einem Mutterwitz gesegnet, der die beiden anderen im Handumdrehen zu Statisten degradierte.

Witz muss angeboren sein, und Erich war der beste Beweis für die Theorie, dass echter Witz den Hörer ebenso überrascht wie den Sprecher, er ist einfach situationsbedingt und entsteht auch aus dieser Situation.

Was konnte zudem komischer sein, als ein solches Treffen und Erich verstand es, daraus eine einzige Quelle der Heiterkeit zu machen.
Unverkrampft und leicht wie Mousse au Chocolat..und...ebenso gehaltvoll.

Zweite Station auf der kulinarischen Reise dieses Abends war Tildas Wohnung und ein Hauptgericht für Veganer, das die angenehme Stimmung, die sich dank Erichs Humor eingestellt hatte, jäh abflachen ließ.
Erich rettet das Fiasko mit der Idee, einander mit dem Zitieren von Sprüchen zu unterhalten, was unsere Oberlehrerin sofort damit versöhnte, dass ihre fleischlose Katastrophe fast unangerührt wieder
abgeräumt wurde.
Hier war sie in ihrem Element oder glaubte es zu sein, wobei sich ihre Zitate allerdings eher Bibelsprüchen näherten, zu denen einem beim besten Willen nichts einfiel, dass sie bezüglich Trockenheit hätte
toppen können.
Ehe die kleine Gesellschaft in Tristesse ersaufen konnte, deklamierte Erich heiter:

Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim
ein schwarzer Kater schleicht herzu
die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt, weil das so ist
und weil mich doch der Kater frisst
so will ich keine Zeit verlieren
will noch ein wenig quirilieren
und lustig pfeifen wie zuvor,
der Vogel scheint mir, hat Humor
(W. Busch)

Ob Tilda den diskreten Hinweis verstand war eher zweifelhaft, sie hatte dem süffigen Tischwein mehr als die Ehre erwiesen und war inzwischen ziemlich angesäuselt. was gar nicht zu ihrem Veganer-Status
passte und sie zudem leicht weinerlich machte.

Als Markus zum Aufbruch drängte, weil in seiner Wohnung der Nachtisch zu servieren war und er befürchtete, sein sorgfältig hergestelltes Soufflè dürfte eventuell seine locker flockige Konsistenz verlieren, schoss sie den Vogel ab.
 
Mit leicht verschwimmendem Blick klammerte sie sich an Markus Arm und hielt ihm ihren Nacken hin mit der Aufforderung, zu bestätigen, dass
man nichts mehr sehen könne.
 
"Sehen? Was?" fragte der etwas verblüfft.

" Meine O.P, Du musst nämlich wissen, ich bin ein medizinisches Wunder," gab Tilda mit etwas verhuschter Stimme bekannt, "ich hatte neulich eine Geschwulst im Nacken und als die rausgeschält wurde, was
meinste wohl, was man dabei gefunden hat?"

Weder Markus noch der Rest der kleinen Gruppe schien sonderlich daran interessiert, irgendwelche unappetitlichen Einzelheiten zu erfahren, aber Tilda war nicht zu stoppen.
"Man hat mir meinen Zwilling herausoperiert, sagte sie weinerlich, und stell Dir mal vor, das war ein winziger Embryo, mit Zähnen und allen Knochen, bis auf das linke Beinchen, das muss ihm abhanden gekommen
sein.. Jetzt frage ich Dich, was hat das zu bedeuten?
Bin ich eine Mörderin, weil ich diesen Zwilling doch offensichtlich verhindert habe, ihm jede Nahrung weg gefressen haben muss?
Die Vorstellung, dass ich auch sein linkes Beinchen"..Tilda brach schluchzend über dem Tisch zusammen.
Der samtwimprige Markus umfasste Tilda mit seinen riesigen Händen und fragte tröstend, aber wenig hilfreich: " Ach so, deshalb bist Du
Veganer, wusstest Du denn nicht, dass eine fleischlose Ernährung den Sextrieb gegen Null fährt?"

An der Stelle zischte Sieglinde; " lass uns abhauen, ich glaube, dieses Fiasko hier wird mit Sicherheit nicht mein zweites Standbein, ich eigne mich wohl nicht zur Unternehmerin.
Bliebe noch festzuhalten, dass wir beide mit Erich in Verbindung blieben, sein Humor Sieglinde unwiderstehlich anzog und beide ein Jahr später im Ehehafen landeten.
Und das, obwohl sich heraus stellte, dass sein leichtes Hinken dem Tragen einer Beinprothese zuzuschreiben war, er hatte sein linkes Bein bei einem Unfall verloren, was weder sein Leben, noch das von Sieglinde im geringsten beeinträchtigte.


Lisa (40 )

Auf einmal stellen Sie fest, dass in Ihrem Leben nichts mehr so ist, wie Sie es für sich geplant haben.
Alles läuft schief, Sie fühlen sich erschöpft, kraftlos und völlig überfordert.
„ Ich helfe Ihnen die Chance zu erkennen, die hinter einer solch schweren Krise steckt."

Klar, der Sermon konnte nur auf dem intellektuellen Bodensatz einer Lebensberaterin gediehen sein und ich gedachte nicht, ihr mit der Behandlung meiner Lebenskrise den nächsten Ferienaufenthalt auf Martha's Vineyard zu finanzieren, zumal die Gute auf dem Werbefoto
aussah, als habe ihr Jemand mit einem Tacker das Lächeln unter der Nase auf Dauergrinsen gepolt.

Es erschien mir wenig sinnvoll, mein Dilemma mit einer Person auflösen zu wollen, die auf mich wirkte, als brauche sie die angebotene Hilfe selbst.

Was war wirklich passiert?
Im Telegrammstil:
40 geworden
Ehemann auf der eigenen Geburtstagsfeier mit bester Freundin kopulierend im familieneigenen Mercedes SL in der Garage erwischt.
Job auf der Kippe wegen drohender Insolvenz meines Brötchengebers.
Rumzuheulen entfiel, denn immerhin war Margret, meine beste Freundin, dafür nicht mehr greifbar, das Luder.

Meine Multidilemma in meiner Familie auszubreiten ging kaum, ohne alle unerquicklichen Begleitumstände zu schildern, wonach nie sicher war, ob ich mich mit dem Mitgefühl meiner beiden Schwestern nicht noch
mieser fühlen würde, denn beide hatten meinen Ernst nie wirklich gemocht.
Eltern, denen ich jammernd mein Rückkehr ins Kinderzimmer ankündigen konnte, gab es schon lange nicht mehr.
Kinder hatten wir keine, weil Ernst der Ansicht war, das Leben zu genießen ginge nur ohne Ballast.

Mir fehlte an diesem Morgen nur noch ein Eiterpickel auf der Nase, um mit suizidalen Absichten schwanger zu gehen. Solche ins Auge zu fassen, verbot sich allerdings, weil beide Augen wegen einer fundamentalen Bindehautentzündung aussahen wie bei einem Albinokaninchen.

Ich fand schon immer, dass sich Lebenseinbrüche erheblich leichter überstehen lassen, wenn man mit dem Äußeren eines Topmodells gesegnet ist und hinter der nächsten Ecke jede Menge neue Chancen geboten werden.
Die meinen glänzten eher durch Abwesenheit, es sei denn, ich beschloss, der Lebensberatungs-Tussi abzunehmen, dass jede Lebenskrise mit neuen Chancen einher gehe. Zwar nicht auf Anhieb zu erkennen, - wie sie zu bedenken gab - zu deren Wahrnehmung sie mir dann aber - natürlich gegen entsprechendes Honorar - bereitwilligst verhelfen
werde.
Unser ganzes Leben planen wir die Zukunft.
Unsere tiefsten Ängste gelten dem Unvorhersehbaren, das jede Planung auslöschen könnte, als habe es sie nie gegeben, aber diese Planung umfasst auch alle unsere Hoffnungen.
Und dann offenbart sie sich, diese Zukunft und...ist nie so, wie wir sie uns vorgestellt haben.

Die meine lag gerade in Scherben und nichts daran entsprach meinen Hoffnungen, aber auch nicht meinen Ängsten, denn dass ich meine Situation nicht nur realistisch betrachten, sondern das Ergebnis
dieser Betrachtung auch in neue Pläne umzusetzen hatte, war mir völlig klar.
Im Laufe eines Tages bescheint die Sonne eben auch die andere Straßenseite, es war also logisch, dass dies dann nicht immer die Straßenseite sein konnte, auf der ich mich gerade befand.

Das mag fatalistisch klingen, aber es ist ohnehin ratsam, Dinge, die man nicht ändern kann, fatalistisch zu betrachten.
Eine Lebensberaterin war also das Letzte, womit ich mich aufhalten konnte, es galt vielmehr handfeste Strategien zu entwickeln und zwar solche, die mir zunächst das finanzielle Überleben sicherten und dann auch das emotionale.
Das wiederum warf die Frage auf, sollte ich - wenn mein Brötchengeber wirklich dicht machte - als selbständige Lektorin ins bekannte Business einsteigen, oder gar die Seite wechseln und mich als Schriftstellerin mit immerhin guten Verlagskontakten niederlassen?

Ob man als Autor eine Botschaft vermitteln muss, um einen Bestseller zu schreiben, war ohnehin nach Charlotte Roche zweifelhaft, dazu hatte ich zudem auch nicht
das geringste Talent.
Aber gute Unterhaltungsliteratur, also die traute ich mir durchaus zu, und einen Literaturagenten würde ich nicht brauchen um die Verlagsfront zu knacken. Ich kannte nicht nur alle Kollegen der Konkurrenz, sondern von gemeinsamen Messe-Veranstaltungen auch die Bosse der Branche.

Da mein Spiegel zu sagen schien " wer zur Hölle bist denn Du", führte mich mein erster Gang in die Apotheke, wo ich dann nach einer umfassenden Beratung über Bindehautentzündungen, mit den notwenigen Medikamenten diesem Problem gezielt zu Leibe rückte.

Mein fremd kopulierender Ehemann nötigte mir im Moment keine Entscheidung darüber ab, ob ich ihn rausschmeiße oder selbst das Haus verlasse, denn er hatte es vorgezogen, am Morgen nach der jäh von mir
unterbrochenen Beglückung meiner Freundin Margret eine längere Geschäftsreise anzutreten.
Das war seine übliche Reaktion, Problemen aus dem Weg zu gehen, nur würde sie ihm diesmal nichts nützen, er stand auf der Abschussliste.

Die Zeit war zwar ein tückisches Miststück und durchaus in der Lage, grenzenlose Enttäuschung oder rasende Wutanfälle zu relativieren, aber dergleichen würde ich ihr diesmal nicht erlauben.
Ich beabsichtigte nicht, diese Ehe fortzuführen.
Bei genauer Prüfung überwogen längst deren negative
Begleiterscheinungen und ich ging davon aus, dass sich dies jenseits der Vierzig kaum zu einem neuen Liebesfrühling entwickeln würde.
Kurz und gut, ich bezahlte längst zuviel für etwas, dass ich schon seit Jahren nicht mehr bekam.

Ich handelte schnell und präzise.

Ernst hatte unser Haus vor Jahren aus Steuergründen auf mich überschrieben und so kostete es mich kein Mühe, es einem Makler anzubieten.
Dieser kam, sah und kaufte - für den Eigenbedarf -.
Zuweilen haben auch Pechvögel eine Miniglückssträhne, die meine hielt an, denn der Käufer übernahm zu einem angemessenen Preis auch alle Einrichtungsgegenstände, ich hatte nur noch meine persönlichen Sachen zu packen und diesem Haus und damit Ernst - und unserer Ehe - den
Rücken zu kehren.
Da ich nicht vor hatte, mich unrechtmäßig zu bereichern, überwies ich die Hälfte des erzielten Kaufpreises auf sein Konto und schickte ihm eine SMS mit den Fakten. Er würde seine persönlichen Dinge in einem Lagerhaus vorfinden.
Seine Reaktion war mir egal, für mich begann ab diesem Termin das Trennungsjahr.

Und dann stellte das Schicksal erneut die Weichen.
Mein Brötchengeber bot freiwillig Ausscheidenden eine Abfindung an und da ich seit zwanzig Jahren im Betrieb war, war diese für mich durchaus ansehnlich.

Ohne Bedauern schied ich innerhalb eines Tages aus und weil erkennbar die Zeit der rasanten Entschlüsse angebrochen schien, hatte ich mich schon vor dem Ende dieser ereignisreichen Woche auf den Weg in einen
kleinen Ort an der Nordseeküste gemacht, wo ein hübsches kleines Haus auf mich wartete.
Der ideale Platz für eine angehende Autorin wirklich das zu machen, was sie sich zutraute, nämlich Kurzgeschichten, Essays und Kolumnen für Magazine und Frauenzeitschriften zu verfassen.
Ob ich mich je an einen Roman wagen würde, blieb erst einmal offen, denn ich hatte genug damit zu tun, mich dort einzurichten und alle Kommunikationsmöglichkeiten, wie Internetanschluss, Fax und Flatrate-Telefon installieren zu lassen.

Aus meinem bisherigen Dunstkreis verschwand ich, ohne eine Spur zu hinterlassen, denn wie hektisch auch immer meine Aktivitäten in dieser Woche gewesen waren, ich brauchte jetzt erst einmal eine Auszeit um
meine Wunden zu lecken.

Aber..ich verkroch mich nicht.
Am ersten Abend meines Einzuges besuchte ich die Ortskneipe Nummer EINS.

Es gab derer nur zwei, aber die freundliche Besitzerin des nahe gelegenen kleinen Supermarktes, die mir dabei geholfen hatte, meinen leeren Kühlschrank seiner Bestimmung zuzuführen, erzählte während unseres kleinen Plausches, dass Kneipe Nummer Zwei eher für die
Touristen und Feriengäste mit Verwöhnansprüchen gedacht sei, Nummer EINS dagegen Anlaufpunkt der Ortsansässigen war.
Das waren die Kontakte die ich nicht nur brauchte, weil sie mir auf einfachstem Wege zu den Ansprechpartnern für Reparaturen, Arztbesuchen, Apothekerdiensten und den kulturellen Angeboten des kleinen Ferienortes verhelfen würden, sondern auch beständig blieben, sobald ich als Zugezogene akzeptiert war.

Genau dazu aber musste ich mich so weit öffnen, dass Nachbarn und Honoratioren wussten, mit wem sie es zu tun hatten.

Als ich diesen gastlichen Ort gegen Mitternacht verließ, war daran kein Zweifel mehr und...ich hatte auf diese Weise, den Bürgermeister, die Apothekerin und den Leiter der Handwerksinnung kennen gelernt, was dann erfreulicherweise meine Anmeldung am nächsten Tag ebenso
vereinfachte, wie die Installation der Technik in meinem Haus unglaublich beschleunigte.

Schon zwei Tage später startete ich per Mail und Telefon den Großangriff auf die Printmedien der Republik.
Die Ansprechpartner kannte ich nicht nur alle namentlich, sondern auch aus vielen gemeinsamen Meetings der Sparte, wusste also, kommentarlos abwimmeln würde mich niemand.

Mit einem durchschlagenden Erfolg rechnete ich trotzdem nicht, es gab mit Sicherheit bestehende Verträge mit Textlieferanten, den Fuß in die Tür zu kriegen würde also dauern.
Die Ausbeute war dann auch eher spärlich.
Mein Angebot weckte zwar freundliches Interesse, aber nur auf zwei von 12 Offerten bekam ich einen Themenvorschlag, dessen Ausarbeitung man wohlwollend zu prüfen versprach.

Selbst wenn das zu einer Dauerbeschäftigung werden sollte, ernähren würde es mich nicht.
Da ich nicht vor hatte, die letzten Tausender anzugreifen, die mir nach dem Erwerb des kleinen
Hauses geblieben waren, sah ich mich innerhalb des Ortes nach einer Zusatzbeschäftigung um.

Der entscheidende Hinweis kam von der Apothekerin Luise, mit der ich mich inzwischen angefreundet hatte.
Sie machte mich auf eine Werbeagentur am Rande der Ortschaft aufmerksam, ein lang gestrecktes weißes Gebäude mit großen Atelierfenstern zur Seeseite.

Mein Ansprechpartner werde dort Lars Berger sein, ließ Luise mich wissen, der im Ort zwar als distanzierter Zugezogener bekannt war, von dem man aber darüber hinaus nur wusste, dass er von seinen Angestellten als Workaholic bezeichnet wurde, zu dem niemand
persönlichen Kontakt hatte.

Die Einheimischen bewunderten nur sein Boot und seine Segelkünste.
Schon einen Tag später kreuzte ich dort auf, mit gut recherchiertem Internetwissen über diese Agentur und bewaffnet mit einer umfassenden Bewerbungsmappe.

Weit kam ich damit allerdings nicht.
Die Wasserstoff-Blondine an der Rezeption streckte ihren Superbusen über das elegante Möbel, das ihren Bereich von der Empfanghalle trennte und ließ mich mit der Aussage stehen, es werde derzeit kein Personal gesucht.
Nur widerwillig nahm sie meine Mappe in Empfang und ich konnte mir leicht vorstellen, dass diese nie einen Personalchef - falls es den hier geben sollte - erreichen und schon gar nicht Lars Berger vorgelegt würde.
Nicht jedenfalls, wenn diese Alptraum auslösenden Kunstfingernägel sie dorthin zu tragen hatten.

Warum mir genau in diesem Moment das Herbstgedicht von Rilke in den Sinn kam,

"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben"

hätte ich später nicht zu sagen gewusst.
Auf jeden Fall löste es einen von Zukunftsängsten getriebenen Frontalangriff aus.
Mit einem blitzschnellen Griff, riss ich der Blondine meine Mappe aus den Händen und sagte kess:
" Das verstehe ich aber nicht, Herr Berger hat mich doch ausdrücklich für heute zum Gespräch gebeten."

"Habe ich das?"
Die Stimme in meinem Rücken klang leicht amüsiert.
Ich drehte mich so flott um, dass ich die Balance verlor und dem Mann hinter mir direkt in die Arme fiel.
Reaktionsschnell wurde ich aufgefangen und ehe das Ganze peinlich werden konnte, samt meinen Unterlagen zu einem der Besuchertische geführt.

" Sie haben ganze fünf Minuten, mich davon zu überzeugen, dass ich nicht meine Zeit mit Ihnen verschwende ," sagte Lars Berger und seine grauen Augen musterten mich aufmerksam.

" Ich bin Lektorin und damit auch Texterin," behauptete ich unverfroren, "traue mir also zu, innerhalb einer Werbeagentur gute Arbeit leisten zu können, ob ich in ihrem Haus in die Kreativschmiede passe, möchte ich gerne beweisen dürfen, was ich brauche, ist also
eine ehrliche Chance."

Während ich sprach hatte Lars Berger konzentriert in meiner Mappe geblättert und ich konnte ihn ungestört beobachten.
Er mochte Mitte bis Ende vierzig sein, sein Haar war bereits ergraut, was einen hinreißenden Kontrast zu der gebräunten Haut ergab, er war groß und wirkte ziemlich sportlich.
Ein gut aussehender Mann, aber mit Sicherheit nicht die Sorte, die wegen eines so unvorhergesehenes Ereignisses, wie es meine dreiste Lüge war, Entscheidungen treffen würde, die ihm nicht ins Konzept passten.

Schon stand er auf und sagte schon im Gehen, "Sie kriegen diese Chance, verfassen sie bis morgen einen Werbetext über ein Produkt ihrer Wahl und achten Sie auf Kürze, Prägnanz und Humor.
Lassen Sie sich am Empfang meine Mailnummer geben, ich will Sie hier nicht mehr sehen, bis Sie dazu eine Aufforderung bekommen".

Sprachs und verschwand hinter einer der weißlackierten Türen.
Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Mir war eines klar, wenn ich diese Chance verpasste, würde ich mich in ernsten finanziellen Schwierigkeiten befinden, ganz davon abgesehen, dass sich mein dreister Vorstoß bei einem Misserfolg blitzschnell im Ort herumsprechen würde, dafür garantierte schon die
Dame am Empfang, die das Kurzgespräch mit ihrem Boss misstrauisch aus der Entfernung verfolgt hatte.

Nie in meinem Leben habe ich so hart gearbeitet wie an diesem Tag und in der ganzen darauf folgenden Nacht.
Ich recherchierte pausenlos im Internet, um mir die erfolgreichsten
Werbespots der Welt anzusehen.
Mein Selbstbewusstsein sank vorübergehend in den Keller angesichts der genialen Kreativität auf die ich dort stieß.
Gegen Mitternacht war klar, wenn ich punkten wollte, dann musste ich zu meinem Text eine Idee für das Video abliefern, das diesen Text transportieren sollte..,und...ich durfte mir kein imaginäres
Duftwässerchen oder ein Modelabel dafür aussuchen, sondern einen Gegenstand, mit dem mein potentieller Arbeitgeber nicht rechnete.

Am Morgen gegen sieben stand ich erschöpft und völlig ausgepowert unter der Dusche, aber bereit, das Wagnis einzugehen, Lars Berger Idee und Text zu einem Spot über Autoreifen vorzulegen, der auf humorvolle
Weise das technische Unverständnis der holden Weiblichkeit auf die Schippe nahm, wie auch die duldsame Überlegenheit der Männerwelt leicht karikierte.

Drei Tage später hatte ich nicht nur meinen Anstellungsvertrag in der Tasche, sondern auch die Zusage, zu Hause arbeiten zu dürfen.

Das hatte dann allerdings einer knallharten Überzeugungsarbeit meinerseits bedurft, an deren Ende der Personalchef sich dann doch die Zustimmung von Lars Berger einholte.
Ich würde auf keinen Fall mehr eingleisig fahren, die Option - neben meiner Arbeit für die Agentur - meine schriftstellerischen Ziele weiter zu verfolgen, wollte ich mir nicht nehmen lassen.

Mein Leben war wieder planbar geworden.
Je länger der Mensch plant, umso sicherer trifft ihn der Zufall, das hatten wir ja schon.

Wann meine Stresssituation es zum ersten mal zuließ, diesem Zufall - auch Schicksal genannt - eine Chance einzuräumen, dazu bedurfte es Dutzender Treffen und Besprechungen mit Lars Berger in meinem Haus und mindestens zwölf Einladungen auf sein Boot.

Ein Jahr später, 3 Monate vor der Geburt unserer gemeinsamen Tochter Marie , bekam ich den romantischsten Antrag meines Lebens und wusste endgültig, Krisen und Chancen bedingen einander

Und damit schließen wir das Fenster, das uns teilhaben ließ am Leben unterschiedlichster Menschen in ihren Lebenskrisen.



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Blas Dich nicht auf, sonst bringet Dich
zum Platzen schon ein kleiner Stich
(Nietzsche)
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