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Frauenschicksale in einer Großstadt.. Teil 2


 
 
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Lore
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 90
Beiträge: 932
Wohnort: Düsseldorf


Code Philomele
Frauenschicksale in einer Großstadt
Beitrag19.09.2011 19:09
Frauenschicksale in einer Großstadt.. Teil 2
von Lore
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Anneliese (40)

Ich erwachte und erkannte sofort „ES“ war erneut passiert.
Der Mann auf dem Kopfkissen neben mir war einer von der Sorte, die ich in meiner realen Existenz niemals als Bettgenossen in Betracht gezogen hätte.
Sein Oberarm, muskulös und voller abstoßender Tätowierungen der Machoklasse, lag halb über meiner Brust und ich entzog mich ihm unendlich vorsichtig.
Er schlief allerdings so fest, dass er wahrscheinlich nicht mal aufgewacht wäre, wenn ich neben ihm eine Granate gezündet hätte.
Speichel rann aus seinem halbgeöffneten Mund und er schnarchte intensiv.

Schnell glitt ich aus dem Bett und sah mich nach meinen Kleidern um.
Verdammt, wie zu erwarten.
Was ich fand, waren die Utensilien einer Domina, Lederoberteil, kurzer schwarzer Lederrock , ein Minislip aus Lackleder und kniehohe schwarze Stiefel.
Gott sei Dank, diesmal keine High Heels.

Es half nichts, ich hatte nichts anderes zur Verfügung, wenn ich also nicht nackt diesen Ort verlassen wollte, musste ich das Zeug anziehen.
Ein schneller Blick aus dem Fenster. Ich befand mich mitten im Stadtkern.
Es war noch nicht ganz hell draußen. Wenn ich schnell handelte, konnte es mir gelingen, unentdeckt nach Hause zu kommen.
Mit spitzen Fingern zog ich die Klamotten an und öffnete leise die Zimmertür.
Ein Hotelflur, lang gestreckt und schwach beleuchtet.
Offensichtlich Teil einer herunter gekommenen Absteige, denn der Putz an den Wänden bröckelte schon und die rote Auslegware bestand aus abgetretenen Kokosmatten.

Ich schlich leise durch das düstere Treppenhaus, vorbei an einem schlafenden Portier.

Erst das dritte Taxi hielt an, ich sah wohl in meiner Montur nicht so aus, als sei ich zahlungskräftig genug befördert zu werden, wohin auch immer.
Als ich meine seriöse Wohngegend als Ziel angab, sah die Fahrerin mich dann auch mit skeptisch hochgezogenen Brauen an, enthielt sich dann aber jeglichen Kommentars.
Es gelang. Ich kam unbemerkt in meine Wohnung , warf die Ledersachen achtlos auf den Boden meines Kleiderschrankes und ließ danach das Badewasser ein.
Diese Nacht musste mich mehr mitgenommen haben als sonst,
denn ich entdeckte einige blaue Flecke an den Innenseiten meiner Schenkel.
Es hatte keinen Sinn, darüber zu grübeln, was passiert war. Wenn die Erinnerung kommen würde und das geschah weiß Gott nicht immer, dann würde noch Zeit genug sein, den Abscheu vor sich selbst zu kultivieren.
Sinn machte allerdings auch der nicht, denn ich hatte keine Möglichkeit, derartige Exzesse künftig zu vermeiden.

Es geschah...mit mir...durch mich...wie immer man es sah.
Im Moment wusste ich allerdings nicht, wie lange ich diesmal auf dem Domina-Trip gewesen war.
Wann hatte der letzte Switch in diese Existenz stattgefunden?
Und vor allem, was hatte ihn diesmal ausgelöst?
Erst vor drei Monaten hatte ich fluchtartig die Stadt, in der ich damals schon fünf Jahre lebte, bei Nacht und Nebel verlassen müssen, um mir woanders erneut eine Existenz aufzubauen.
Man hatte meine äußerst befremdlichen Personenwechsel im beruflichen Umfeld mitbekommen.
Ich flog auf, als ich einen meiner besten Kunden im Dominamilieu traf.
Ich hatte ihn bereits einer expliziten Behandlung unterzogen, ohne zu merken, dass wir einander bestens bekannt waren, weil ich ihm in meiner Hauptexistenz als Anlageberaterin zu einem ansehnlichen Gewinn
verholfen hatte.
Dergleichen geschah nicht zum ersten mal und auch diesmal hatte ich es vorgezogen, die Flucht zu ergreifen.
Es war unmöglich, normalen Mitbürgern erklären zu wollen, was ein Switcher war.

Es hatte immerhin Jahre der gezielten psychotherapeutischen Behandlung bedurft, eher mir die Grundzüge dieser psychischen Störung selber
deutlich wurden.
Und noch immer begriff ich nicht völlig, was mit mir geschah, wenn ich schlagartig „erwachte“ wie ich es nannte, und feststellen musste, dass mir bis zu drei Wochen in der Erinnerung verloren gegangen waren.
Ich wusste dann nicht, was sich in der verflossenen Zeit zugetragen hatte, was ich getan oder versäumt hatte.
Alle Verpflichtungen aus meiner Hauptexistenz waren nicht eingehalten worden, soviel war sicher.
Und ich hatte jeweils unendliche Mühe, die Personen , die von meiner Arbeit oder Pflichterfüllung abhängig waren, mit Ausreden voll zu müllen.
Es erwies sich daher oft als weniger schwierig, erneut auf die Wanderschaft zu gehen, neue Gefilde anzusteuern, ehe ich in den Geruch absoluter Unzuverlässigkeit geriet.
Es half mir nicht viel, dass die Psychotherapeuten mich als leichten Fall einer
MPS- Existenz einstuften. Es gab nur eine weitere Existenz neben meiner normalen Identität, während andere Switcher bis zu hundert Abspaltungen von ihrer Person erlebten.
Wie ein solches Leben aussehen mochte, das wagte ich mir nicht einmal vorzustellen.
Menschen die unter Multipler-Persönlichkeits-Störung litten, und von einer Sekunde zur anderen in eine dieser Nebenexistenzen hinein glitten ohne sich dagegen wehren zu können, waren trotz ihrer dauernden Multiexistenz die einsamsten Menschen dieser Erde.
Auch für mich war Domina Sarah nicht etwa jemand, der zu mir gehörte und den ich demzufolge als - wenn auch etwas außergewöhnlichen – Lebenspartner sah, sondern eine ewige Bedrohung meiner bürgerlichen Daseinsebene.

Als MPS-Patient befand man sich innerhalb eines lebenslang anhaltenden Fluchtmechanismus.
Sie ist mörderisch, diese ewige Verstellung, die Lügen, das Vertuschen, Leugnen.
Diese Situationen waren nicht zu vermeiden.
Es war nicht möglich einem mehr als befremdeten Mitarbeiter zu sagen, tut mir leid, ich war gerade für 2 Wochen eine Domina.
Ich hätte mich schneller in einer geschlossenen Abteilung wieder gefunden, als der Sieger der Formel EINS seine Champagnerflasche über dem Kopf seiner Konkurrenten entleeren kann.
Als Multiple lebt man in einer anhaltenden Stresssituation, seiner Umgebung Verlässlichkeit zu suggerieren, berechenbar zu erscheinen, obwohl man beides natürlich nie garantieren konnte, denn schon der
nächste Switch warf alle diesbezüglichen Absichten über den Haufen.
Eine normale Partnerschaft einzugehen wäre ein Abenteuer gewesen, das ich niemals überstehen konnte.
Sogar wenn es möglich gewesen wäre, einen verständnisvollen Mann zu finden, der sich aufklären ließ, es war einfach nicht zumutbar ihm
plötzlich erklären zu müssen, wieso man wichtige Absprachen plötzlich  nicht mehr erinnerte, weil es nicht das jetzige ICH war, mit dem er diese Vereinbarungen getroffen hatte.
Oder dass man ohne Übergang plötzlich zu einer Domina mutierte, die ihn, der an die sanfte Gefährtin gewöhnt war, die er erobern musste, kurzerhand in nie gekannte Perversionen zwang.
Wie sollte man alle diese Fallen vermeiden, wie den Horror unterdrücken, sich die Frage stellen zu müssen, was man selbst in der Zwischenzeit getan hat, als man gerade mal wieder nicht >da< war?

Es gibt sie nicht die Erinnerung an die andere Person.
Wenn man als Multiple Glück hat, weiß man irgendwann nach langen Jahren in denen man glaubte verrückt zu sein, dass es da eine zweite oder auch mehrere Personen gibt, die ebenfalls ICH sind.
Und das, obwohl sie weder im Charakter noch in der Mimik mit der Hauptperson identisch sind.
Die Organisation dieser multiplen Leben fordert alles an
Aufmerksamkeit, Vernebelung und Täuschung der Umwelt , das man aufbringen kann und wenn dann irgendwann einmal das Lügengebäude dennoch zusammenbricht, bleibt erneut nur noch die Flucht aus dem derzeitigen sozialen Umfeld.

Man lernt, das alles zu organisieren, aber man ist und bleibt einsam wie ein Stein.
Ich hätte keinen Lebenslauf verfassen können ohne zu verzweifeln.
Mir blieb nichts anderes übrig , als die in meiner Erinnerung fehlenden Zeitabschnitte zu erfinden.
Die Abspaltung war schon früh aufgetreten, zum ersten mal als ich zehn Jahre alt war.
Der erste Switch verlief noch wenig spektakulär.
Ich wechselte lediglich das Geschlecht. Aus Vera wurde Tom, ebenfalls zehn Jahre alt und Fußballspieler aus Leidenschaft.
Da ich in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche lebte, war das kein großes Problem.
Man war dort an die absonderlichsten Kinder gewöhnt, ich musste meine Abspaltung nicht einmal vertuschen.
Ich hatte keine Freunde dort die aufmerksam geworden wären und der Rest der Bewohner und Erzieher hielt mich ohnehin für schwer gestört.
Die Teilnahme an den Fußballspielen der Gruppe musste ich mir allerdings erkämpfen, was erst gelang, nachdem ich ohne Probleme alle Bälle hielt, die der Begabteste der Stürmer auf mich abschoss.
Lange hielt die Freude aber nicht an, denn niemand konnte vorhersagen, wann ich Vera war, die natürlich keine Ahnung vom Fußballspielen hatte und auch keine derartigen Neigungen erkennen ließ, und wann Tom.
Zum Eklat nebst Rausschmiss aus dem Team kam es , als ich als Tom im Tor stand und jäh ohne Ankündigung in die Existenz von Vera switchte, die vom Schuss der gegnerischen Mannschaft glatt aus dem Tor gefegt
wurde.
Meine Jugend war begleitet von Entsetzen über meine Absonderlichkeit und der Angst, sie nicht verbergen zu können.
Ich war Außenseiter und ich blieb es.
Irgendwann in dieser Zeit wurde ich dann einem Psychotherapeuten nach dem anderen vorgeführt.

Zusätzliches Leiden begann.
Die Diagnose * MPS* wurde erst sehr spät gestellt, fast zu spät für mich, denn in der Zwischenzeit war ich von einer geschlossenen Anstalt in die nächste überwiesen worden und wartete nur auf die Gelegenheit
entkommen zu können, um von der nächsten Talbrücke zu springen., denn ich war fest davon überzeugt verrückt zu sein.

Und dann traf ich Herlinde.

Eine Psychotherapeutin der ganz besonderen Art.
Wir näherten uns einander unendlich vorsichtig.
Ich war fest davon überzeugt, erneut eine dieser total uninformierten Pseudofachfrauen vor mir zu haben. Großkotzige Sprüche im Repertoire, aber überzeugt, einen Switcher könne man entweder nur mit geballter
Chemie behandeln, oder gar nicht, weil er sich seine Krankheit ohnehin nur einbilde.

Ich spulte wie immer in der Anamnese meine Geschichte herunter und sah sie spöttisch an, absolut sicher, dass sie nun lahm gelegt war, denn einen Switcher als Patienten hatten die meisten Therapeuten bis
dahin nie gehabt.
Nachdem ich geendet hatte, schwieg Herlinde kurze Zeit und sagte dann total unbeeindruckt: „ Eine gültige Diagnose können wir erst stellen, wenn ich Sarah kennen gelernt habe.“

„Sarah kennen lernen?“
Ich muss wohl etwas töricht ausgesehen haben, denn Herlinde lächelte leicht.
„ Natürlich, immerhin bist Du Sarah ebenso, wie Du Vera bist und wenn ich nicht Euch beide kenne, kann ich auch keine Therapie erstellen.
Vereinbare also mit Sarah, dass sie mich aufsuchen wird, dann sehen wir weiter.“

Das konnte nicht sein, endlich jemand, der mich nicht in den ersten fünf Minuten als besessen, irre, oder im günstigsten Fall als merkwürdig einstufte, sondern sich verhielt, als sei meine Krankheit eine ihr durchaus bekannte und vor allem behandelbare Geschichte.

Der erste Schritt war getan.
Was folgte war eine von Rückschlägen , Wutausbrüchen gegen Herlinde und mich selbst geprägte Zeit der unendlich mühsamen Identitätsfindung.

Herlinde zwang mich, einzusehen, dass eine hypnotische Rückführung in meine Kindheit absolut nötig wurde.
Auch wenn ich nicht einsehen wollte, dass schwere Kindheitstraumata die Ursache von MPS sind, denn immerhin erinnerte ich mich nicht daran, dass mir etwas so Entsetzliches widerfahren sein sollte, dass mein Bewusstsein und meine Seele gleichermaßen einen irreparablen Schaden erlitten hatten.

Gut, ich war eine Vollwaise. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen als ich drei Jahre alt war, ich erinnerte mich nicht mehr an sie.
Danach war ich - immerhin wie viele andere Waisen auch- in wechselnden Heimen und einmal wohl auch als Pflegekind irgendwo untergebracht gewesen, aber das war eine Zeit, die völlig ausgelöscht schien.
Ich wusste davon nur durch meine Heimunterlagen.

Hier setzte Herlinde an und führte mich per Hypnose zurück in das Alter von fünf Jahren.

Ich erwachte aus dieser Hypnose schreiend vor Entsetzen in den tröstenden Armen von Herlinde.
Das war unser erster Körperkontakt, sie hielt mich und summte leise tröstende Worte, während ihre Tränen in meinen Ausschnitt liefen.

Ich beruhigte mich nur langsam, klammerte mich an Herlinde fest, wie an einen Anker in tiefster Not, zitternd vor Erschöpfung und mit einem unerklärlichen Gefühl absoluter Panik.

„ Es ist vorbei es ist vorbei, niemand kann Dir je wieder so etwas antun,“ sagte Herlinde.

Sie versuchte, Haltung zu bewahren, denn wir wussten ja beide, dass sich eine Therapeutin niemals derart vom Leben und den Schmerzen ihrer Patientin beeinflussen lassen sollte, dass sie zur Mitleidenden wurde.
Aber diesmal schienen diese Grundsätze nicht zu gelten, Herlinde hatte sie aufgegeben und ist im Zusammenhang mit mir auch nie wieder auf Distanz gegangen.
Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon Freunde, ohne es ausgesprochen zu haben und alles was sich daraus ergab, entwickelte sich irgendwie folgerichtig.

Ich wusste nicht, was ich in der Hypnose preisgegeben hatte und Herlinde führte mich in mehreren Sitzung unendlich vorsichtig an die Schrecknisse von damals heran, bis ich in der Lage war, mich ohne Panikanfälle zu erinnern.

Schemenhaft zuerst, dann immer deutlicher.
Man zerrte mich als Vierjährige in ein düsteres Kellergewölbe, ich war böse hieß es, ich müsse bestraft werden.
Dann der Geruch von reifenden Äpfeln, ein Verschlag in dem auf drei Regalen übereinander Äpfel zum Nachreifen lagen. Sehen konnte ich sie nicht, es war stockdunkel, ich roch nur ihren intensiven Duft.

Und dann wurde der Deckel einer engen Kiste geöffnet und mir befohlen hinein zusteigen.
Wenn ich mich schreiend vor Angst weigerte, begann der Mann, der mich fast die Kellertreppe hinunter gestoßen hatte, mit seinem widerlichen Spiel.

Er flüsterte in mein Ohr....“ los geh schon, wenn du es nicht tust, spielen wir das Nacktspiel und du weißt, das tut dir doch immer weh.“

Ich schrie noch immer, aber...ich gehorchte und der Deckel der Kiste fiel knapp über meinem Gesicht mit einem hässlich knirschenden Geräusch herunter.
Er schloss von außen ab, ich war gefangen, unfähig mich zu drehen oder eine bequemere Stellung zu suchen. Allein in absoluter Dunkelheit und Kälte über viele Stunden, ich starb tausend Tode. Und über allem der Geruch reifer Äpfel.
Damals hat also begonnen, was heute noch andauert.
Die Diagnose MPS stand endlich zweifelsfrei fest.
Herlinde machte mich mit der einschlägigen Fachliteratur bekannt, die klärte, dass alle MPS’ler in allerfrühester Kindheit solche oder ähnliche Qualen durchlitten haben.
Entsetzliche Folter, die dann bewirke, dass das Gehirn, das nicht länger fähig sei, die Qualen zu verarbeiten, regelrecht abschaltete, das Bewusstsein schützte, in dem es Unerträgliches als nicht geschehen ausmerzte.
Sich in eine neue Existenz rettete, in der all das nicht geschah.

Diesmal würde mich also dieser heutige Rückfall in die Sarah-Existenz nicht zu einer neuerlichen Flucht veranlassen, endlich gab es jemanden, zu dem ich mich retten konnte.
Jetzt konnte ich Herlinde auch als Sarah aufsuchen und die beiden miteinander sprechen lassen, denn ich vertraute zum ersten mal in meinem Leben einem Menschen voll und ganz.

Herlinde, wie danke ich Dir. Du hast mein Leben gerettet und mehr als das.
Du hast mir geholfen, Irresein von einer Persönlichkeitsstörung unterscheiden zu lernen. Dein Wissen um die Zusammenhänge hat endlich einen vollwertigen Menschen aus mir gemacht, der sich akzeptieren kann wie er ist.
Und, Du hast mir geholfen, Sarah kennen zu lernen, sie als mein Zweites Ich wahrzunehmen und zu akzeptieren.

Wenn ich nun iabwesend bin, mich aber nicht erinnern kann, wo ich die Zeit verbrachte habe, wird das zumindest teilweise erhellt und wer weiß, irgendwann einmal wird Sarah mit deiner liebevollen
Unterstützung nur noch eine Erinnerung sein und nicht mehr bei jedem Duft reifender Äpfel auftauchen und mein Leben stehlen.
Meine Flucht ist beendet, ich fange an zu leben.


Julia (72)

"Ach komm, erzähl schon ," sagte Marlen und fügte dann
sarkastisch hinzu, mir kann man inzwischen sämtliche Geheimnisse anvertrauen, die Wahrscheinlichkeit, dass ich die mit ins Grab nehme liegen bei 99,9%," knurrte sie und hustete demonstrativ.

"Ich dachte, Du willst auf jeden Fall noch 15 Jahre leben bis zu Deinem Neunzigsten,“ sagte Julia mürrisch und dass Du jemals zu der Spezies gehört hättest, die schweigen kann wie ein Grab, das wäre mir auch neu."

"Mit anderen Worten, Du willst mich dumm sterben lassen," Marlen sah aus, als habe man sie gegen den Strich gebürstet.

Julia seufzte. " Wie könnte ich denn. Ich weiß zwar nicht welche abenteuerliche Erklärung Du erwartest, Ich war zwei Tage in Hamburg, das ist alles"

"Du reist nie, also muss dahinter ein Geheimnis stecken," Marlen gab nicht auf.

" Also gut," Julia resignierte, der Grund war der Mann meines Lebens."

"Was? Jürgen?

Der muss doch schon neunzig sein und so weit ich weiß, hast Du den in den vergangenen 25 Jahren kein einziges mal gesehen, geschweige denn mit ihm das Bett geteilt.
Oder gehört das auch zu den Ereignissen, die Du mir bisher verschwiegen hast?"

"Stimmt, es ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her, seit er mir unterjubelte, er gedenke nicht, mir den Hof zu machen und falls sich das je ändern sollte, werde er mich vorher schriftlich über seine Absichten in Kenntnis setzen."

Und? Sag bloß, das hat er jetzt getan?"

"Nicht ganz, er hat mir auf eine für ihn typische Weise Magenschmerzen bereitet.
Er wollte wohl von oben zuschauen , ob ich bereit bin, neben seiner versenkten Urne in die See zu kotzen und das weiß er jetzt, denn ich habe anlässlich seiner Seebestattung in Hamburg dann auch erwartungsgemäß dem Trauerredner auf die Schuhe gejöbelt.
Er muss sich in seinem ziselierten Behältnis köstlich amüsiert haben der verdammte Arsch."

"Was, der hat den Löffel abgegeben und Du sagst mir nichts?"

"Ich wusste, obwohl wir uns seit 25 Jahren weder gesehen noch gesprochen hatten, dass er seine Absicht, im Alter ein Haus an der See zu erwerben, um seine Manager-Magengeschwüre endlich einzudämmen, nicht umgesetzt hat.
Wir verändern wohl alle unsere Zukunftspläne wenn wir alt werden, denke ich, die Sicht wird eine andere, sie orientiert sich notgedrungen an der körperlichen Befindlichkeit, also wird auch er sich überlegt haben, dass ein Umzug sich nicht mehr lohnt, vielleicht
war erschon zu krank, ich weiß es nicht.
Aber dass er hartnäckig ist, davon kannst Du ausgehen, also hat es mich nicht allzu sehr gewundert, zu seiner Beisetzung eingeladen zu werden und…wie kanns anders sein, das war dann die besagte Seebestattung..
Das ist typisch für ihn und auch die Einladung wunderte mich nicht allzu sehr, er weiß, wie schnell ich seekrank werde, hat sich also auf die ihm genehme Art doch noch mit einem Schlag in meine Magengrube verabschiedet. Er wusste, ich würde es mir nicht nehmen lassen, bei
seinem Heimgang dabei zu sein. "Aber immerhin, ich habe ihn überlebt, diesen verdammten Sturkopf."

„Ja, haste, Marlen zögerte eine Sekunde und sagte, "womit dann hoffentlich die größte Hass-Liebe, der ich je zuschauen durfte, ein endgültiges Ende gefunden hat, es sei denn, er schwirrt hier noch als Geist herum und sorgt dafür, dass Du außer an ihn, auch weiterhin an
keinen anderen Mann je denken kannst. Hat er Dir wenigstens etwas vererbt, der war doch nicht unvermögend?"

"Er hat...alle Liebesbriefe aus 20 Jahren, er hatte sie alle aufbewahrt", sagte Julia leise und endlich flossen die Tränen. Tränen über vertane Zeit und den unüberwindlichen Stolz von zwei Menschen, denen es nicht gelungen war, über ihren Schatten zu springen.

"Erinnerungen sind wie Mondstrahlen, sagte mal jemand, wir machen mit ihnen was wir wollen, da kommt es nicht darauf an, ob die Dinge wirklich so gewesen sind, wie wir sie jetzt zu erinnern glauben.
Es ist wunderbar, sie sich zurecht zu träumen", Julia lächelte.


Alice (52)


Das Gesicht im Spiegel erfüllte an diesem Morgen alle Voraussetzungen, das Schlagwort burn out mit Leben zu erfüllen.
Vermutlich hatten die Gründe dafür in Jahrzehnten so schleichend gewirkt, dass es ihr einen echten Schock versetzte, sie an diesem regnerischen Morgen zum ersten mal so unübersehbar manifestiert zu sehen.
Die scharfen Linien rechts und links der gerade Nase wären ja noch mit etwas Geschick und gutem Make Up auszulöschen gewesen.
Aber der Querfalten auf der Stirn hätte sich schon ein begabtes Chirurgenteam annehmen müssen, so hart hatten sie sich eingegraben.

Für eine Rundumerneuerung wars zu spät, sie hatte noch genau 4 Stunden Zeit, aus diesem Gesicht, nein, aus dieser ganzen Gestalt, etwas Vorzeigbares zu zaubern.

Wiederum, warum sollte sie?

Klare Verhältnisse gleich zu Beginn dieses zweifelhaften Unternehmens zu schaffen, das konnte durchaus die bessere Strategie sein.
Wirklich?
Wann hätte es je ein männliches Wesen gegeben, das nicht sofort beim ersten Blick auf eine Frau innerhalb von Sekunden gedanklich auf "Top oder Flop" gesetzt hätte?

Und heute hatte sie die besten Aussichten, das Etikett Flop auf die Stirn gepappt zu kriegen, ohne sich über diese allzu harte Wertung aufregen zu können.
Das Einzige, das niemand beanstanden konnte, war dieser volle schöne Mund und die gute Arbeit eines talentierten Zahntechnikers.

Pahh, sollte sie etwa den ganzen Abend die Zähne blecken, damit er erst gar keine Zeit fand, den Rest kritisch zu betrachten?
Vielleicht liebte er mollige Frauen.
Schließlich war er Mitte fünfzig.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich noch nicht bis zu ihm rum gesprochen hatte, dass Frauen Ende vierzig zuweilen nur die Wahl zwischen unübersehbaren Rundungen oder knochigen Tatsachen hatten, war eher gering.

Es war ungerecht.
Die Dürren hatten immerhin noch die Chance, sich an den richtigen Stellen auszupolstern.
Einen etwas üppigen Busen zu kaschieren, war erheblich schwieriger und irgendwie schienen auch magere Hüften eleganter zu wirken, zumindest wenn deren Besitzerin sie aufreizend zu schwenken verstand.
Na ja, stattlich war wohl in ihrem Fall das zutreffendste Wort.
Korrekter als dick auf alle Fälle und wenn man nicht allzu kritisch war, ging sie durchaus als gut erhaltene Mittvierzigerin durch.
Wer war nur je auf die Idee gekommen, Blind Dates seien auch etwas für die gehobene Mittelklasse?
Musste man nicht in der Spät-Pubertät stecken geblieben sein, oder befürchten, man drifte in die Lebenstrivialität eines Fließbandarbeiters, so man sich nicht gelegentlich auf ein kleines Abenteuer einlasse.

Was war eigentlich gegen Trivialität einzuwenden?
Darüber würde sie sich ein andermal Gedanken machen, jetzt zählte nur noch die Entscheidung, aufbrezeln oder Natur pur.
Sie entschied sich innerhalb von Sekunden für dezente Eleganz ohne jeglichen Schnickschnack und ging auch äußerst sparsam mit dem Make Up um.
Das Ergebnis war durchaus befriedigend.

Na klar, vom Stuhl reißen würde sie wohl niemanden mehr.
Die Ära gehörte der Vergangenheit an und aus dem heutigen Abstand betrachtet, waren das auch verdammt unruhige Zeiten gewesen.
Der damalige Blickfang, das sanft gewellte rote Haar, das wie eine feurige Lohe das zarte Gesicht umgeben hatte, lag heute gebändigt wie eine glänzende Kappe um den schmalen Kopf.
Immer noch nicht unauffällig, aber am Schläfenansatz mischten sich längst einzelne graue Strähnen unter das dunkle Rot.
Immerhin, es schien Alice, als sei der Gesamteindruck im Spiegel der Schrankwand genau das, was jemand erwarten durfte, der sich selbst in vielen Briefen als durchschnittlich ansehnlich bezeichnet hatte.

Eine Aussage, die auch zu dem etwas verwischten Foto passte, das er ihr letzte Woche gesandt hatte und das jetzt auf dem Nachttisch lag.
Der Mann darauf, der etwas ernst in die Kamera schaute, schien das Hin und Her vor dem Spiegel mit aufmerksamen dunklen Augen zu verfolgen.
Zurückhaltend, fast distanziert sah er aus.

Grinsend dachte sie an die Begegnung der letzten Woche mit einem Schüchterling, die eigentlich nur zustande gekommen war, weil er ihr heiß begehrte Konzertkarten beschaffen wollte.
Mein Gott, war das Kerlchen verklemmt gewesen.
Auf ihre lockere Vorstellung „ Hallo, ich bin Alice“ hatte es ihm derart die Sprache verschlagen, dass er nur gestottert hatte,
„ich auch, nein Pardon, ich natürlich nicht, ich bin Rolf.“
Und dann hatte sie sich zwei anstrengende Stunden lang bemüht, ihm die Beklemmungen zu nehmen.
Nur um zum Schluss festzustellen, dass es nichts gab, wovor er keine Angst hatte.
Ein mühsames und aussichtsloses Unterfangen.
Ein Glück, er hatte wenigstens die Konzertkarten.
Mit dieser verhuschten männlichen Maus eine Bekanntschaft zu vertiefen, würde ihr höchstens zu Depressionen verhelfen, das lohnte sich nicht einmal um den Preis von Premierenkarten für " Die drei Tenöre."

Im Vorbeigehen nahm Alice die Fotografie hoch und drehte kurzerhand die Rückseite nach oben.
"Voyeur", murmelte sie belustigt.
Und dann zu sich selbst: "Dusslige Kuh, musst ja nicht müssen, sag doch ab."

Unsinn, genau das würde sie nicht tun, er konnte einfach kein Reinfall sein, nicht mit diesem umwerfenden Humor.
Schon der erste Kontakt war eine reine Lachnummer gewesen.
Sie hatte in der Newsgroup fast nebenbei erwähnt, dass sie sich beim nächtlichen Toilettengang im Dunkel blöderweise den kleinen Zeh am Bettpfosten gebrochen habe und nun leicht humpele.
Die Frozzelei der Teilnehmer ergab dann eine lustige Abfolge von Postings und dann meldete sich plötzlich jemand, der bisher in der NG noch nie in Erscheinung getreten war, mit einer heiteren kleinen
Philosophie über den gebrochenen Zeh.
 
Lutz hieß der Knabe und seine geschichtliche Zeh-Betrachtung löste wahre Lachstürme aus.
Beginnend bei den alten Griechen bis über die philosophischen Größen der Neuzeit schrieb er den Denkern der jeweiligen Zeit fiktive Sprüche über den Zeh zu und zum Schluss empfahl er ihr, vor dem Bett einen
Zehbrastreifen anzubringen und zur Vermeidung von Wiederholungen auf ein Gummibett zu setzen.

Lächelnd warf Alice einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, nahm fröhlich pfeifend ihr Cape vom Haken und machte sich auf, einen Mann zu treffen, von dem sie hoffte, er würde nicht nur ihr burn-out-syndrom auffangen, sondern ihr noch ein paar zusätzliche Lachfalten bescheren.



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(Nietzsche)
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