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AMOK!


 
 
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Tiberius
Geschlecht:männlichErklärbär
T

Alter: 49
Beiträge: 2
Wohnort: Düsseldorf


T
Beitrag07.06.2011 15:36
AMOK!
von Tiberius
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

habe ein altes Werk (1997) von mir wiederentdeckt:

-----------------------------------------

AMOK!


Die Menschen stießen sich wie jeden Morgen durch die überfüllte Bahnhofshalle. Ein Husten huschte vorbei, ein Keuchen, ein ernstes Starren, Trotten, ein finsteres Marschieren, Grinsen und dann und wann ein Schluchzen zogen unermüdlich durch die Massen.

Kurt hasste vor allem das Grinsen. An diesem Tag versuchte er es jedoch durch die Gewissheit seines kleinen Geheimnisses in der Manteltasche zu ertragen. Wie immer musste er auf dem Weg zur Arbeit seine Bahnhofshalle durchqueren, wie jeden Morgen die gewaltige Kulisse des Alltags über sich ergehen lassen. Bald darauf ins Freie tretend, den Tag mit der Aussicht beginnen, abends wie den Heimweg antreten zu müssen.

Unentwegt fluteten die Massen voran, und Kurt tauchte unbedacht in den Strom hinein, um sich mit ihm treiben zu lassen, um mit ihm zum anderen Ende der Bahnhofshalle zu schwimmen. Das Heulen der ankommenden Züge, das Zischen der kalten Bremsen, das Quietschen der sich öffnenden Türen, Drängeln, Stoßen, Schieben, Treten, Kämpfen um einen Sitzplatz, Wortfetzen über Krieg in Afrika, über die missratene Jugend, die anderen waren immer schuld! All dies gehörte zum täglichen Schauspiel des riesigen Bahnhofs.

An diesem Morgen jedoch war etwas anders, etwas stimmte nicht. Langsam, heimlich fingen die Menschen an, sich zu vermehren. Der Geräuschpegel erhöhte sich fast unmerklich, die Passanten erhöhten ihre Geschwindigkeit um wenige Schritte, halbe Schritte. Die Zeiger der großen, ewigen Bahnhofsuhr über der Anzeigetafel drehten sich um winzige Takte schneller, eine Zehntausendstel Sekunde schneller um ihre eigene Achse. All dies war nur für Menschen zu erkennen, die eine solch genial entwickelte Auffassungsgabe besaßen wie Kurt. Sein Beruf in der Klinik hatte ihn gelehrt, selbst die geringsten Veränderungen sofort zu diagnostizieren.

Die Vorbeiziehenden gingen noch schneller. Die Zahl der Schritte wurde nochmals erhöht. Kurt fragte sich, warum die Leute ihren gewohnten Gang auf einmal so beschleunigten. Wohin wollten sie denn? Immer rascher sah er neue Gesichter am Horizont auftauchen, um dann wieder im Nichts hinter ihm zu verschwinden. Immer eiliger versuchten die Leute, das andere Ende der Bahnhofshalle zu erreichen, immer flüchtiger erkannte er die Konturen der einzelnen Gestalten. Manche zogen Grimassen, manche huschten wie schleierhafte Silhouetten an ihm vorbei, manche stürzten sich in rasendem Tempo durch die Bahnhofshalle. Schneller!

Was wäre, wenn man die Türen, die Fenster, die Notausgänge, alle Lüftungsschächte, jeden Spalt und jede Fuge verschlösse? Wie lange würde der Sauerstoffvorrat noch reichen? Noch fünf Minuten? Noch zwei? Gar nur noch eine Minute? Könnte er den Eingang noch erreichen? Was wenn er verbarrikadiert wäre? Warum grinsten ihn diese ruhelosen, hässlichen Gestalten nur so an? Warum stellten ihm alle solch fürchterliche Fratzen? Die Vorbeirasenden verschwammen immer weiter zu einer einheitlichen Masse aus Dreiecken, Quadraten, Kuben und Linien, die unbarmherzig an ihm vorbeijagten, ihn verfolgten, ihn zum gehetzten Kakerlak einer umtriebenen Meute machten. Der Schweiß perlte von seiner Stirn, drang ihm in die Augen. Das Blut in seinen Adern loderte, pulsierte in mächtigen Strömen durch seinen Körper. Lichterloh brannte sein Atem in der Kälte der Bahnhofsluft. Die Hitze, das Fieber trieb ihn vorwärts, stürzend durch die Menge, kein Halt. Kurt wollte schreien. Er hatte Angst. Immer weiter irrte er durch dieses endlose Labyrinth, immer tiefer in diesen abscheulichen, dunklen Dschungel. Er weinte, wollte fliehen. Sollte er sich hinter einem Fahrkartenautomaten verstecken, irgendwo verkriechen und warten bis alle vorbei war? Wann war alles vorbei? Er rannte um sein Leben, stieß wie ein enthaupteter Hahn durch das wilde Treiben, blieb stehen, rannte weiter, wollte nicht mehr leben. Kurt biss sich in seinen Handrücken, schwitzte, schwitzte immer mehr, öffnete seine Augen und bemerkte, dass er inmitten der Menschenmenge auf die Knie gefallen war.

Auf einmal erfasste ihn eine unmenschliche Ruhe, eine stählerne Kühle durchrann seinen Körper, eine unsagbare Stille duchhallte den Raum. Kurt spürte das langsame Pochen seines erkaltenden Herzens, das wie ein furchtloser Eiskristall inmitten eines maschinenhaften Körpers ruhte. Seine blauen Finger überlegten nicht mehr. Sie griffen in die Innentasche seines Mantels, und er schoss wahllos in die Menge.

Irgendwann sackte Kurt zusammen. Getroffen von der Kugel des Polizisten, wich seine Kraft in leisen Schüben aus seinen Bahnen. Müde wurden seine Glieder, und die Schläfrigkeit durchfloss die Muskeln seines Körpers. Er legte sich hin, die große Kälte des Bodens umschlang seinen Körper, und die übrig gebliebenen Gedanken verblassten im Schimmer der Bahnhofshalle.

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Fraîche
Gänsefüßchen
F


Beiträge: 40



F
Beitrag20.08.2011 19:04

von Fraîche
Antworten mit Zitat

hallo Tiberius,
dein text gefällt mir wirklich gut.
der amokläufers sieht die menschen immer aufgeregter werden, hasten, fliehen, ihn anstarren, in seiner vorstellung, obwohl jene von seinem vorhaben noch gar nichts wissen können. die spannung der geschichte wird durch seine eigene vorstellung immer mehr aufgebaut, auch durch seine eigene befindlichkeit.
es kommt dadurch auch gleichzeitig immer mehr lesegeschwindigkeit in den text und man ahnt jetzt muss eine explosion kommen.
erst fiebert er, dann folgt sein eiskaltes durchstarten.
warum er das tut wird nicht so offen ersichtlich, aber ich nehme an, dass war auch nicht bezweckt.
gut gefällt mir, wenn nicht lebendiges personifiziert und tätig wird, wie z.B. die substantivierten verben: der Husten huschte...; Keuchen, Starren, Trotten, Schluchzen zogen... - das macht deinen text auch lebendig und flüssig.
schade nur der titel! man weiß schon durch die ersten vier buchstaben, worum es geht!  
kürzlich las ich das jugendbuch Heldenspiel von Paro Anand. dort geht es  um terrorismus. es vermittelt einen mehrperspektivischen einblick und eine möglichkeit, das denken und handeln dieser gewalttäter und seiner mitmenschen nachzuempfinden. kann ich dir empfehlen zu lesen.  
bis bald
ciao
Fraîche
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