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Romanfragment: "Männlein"


 
 
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sander
Geschlecht:männlichSchneckenpost


Beiträge: 9



Beitrag14.03.2011 18:50
Romanfragment: "Männlein"
von sander
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Hier kommt der erste Teil des Kapitels "Der Eismann" aus einem Roman "Männlein", an dem ich im Moment arbeite. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen im Berlin der frühen Sechziger Jahre.

Der Eismann

Er lauscht dem gleichmäßigen Ticken des Weckers auf dem Nachtschränkchen. Die blauen Gardinen sind zugezogen, aber diffuses Tageslicht dringt durch die Lücken und taucht das Elternschlafzimmer in seltsam gestreiftes Zwielicht. Immer wieder geht sein Blick zur Holzmaserung der Kleiderschrank-Türen hinüber: Je länger er dorthin starrt, desto mehr verwandeln sich die gebogenen und gewundenen Linien mit den Astlöchern dazwischen zu unheimlichen Gesichtern und Tiergestalten. Er kann so lange dort hinein starren, bis die Tiere und Gesichter lebendig werden und anfangen, sich zu bewegen. Das fasziniert ihn erst, dann wird es ihm unheimlich, so dass er seinen Kopf abwendet und die Augen fest zudrückt. Aber es bleibt das Gefühl, dass diese Gesichter und Gestalten ihn ansehen und beobachten, ja es scheint ihm, als würden sie seine Blicke einsaugen und er hat Angst, er könne den Blick nicht mehr von ihnen abwenden.

Leise und vorsichtig gleitet er aus dem großen Doppelbett der Eltern und schleicht sich barfuß zur Tür, die nur angelehnt ist. Er mag keine verschlossenen Türen, nachts nicht und auch mittags im Elternschlafzimmer nicht. Vorsichtig tappst er barfuß durch den halb dunklen Flur zur Küche, um sich dort etwas zu trinken zu holen. Die Dielen knarren, ansonsten ist das Haus still. Auf dem Küchentisch steht die große Glaskaraffe mit dem selbstgemachten Holundersaft, von dem man immer eine ganz farbige Schnute und Zunge bekommt. Der dunkle Saft funkelt ihn an. Er kommt nicht so gut an die schwere Karaffe heran und klettert auf die Küchentruhe, um ein wenig Holundersaft in das große Glas zu kippen, ganz vorsichtig, damit nichts kleckert. Dann klettert er wieder herunter und geht zum Spülstein, um den dicken, süßen Saft mit Wasser zu verdünnen, wie die Mutter es immer getan hatte. Er dreht den Wasserhahn stark auf, so bekommt er sogar Schaum auf den Saft. Er musste bloß aufpassen, dass der Saft nicht überläuft. Der Saft schimmert dunkel und geheimnisvoll. Er leert das Glas in einem langen Zug. Köstlich!

Als er zurück zum Flur schleicht, hört er es. Er bleibt stehen und lauscht, wo es herkommt. Auf Zehenspitzen tappst er zur Wohnzimmertür. Sie ist nur angelehnt. Er schiebt sie sachte auf, auch das Wohnzimmer ist leer. So leer, dass ihm das Ticken der Wanduhr viel lauter erscheint als sonst. Auf dem großen runden Esstisch steht eine große Vase mit traurigen Rosen. Er weiß nicht genau, was er tun soll und läuft erst einmal um den runden Tisch herum, so wie früher, wenn die Kinder „Peter und der Wolf“ hörten und dabei um den Tisch stolzierten wie Peter, mühsam hinkten wie der Großvater, watschelten wie die Ente oder leise schlichen wie die Katze.

Da ist es wieder, jetzt hört er es laut und deutlich. Es kommt aus dem Arbeitszimmer des Vaters. Ein Schluchzen, unterbrochen vom Naseputzen. Er schleicht zur Tür des Arbeitszimmers. Sie ist geschlossen. Jetzt setzt das Schluchzen wieder ein und geht in ein Weinen über, das überhaupt nicht mehr aufhören will und das ihn so traurig macht, dass er immer wieder schlucken muss. Wer war das? Der Vater? Aber der weint doch nicht, oder? Die Stimme klingt fremd, nicht wie die gewohnte Stimme des Vaters, tief und sanft und beruhigend, abends, wenn er eine Geschichte vorliest. Klingt es so, wenn der Vater weint? Unschlüssig steht er vor der Tür zum Arbeitszimmer und horcht. Die rechte Hand hat er schon auf der Klinke, aber er zögert. Er nimmt die Hand wieder fort. Der Kloß im Hals wird immer größer. Das Schluchzen hört nicht auf, aber es soll bitte endlich aufhören. Er traut sich nicht hineinzugehen. Er hat Angst vor dieser Stimme, vor dieser Traurigkeit. Er hat Angst, fortgeschwemmt zu werden von diesem Weinen.

Er schleicht zurück und zieht die Wohnzimmertür hinter sich zu, aber das Schluchzen bleibt in seinem Ohr und verfolgt ihn bis ins Elternschlafzimmer. Nein, hier kann er gar nicht bleiben, er geht wieder hinaus auf den Flur und zur Toilette und er drückt immer wieder auf den silbernen Spülknopf, damit die laute Wasserspülung das Schluchzen in seinem Ohr übertönt. Dann läuft er zur Garderobe, zieht sich seine Schuhe und seine dunkelblaue warme Wolljacke an, den „Schweinebraten“, den er von der Großmutter zu Weihnachten bekommen hat, und geht hinaus. Er macht die Wohnungstür mit dem Briefschlitz leise hinter sich zu und tritt auf den Hausflur hinaus, geht die Steintreppe nach unten und stemmt sich gegen die schwere Haustür, um hinaus zu kommen an die frische Luft. Er hört die Krähen krächzen im großen Baum am Spielplatz, er hört ein Flugzeug in der Luft im Landeanflug auf den Tegeler Flughafen und läuft schnell auf die Straße, um es besser sehen zu können: eine dicke Propellermaschine der PAN AM donnert wie ein großer, silberner Vogel über die Häuser hinweg.

Er geht zwar noch nicht zur Schule, aber lesen kann er schon. Mit den großen Buchstaben auf Schildern und Plakaten, auf Verpackungen und Flaschen hat es angefangen: AEG - die Fabrik direkt gegenüber auf der Baseler Straße, RAMA Margarine, ONKO Kaffee, BLUNA Limonade. Selbst schwierige Namen wie GRIENEISEN Bestattungen oder FLORIDA BOY Orangensaft sind für ihn inzwischen ein Kinderspiel, er erkennt sie sofort. Er braucht gar nicht mehr Buchstaben für Buchstaben zu entziffern. Bei kleinen Lettern und Schreibschrift muss er noch überlegen, aber den Geheimcode der großen Buchstaben hat er längst geknackt. Er holt seinen grünen Roller aus dem Unterstand hinter dem Haus und rollert los, die Baseler Straße hinunter, dann links am kleinen Eckladen in den Grindelwaldweg und hinüber zur Aroser Allee. Die ist stark befahren, man muss gut aufpassen und gucken, ehe man sie überquert, sie hat aber einen schönen breiten Grünstreifen in der Mitte, auf dem man prima und ungestört Roller fahren kann Man muss bloß achtgeben, dass man nicht in einen Hundehaufen fährt, auf dem Mittelstreifen werden nämlich gerne die Hunde ausgeführt.

Da kommt schon der gelbe Doppeldeckerbus mit der Nummer 12: DOORNKAT steht in großen Buchstaben auf der Seite und ein dicker Mann ist abgebildet, der ein kleines Glas in die Höhe hält. Doornkat muss also irgend etwas zu trinken sein, irgend etwas Leckeres, nach dem Gesichtsausdruck des dicken Mannes zu urteilen. Männlein rollert und probiert immer wieder die totschicke Trittbremse aus: Wenn er sie mit der Hacke herunter tritt, stoppt der Roller sofort. Er hat ihn zum Geburtstag bekommen und sich riesig gefreut. Es ist wirklich ein Superroller: außer der Trittbremse gibt es noch eine durchdringende Klingel und als I-Tüpfelchen ein in Plastik geschweißtes Fähnchen hinten am Gepäckträger, rot und weiß, mit dem Berliner Bären.

Er beobachtet einen Eiswagen, der große Eisblöcke aus der Eisfabrik Mudrack am Schäfersee in die Häuser bringt. In den meisten Haushalten gibt es noch keine Kühlschränke, sondern große Holztruhen in der Küche, ausgekleidet mit Zinkblech, dort hinein wird der Eisblock gelegt und hält dann ein paar Tage die Lebensmittel kühl. Er sieht, wie der Kleinlaster mit den drei Rädern in den Grindelwaldweg einbiegt und beeilt sich, über die Aroser Allee zu kommen, um dem Eiswagen zu folgen, denn er weiß, dass er danach die Baseler Straße entlang fahren würde. Er hat einmal beobachtet, wie solch ein Dreirad-Kleinlaster in der Kurve umgekippt war. Der Fahrer ist herausgeklettert, hat gelacht und zusammen mit zwei Passanten das ganze Ding einfach wieder auf die drei Räder gestellt. Danach ist er mit viel „töff töff“ und „täng täng“ hupend und winkend weitergefahren.

Männlein überholt mit seinem Roller auf dem Bürgersteig des Grindelwaldwegs den Eiswagen und biegt in die Baseler Straße ein. Dort wartet er ab, wohin der Laster fahren wird. Es dauert etwas, weil der Fahrer in manche Häuser mehrere Eisblöcke liefert, manchmal muss er auch mehrere Treppen hoch. Doch dann biegt der Eiswagen tatsächlich in die Baseler Straße ein und fährt geradewegs zum Tor des Gemeindehauses. Männlein wirft den Roller in die Ecke, rennt zur Haustür, stemmt sich dagegen, flitzt die Treppen hoch zur Wohnungstür, klingelt Sturm und ruft durch die Briefkastenklappe: „Der Eismann kommt!“[/b]

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Mardii
Stiefmütterle

Alter: 64
Beiträge: 1774



Beitrag16.03.2011 01:24

von Mardii
Antworten mit Zitat

Hallo sander,

eine rund geschriebene Geschichte, der ich gut folgen konnte, hast du hier gepostet. Die Sicht des kleinen Jungen und die Atmosphäre der 60er sind klasse eingefangen. Amüsiert hat mich die Geschichte mit dem Eiswagen, wie ihn Männlein mit seinem Roller überholt und dann in den heimischen Briefkasten ruft. Man kann seinen Eifer gut nachvollziehen: Er möchte den schluchzenden Vater im Wohnzimmer ablenken.

Ein paar Unebenheiten sind mir aufgefallen:
Zitat:

Leise und vorsichtig gleitet er aus dem großen Doppelbett der Eltern und schleicht sich barfuß zur Tür, die nur angelehnt ist.


Leise und vorsichtig sind redundant in diesem Zusammenhang.

Zitat:
Als er zurück zum Flur schleicht, hört er es. Er bleibt stehen und lauscht, wo es herkommt. Auf Zehenspitzen tappst er zur Wohnzimmertür. Sie ist nur angelehnt. Er schiebt sie sachte auf, auch das Wohnzimmer ist leer. So leer, dass ihm das Ticken der Wanduhr viel lauter erscheint als sonst. Auf dem großen runden Esstisch steht eine große Vase mit traurigen Rosen. Er weiß nicht genau, was er tun soll und läuft erst einmal um den runden Tisch herum, so wie früher, wenn die Kinder „Peter und der Wolf“ hörten und dabei um den Tisch stolzierten wie Peter, mühsam hinkten wie der Großvater, watschelten wie die Ente oder leise schlichen wie die Katze.


Hier müsstest du zu Beginn schon mal erwähnen was er hört, sonst überfliegt der Leser den Abschnitt.
Zitat:

 Jetzt setzt das Schluchzen wieder ein und geht in ein Weinen über, das überhaupt nicht mehr aufhören will und das ihn so traurig macht, dass er immer wieder schlucken muss.


Ein Komma statt dem ersten „und“.
Zitat:

Nein, hier kann er gar nicht bleiben, er geht wieder hinaus auf den Flur und zur Toilette und er drückt immer wieder auf den silbernen Spülknopf, damit die laute Wasserspülung das Schluchzen in seinem Ohr übertönt.


Wieder ein „und“ zu viel.
Zitat:

er hört ein Flugzeug in der Luft im Landeanflug auf den Tegeler Flughafen


Er sieht das Flugzeug nicht, deshalb kann er nicht wissen, dass es im Landeanflug ist.

Soviel von mir.

Grüße von Mardii


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Ridickully
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Harald
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Beitrag16.03.2011 01:48

von Harald
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Mardii hat Folgendes geschrieben:

Er sieht das Flugzeug nicht, deshalb kann er nicht wissen, dass es im Landeanflug ist.


Hallo Mardii, bis auf dies ist alles richtig, aber bei Propellermaschinen sowieso, bei Düsenflugzeugen auch, ist der Ton eines startenden und eines landenden Flugzeuges sehr unterschiedlich, man hört tatsächlich, ob der Flieger in der Startphase oder im Landanflug ist, da braucht es keinen Blick nach oben!

LG

Harald


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Harald

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Mardii
Stiefmütterle

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Beitrag16.03.2011 02:28

von Mardii
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Aha, alles klar.

Und das Männlein weiß das dann auch, weil es ihm sein Vater natürlich erklärt hat.

Grüße von Mardii


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Gast







Beitrag16.03.2011 09:47

von Gast
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Hallo,

Wirklich gut geschrieben, Fluss, Melodie und Rhythmik in der Sprache...
Ermuntert einen zum Weiterlesen. Schön.


Gruß,

mryello
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sander
Geschlecht:männlichSchneckenpost


Beiträge: 9



Beitrag16.03.2011 09:48

von sander
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hallo mardii,
vielen dank für deine positive rückmeldung und die kleinen sprachlichen details, in denen der teufel steckt. das sind die dinge, die man selbst meistens überliest. danke auch an harald. wie hat dir die geschichte gefallen?

was mich noch interessieren würde, wäre, ob diese 60er-jahre-geschichte auch etwas für leute sein könnte, die damals noch nicht geboren waren, oder ob der reiz hauptsächlich im wiedererkennen von details und atmosphäre einer vergangenen zeit besteht.
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sander
Geschlecht:männlichSchneckenpost


Beiträge: 9



Beitrag16.03.2011 09:54

von sander
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danke auch an mryello, das macht mir mut.
das mit dem flugzeuggeräusch hatte übrigens einen ganz einfachen grund: es waren immer die landenden flugzeuge, die über das haus wegdonnerten.
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klausge
Geschlecht:männlichGänsefüßchen


Beiträge: 42



Beitrag16.03.2011 15:41

von klausge
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Hallo sander,

Der Anfang mit dem Holz und den Tiergestalten kann ich persönlich sehr gut nachvollziehen. Hatte auch solche Vorstellungen. Mir gefällt die Geschichte gut. Sie ist flüssig geschrieben, und man kann sich gut in die Rolle des Männleins hineindenken.

Besonders gut, hat mir folgends gefallen:
Auf Zehenspitzen tappst er zur Wohnzimmertür. Sie ist nur angelehnt. Er schiebt sie sachte auf, auch das Wohnzimmer ist leer. So leer, dass ihm das Ticken der Wanduhr viel lauter erscheint als sonst. Auf dem großen runden Esstisch steht eine große Vase mit traurigen Rosen.
Dabei speziell die traurigen Rosen.
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sander
Geschlecht:männlichSchneckenpost


Beiträge: 9



Beitrag16.03.2011 19:38

von sander
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danke für die blumen, klausge.
das mit den traurigen rosen oder dem ticken in der stille sind bilder im kopf, die einfach rausmüssen - gesungen, gemalt, geschrieben. und es freut mich sehr, wenn sie ankommen.
grüße von
sander
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sander
Geschlecht:männlichSchneckenpost


Beiträge: 9



Beitrag20.03.2011 15:30

von sander
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Fortsetzung des Kapitels "Der Eismann"
aus dem Romanfragment "Männlein"

Er hört, wie der Vater den Flur entlang kommt, rasch, aber mit schweren Schritten. Der öffnet die Tür, sieht ihn erstaunt an und fragt: „Männlein, wo kommst du denn her? Ich dachte, du machst Mittagsschlaf?“ „Ich konnte nicht schlafen und dann hab ich den Eismann gehört!“ Der Vater guckt ihm prüfend ins Gesicht, gibt ihm einen leichten Klaps auf den Po und sagt: „Schnell, lauf in die Küche und klapp die Eistruhe schon mal auf!“ In diesem Moment kommt der Eismann mit seiner Lederschürze schon die Treppe hoch, das Eis hält er an einem Metallhaken. Männlein beobachtet genau, wie er den Block in das Zinkgehäuse legt. Als der Mann wieder gegangen ist, fragte er: „Wo ist denn eigentlich das alte Eis geblieben?“
Der Vater klappt die Truhe wieder zu und beugt sich hinunter: „Guck mal, hier unten ist eine Öffnung, da fließt das geschmolzene Eis ab. Deshalb steht da auch immer eine Emailleschüssel drunter, damit es keine Überschwemmung gibt in der Küche.“ Er nimmt die Schüssel hoch und zeigt sie ihm: „Schau mal, ein wenig Wasser ist noch drin, das kannst du im Spülstein ausgießen!“

Männlein trägt die Schüssel vorsichtig zur Spüle und tunkt, bevor er das Wasser ausgießt, seine Finger hinein. „Es ist gar kein Eiswasser mehr!“ Der Vater lacht: „Nein, es ist ja schon geschmolzen!“ „Kann man es wieder zu Eis verwandeln?“ „Ja, im Winter, wenn du es da vors Fenster stellst, dann wird es wieder zu Eis!“ „Im Sommer nicht?“ „Nein, da ist es draußen zu warm.“  Männlein denkt intensiv nach, dabei wickelt er seinen Zeigefinger in eine seiner vielen blonden Locken ein. „Aber wie macht das dann der Eismann im Sommer?“ „Ja, das ist eine gute Frage“ murmelt der Vater und winkt Männlein, ihm aus der Küche in sein Arbeitszimmer zu folgen.

Jetzt ist die Tür offen und der Junge schaut sich scheu um, als erwarte er, dass hier irgendwo noch die Person sei, die vorhin so geweint hat. Er kann aber nichts Auffälliges entdecken. Vaters dunkelbrauner Schreibtischstuhl mit dem geschnitzten Löwenkopf ist leer, der Sessel und das Chaiselong gegenüber ebenfalls, darauf liegt nur eine hingeworfene Wolldecke. Vater macht immer Mittagsschlaf in seinem Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch steht ein großer Aschenbecher mit einer halb gerauchten Zigarre darin. Männlein kennt die Marke, die rote Banderole ist noch dran: HANDELSGOLD. Er hat vor längerer Zeit einmal heimlich probiert, wie solch ein Zigarrenstummel schmeckt. Da er das große Tischfeuerzeug seines Vaters nicht bedienen konnte, hat er den Stummel gegessen. Oder angefangen zu essen: Ihm ist so übel geworden, dass er schnell auf dem Klo verschwand und dort die eklige braune Brühe ausspuckte. Noch einen Tag später hat er Durchfall gehabt, die Mutter fragte ihn aus, ob er ungewaschenes Obst gegessen und womöglich dazu noch Leitungswasser getrunken hätte. Von der Zigarre erzählte er lieber nichts.

Jetzt stopft sich der Vater eine Pfeife. Das macht er immer nachmittags und Männlein freut sich, denn er riecht den würzig-süßlichen Duft des dänischen Pfeifentabaks, der durch die Tür des Arbeitszimmers manchmal bis ins Wohnzimmer dringt, sehr gerne - ganz im Gegensatz zum herben Geruch kalter Handelsgold-Zigarren, von denen er ja nun auch weiß, wie sie schmecken: scheußlich! Er überlegt kurz, ob er den Vater fragen soll, wer da geweint hat, verlegt sich dann aber lieber darauf, mit Vaters Briefwaage zu spielen: Er probiert aus, wie weit die beiden Gewichte auseinandergehen, wenn er oben auf die goldglänzende Messingschale verschiedene Dinge legt: den großen Radiergummi, Vaters Füller, den Löschstempel, eine Büroklammer. Beim Tischfeuerzeug gehen die Gewichte ganz in die Knie und der Vater brummt mit der Pfeife im Mund: „Männlein, spiel nicht mit dem Feuerzeug. Du weißt doch: Messer, Gabel, Schere, Licht ...“ -
„ ... sind für kleine Kinder - doch!“ ergänzt Männlein und schaut schnippisch durch seine Locken hindurch zum Vater, der schmunzelt.

„Du wolltest wissen, wie das ist mit dem Eis im Sommer. Du weißt, wo die Eisfabrik ist?“
„Ja, ich war schon da mit den Kindern vom Eisbärenweg. Wir spielen da manchmal Verstecken.“
„Aber ihr dürft nicht auf das Gelände der Fabrik, das ist verboten!“
„Es ist auch ein bisschen unheimlich da, so dunkel. Ich spiel lieber am Eisbärenweg!“
„Das ist auch besser so. Die Fabrik hatte früher ganz viele Teiche, in denen das Eis im Winter herausgebrochen wurde. Heute stellen sie das Eis künstlich her, mit großen Maschinen. Und dann wird es in großen, dunklen Lagerhallen aufbewahrt, wo es immer dunkel und kalt bleibt. Deshalb kommt dir das Gelände so düster vor.“

Männlein schaut den Vater an und verzwirbelt dabei wieder eine Locke in seinem Finger. „Gab es denn da früher auch Eisbären?“ - „Wieso denn das?“ - „Im Eisbärenweg, mein ich.“
„Nein, nein,“ lacht der Vater und stößt kleine Rauchwölkchen aus „so heißt bloß die Straße, vielleicht weil sie dicht an der Eisfabrik liegt.“ - „Aber es gibt da Eisbären!“ Männlein guckt schelmisch seinen Vater an, als habe er ihm ein Rätsel aufgegeben.
„Tatsächlich? Hast du mal einen gesehen dort?“
„Ja! Ganz viele!“
„Jetzt willst du mir aber einen Bären aufbinden, Männlein. Du flunkerst!“
„Nein, ganz bestimmt! Aber sie bewegen sich nicht!“
„Ach, sie bewegen sich nicht. Dann sind sie wohl auch durchsichtig?“
„Nein, sie sind doch aus Stein!“

Der Vater schlägt sich mit der Hand an die Stirn und lacht: „Jetzt weiß ich, welche Eisbären du meinst. Die steinernen Bären an den Hauseingängen im Eisbärenweg! Dass ich darauf nicht gekommen bin!“
„Genau! Und jeder guckt anders! - Nur der Hausmeister ist böse!“
„Der Hausmeister? Was hast du denn mit dem Hausmeister zu tun?“
„Immer wenn wir da Fangen spielen oder Verstecken, kommt der raus und schimpft ganz laut!“
„Warum denn?“
„Weil der böse ist. Der hat eine Glatze und hinten am Hals hat der zwei Knicke in der Haut! Und dann rennen alle Kinder um den Block, und der Hausmeister rennt hinterher!“
„Warum ist er denn so böse?“
„Der will nicht, dass wir da spielen! Auf dem Rasen steht doch: SPIELEN VERBOTEN!“
„Das kannst du schon lesen? Ich glaube, du musst dringend zur Schule!“

Der Vater klopft seine Pfeife im Aschenbecher aus und schickt Männlein zur Wohnungstür, weil es geklingelt hat. Der flitzt wie ein geölter Blitz durch Wohnzimmer und Flur zur Tür und sieht, wie der Briefschlitz sich öffnet und eine Zeitung hindurch geschoben wird. Die bringt er dem Vater schnell ins Arbeitszimmer.
„Männlein, morgen früh fliegst du nach Hannover! Dort holt dich Tante Christel ab und fährt dann mit dir zusammen in den Urlaub! Freust du dich schon?“
Der Junge zieht die Nase kraus und guckt seinem Vater ins Gesicht:
„Kannst du nicht mitfahren?“
„Leider nicht, ich muss arbeiten. Aber ich bringe dich zum Flughafen und gebe dich dort bei der netten Stewardess ab!“
„Kennst du die?“
„Nein, aber die ist bestimmt nett, du wirst schon sehen!“
„Pan Am?“
„Pan Am!“
„Winkst du mir, wenn ich über’s Haus fliege?“
„Dann bin ich ja noch gar nicht wieder zu Hause! Wenn ich wieder mit dem Bus zurück bin, bist du schon in Hannover gelandet!“
„Großmutter hat gesagt, sie winkt mir, wenn ich über ihr Haus fliege!“
„Das macht sie bestimmt! Aber ich bin nicht sicher, dass du sie erkennen wirst. Alle Häuser und Straßen und Leute sind nämlich so klein wie Stecknadeln, wenn man dort oben im Flugzeug sitzt!“

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