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jim-knopf Dichter und Trinker
Alter: 35 Beiträge: 3974 Wohnort: München
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24.11.2010 11:35 wintermärchen von jim-knopf
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den pool haben sie schon im september abgedeckt
neben der plane sitzt ein betrunkenes mädchen
in der einen hand eine flasche weißwein
mit der anderen kratzt sie sich schreiend
sommersproßen aus dem gesicht
der winter kommt
aus den eingeweiden des flachbildfernsehers
und aus dem wetterbericht im radio:
bei schneetreiben auf der A9 ist der kopf eines geisterfahrers
beim frontalzusammenprall mit einem lieferwagen
auf der heckscheibe zerplatzt und als sie ihn
aus dem wagen holten (wie man eingebrannte essensreste
von einer herdplatte kratzt) baumelte
ihm die seele aus dem kopf heraus
während die jalousie herunter fahren
kauft nicht bei juden schreibe ich
mit edding an die wand neben dem kühlschank und so ähnlich
meine ich es auch
Weitere Werke von jim-knopf:
_________________ Ich habe heute leider keine Signatur für dich. |
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Sternenfänger Gänsefüßchen
Alter: 46 Beiträge: 48
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24.11.2010 22:11
von Sternenfänger
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Hallo jim-knopf,
ich bin neu hier, habe noch keinen Namen und folglich einen selbigen nicht zu verlieren... ich versuche mich an der Interpretation deines Werkes!
Zitat: |
neben der plane sitzt ein betrunkenes mädchen
in der einen hand eine flasche weißwein
mit der anderen kratzt sie sich schreiend
sommersproßen aus dem gesicht
der winter kommt |
Ich verstehe es so, dass für "das mädchen" der Sommer des Lebens vorüber ist. "das mädchen" bedeutet für mich in diesem Sinne ganz allgemein "Frau".
Zitat: | den pool haben sie schon im september abgedeckt |
"Frau" ist gemäß gesellschaftlicher Meinung nicht mehr attraktiv; um es werbeorientiert zu sagen: Sie gehört nicht mehr zur Zielgruppe.
Der kommende Winter ist hier nicht das von "Frau" empfundene Altwerden sondern das ihr aufobtruierte.
Ihre Sommersprossen sind Zeichen ihres Immer-noch-jung-seins. Nach der allgemeinen Meinung passen sie nun nicht mehr zu ihrem Alter - sie passt sich dieser an und kratzt sich die Sommersprossen aus!
- wann und wie lange ist man tatsächlich jung? solange man seine Sommersprossen wie selbstverständlich akzeptiert? -
Zitat: | der winter kommt
aus den eingeweiden des flachbildfernsehers
und aus dem wetterbericht im radio:
bei schneetreiben auf der A9 ist der kopf eines geisterfahrers
beim frontalzusammenprall mit einem lieferwagen
auf der heckscheibe zerplatzt und als sie ihn
aus dem wagen holten (wie man eingebrannte essensreste
von einer herdplatte kratzt) baumelte
ihm die seele aus dem kopf heraus |
Hier sehe ich die allgemeine Hysterie, die Panik vor dem Altwerden. Es ist nicht einfach eine in der Entwicklung des Lebens selbstverständliche, neue Stufe, sondern - laut Medienwahn - der blanke Horror.
Zitat: | kauft nicht bei juden schreibe ich
mit edding an die wand neben dem kühlschank und so ähnlich
meine ich es auch |
Das ist der verzweifelte Versuch des LI, später - in vergleichbarer Lage - Gleichgesinnte zu finden. Personen, die ähnlich alt sind wie "Frau", sich der öffentlichen Ansicht anpassen und 'froh sind', Gleichgesinnte zu finden und sich in ihrem angeordneten Alt-sein nicht allein zu fühlen.
Das Wortspiel Winter/Kühlschrank halte ich für besonders gelungen!
Ich musste dein Werk mehrmals lesen, um zu einer Interpretation zu gelangen. Diese hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit - es sind meine Gedanken dazu; nicht mehr und nicht weniger.
Ich hoffe, wir lesen uns!
Liebe Grüße
Sternenfänger
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Tatze Eselsohr
T Alter: 32 Beiträge: 279 Wohnort: Esslingen
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T 24.11.2010 22:26
von Tatze
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Huiiii...
da habe ich auf ein allerliebstes Wintergedicht gehofft und werde überfallen von solch eindringlichen Bildern, welche, wäre da nicht noch das Element des lyrischen Schaffens, einem schlichten Ausdruck von Krudelität ähneln würden.
Aber ich bin nicht enttäuscht (ganz und gar nicht). Bloß angenehm überrascht, da ich bei dem Titel "Wintermärchen" (wie von dir wohl vorgesehen) etwas andere Assoziationen hatte bzw. einen anderen Inhalt erwartet hätte.
Doch ist auch dieses Gedicht, trotz meines vorschnellen Urteils, in der Tat sehr winterlich.
Es ist das Paradoxon zwischen der Reinheit des kalten Winters, der die Leute enger zusammenbringt (sie nach Wärme lechzen lässt) und der natürlichen Grausamkeit dieser Jahreszeit sowie der Metapher der "emotionalen Kälte", das mich fasziniert. Ein Kontrast, der schon viele Dichter inspirierte, aber gleichzeitig zeitlos ist. Zumindest wurde dieses Thema in deinem Gedicht originell umgesetzt.
Dein Titel birgt schon, was du in eben jenem Gedicht zum Ausdruck gebracht hast:
Ein Wintermärchen... ein (achtung, Pardadoxon!) "grausames Märchen", voller emotionaler Kälte.
Das Winterwetter, das doch irgendwie "Herr des Geschehens" ist (den Unfall verursacht) und die winterliche, emotionskalte Stimmung.
Mir gefällt, wie du alltägliche, neutrale, auf die Jahreszeit zurückzuführende Begebenheiten/Fakten mit einem gewissen Surrealismus vermischt.
Du spielst mit den Erwartungen des Lesers und bringst(schon fast subliminal) Merkmale des Winters (Farbe, Kontrast zum Sommer) detailliert mit ein.
Bsp:
Zitat: | neben der plane sitzt ein betrunkenes mädchen
in der einen hand eine flasche weißwein
mit der anderen kratzt sie sich schreiend
sommersproßen aus dem gesicht
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Gleichzeitig beschreibst du das Innenleben, die Gleichgültigkeit des LI,
das den Winter zwar als grausam ansieht/wahrnimmt... sich aber davon abschottet, beeinflusst allein durch die Medien (Fernsehen, Radio) und seinen Gedanken dazu.
Diese Indifferenz wird auch durch die durchgehende Kleinschreibung und dem Bild des Kühlschranks in deinem Gedicht deutlich.
Der Leser muss zwischen den neuralen, objektiven Informationen (wie dem ersten Satz) und dem Innenleben/der Perspektive des LI differenzieren, was ich persönlich sehr interessant und gut gemacht finde.
Du zeigst verschiedene Facetten des Winters:
Seine Unabänderlichkeit, die Funktion als Jahreszeit und Teile seiner symbolischen Bedeutung: dem Sehnen/Fehlen von emotionaler Wärme, seine Grausamkeit, die Vergänglichkeit von Schönheit und Liebe.
Beschreibst du mit diesen Zeilen wirklich nur das Innenleben des LI, das selbst nicht so recht versteht, was es eigentlich von dieser grausamen Welt/diesem Lebensabschnitt möchte (und daraus eine Erkenntnis zu ziehen versucht), oder vielleicht doch schon das bisschen den verwirrten kleinen Winterkobold, der in uns allen steckt?
Sehr gerne gelesen. Die unterschwellige Ironie, die Bilder, die du schaffst, der kafkeaske, zum Teil surreale Inhalt und die leichte Konfusion, die von Seiten des LI wahrzunehmen ist... das alles hat mich nachdenklich gestimmt.
Schönes Gedicht!!!
Liebe Grüße,
Tatze
ps: Hoffe meine Gedankengänge zu deinem Werk sind nachvollziehbar.So viele Eindrücke, so wenig Zeit sie systematisch in Worte zu fassen...
_________________ Wende dein Gesicht der Sonne zu,
dann fallen die Schatten hinter dich! |
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Stimmgabel Papiertiger
Beiträge: 4370 Wohnort: vor allem da
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24.11.2010 23:08
von Stimmgabel
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Hi Roman,
Diffus ? / Vielleicht ??? : Der permanente ICH-Kampf von Innen und Außen;
sehen wollen, und nicht sehen können – und auch nicht sehen wollen,
wie auch,
erkennen wollen und nicht erkennen können – und nicht erkennen wollen!
Veränderungen passieren, sollen passieren – und eben auch nicht.
Und hier sind die allgemeinen Protagonisten in diesem Daseins-Spiel passive Gefangene – und eiern letztlich hierin rum und mit – mal ein Aufbäumen,
und sich eine Hinweis-Notiz irgendwo hinschreiben – vielleicht mal was ändern?
Für mich ein wenig sehr allgemein gehalten : -)) /(falls es in meine Richtung ginge : -)) ),
könnte z.B. auch nen Hosenknopf nach oben schmeißen – und, entweder kommt er wieder runter, oder bleibt irgendwo oben feststecken...,
egal – wäre dann so, kann ja ne Buttel trinken...
Und diese Winter-Metapher vielleicht als das Merkmal – dass etwas passiert, was man so nicht will ??? / Eine Art vor-erwartete Negation ?
Der Jude ist mir hier in seiner Funktion nicht klar ?
Mal so viel – wahrscheinlich komplett daneben / und ein fragendes Tschüss, Stimmgabel
--
_________________ Gabel im Mund / nicht so hastig... |
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Fao wie Vendetta
Alter: 33 Beiträge: 1994
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24.11.2010 23:20
von Fao
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Ich bin grad schon auf dem Sprung,
bevor ich geh muss ich aber unbedingt sagen, dass
"Kratzt sie sich ... Sommersprossen aus dem Gesicht"
Ein wahrlich w-i-e-d-e-r-l-i-c-h-e-s
Bild ist, dass mich gruseln lässt und das ich so bald nicht wieder loswerde.
Naja und Genialität und Wiederlichkeit, da schließt das eine ja nicht das andere aus.
Dennoch.
schütterliche Grüße
Fao
_________________ Begrüßt gerechte Kritik. Ihr erkennt sie leicht. Sie bestätigt euch in einem Zweifel, der an euch nagt. Von Kritik, die euer Gewissen nicht anerkennt, lasst euch nicht rühren.
Auguste Rodin - Die Kunst. |
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versbrecher Eselsohr
Alter: 58 Beiträge: 350 Wohnort: Düsseldorf
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25.11.2010 09:24
von versbrecher
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Grüezi jim-knopf,
sprachlich wie immer jar nüscht auszusetzen. Mir persönlich allerdings ist dieser Text zu laut, heißt: zu sehr darauf aus, durch Effekte zu bestechen.
Klar, der Widerspruch zwischen Gedichttitel & Inhalt soll auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden; ich allerdings fühle mich durch die Vielzahl der verwandten Kracher (mit der anderen kratzt sie sich schreiend/sommersproßen aus dem gesicht; aus den eingeweiden des flachbildfernsehers; ist der kopf eines geisterfahrers/beim frontalzusammenprall mit einem lieferwagen/auf der heckscheibe zerplatzt; baumelte/ihm die seele aus dem kopf heraus) übersättigt, bleibe nur noch an diesen Schockeffekten hängen.
_________________ lg
der versbrecher |
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Eredor Dichter und dichter
Moderator Alter: 32 Beiträge: 3416 Wohnort: Heidelberg
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26.11.2010 17:54
von Eredor
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Hi Roman,
ich hab mir das Gedicht, seit es im Forum steht, jeden Tag mehrmals durchgelesen bis ich mich dazu überwunden hab, was dazu zu schreiben.
Eigentlich sprach mich der Text überhaupt nicht an, war nicht nur pathetisch sondern auch ziemlich widerlich auf den ersten Blick - aber da gab es ein paar Stellen, die haben mich einfach nicht losgelassen und ich musste einfach herausfinden, in welchem Kontext sie zueinander stehen.
Das wäre zum Beispiel diese Stelle:
Zitat: | neben der plane sitzt ein betrunkenes mädchen
in der einen hand eine flasche weißwein
mit der anderen kratzt sie sich schreiend
sommersproßen aus dem gesicht |
oder diese:
Zitat: | kauft nicht bei juden schreibe ich
mit edding an die wand neben dem kühlschank und so ähnlich
meine ich es auch |
oder diese:
Zitat: | (wie man eingebrannte essensreste
von einer herdplatte kratzt) baumelte
ihm die seele aus dem kopf heraus |
Alles zusammengeworfen allerdings macht für mich keinen Sinn. Tut mir leid, aber dieses Gedicht ist nichts für mich. Mir scheint, als solle der Leser mit schockierenden Bildern angelockt werden - und ich weiß nicht, was die Stelle mit dem Autofahrer soll. Ich kauf sie dir nicht ab
Was aber gut ist, und das haben schon Leute erwähnt, ist der Kontrast zwischen warm und kalt.
Weißwein - Sommersprossen
Geisterfahrer - Eingebrannte Essensreste
lg Dennis
_________________ "vielleicht ist der mensch das was man in den/ ersten sekunden in ihm sieht/ die umwege könnte man sich sparen/ auch bei sich selbst"
- Lütfiye Güzel |
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