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Mardii Stiefmütterle
Alter: 64 Beiträge: 1774
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07.10.2010 18:09 Rezension: Im zweiten Stock von Mardii
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Mikrokosmos?
Vergangenheitsbewältigung aus der Sicht der Überlebenden: Eine jüdische Familie wird während des Krieges deportiert, ein Nazi eignet sich deren verbliebenes Eigentum an und etabliert sich im Leben nach der Katastrophe.
Die Einleitung beschreibt die Umgebung des Geschehens, ein Wohnhaus, ein Stiegenhaus, das Nebenschauplatz ist, und schließt in die Beschreibung nicht nur die geographische Lage, sondern auch die historische und politische Dimension mit ein:
Zitat: |
Unsere Familie lebte im dritten Stock dieses klassischen Bürgerhauses mitten in Wien. Eigentlich gab es fünf Stockwerke, offiziell aber nur drei, denn zu Zeiten der Monarchie durften die Häuser nicht mehr Etagen haben. Das wussten die Bauherren zu umgehen, indem sie Mezzanin, Hochparterre und Dachgeschoß titulierten, was in Wahrheit eigene Stöcke waren inklusive Wohnungen. Vier Wohnungen auf jeder Ebene gab es. |
Der Nebenschauplatz führt in die Hintergründe der Geschichte ein: die spielenden Kinder lernen sich kennen und damit die Geschichte der Eltern:
Zitat: |
Im Stiegenhaus spielten mein Bruder und ich mit den Kindern der Spanningers. Der Vater war bei der SS gewesen; einmal habe ich ein Foto von ihm in schwarzer Uniform auf der Kredenz bei ihnen gesehen. Jetzt führte er die Tabaktrafik unten im Haus. |
Woher aber weiß der Erzähler dies? Im weiteren Verlauf wird dem Leser klar, dass die Familie des Erzählers die Informationsquelle sein muss:
Zitat: | Weil meine Mutter die Deportierung des Ehepaares vom zweiten Stock mit ansah, legte sie ihre Mitgliedschaft beim Bund Deutscher Mädchen zurück. Meine Großmutter traf fast der Schlag vor Angst. Aber es war nichts weiter passiert, wahrscheinlich hatte man Kinder damals genauso wenig ernst genommen wie heute. |
Sehr gut wird das Nebeneinander von Menschen, die die Verbrechen der Nazis wortlos mitansahen und heimlich verurteilten, und den ehemals offen die Verbrechen gutheißenden Opportunisten dargestellt.
Doch die Opfer bleiben gesichtslos. Was dem Leser zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Familie des Erzählers eben doch der schweigenden Mehrheit angehörte:
Zitat: |
Die Wohnung hatte vorm Krieg einem jüdischen Ehepaar gehört, das im Vierundvierzigerjahr auf einen Lastwagen verladen wurde. Außer einem Koffer mit dem Nötigsten durften sie nichts mitnehmen. |
Etwas zu viel für den kurzen Text ist der Blick auf die Generation der Eltern, die ebenfalls im Treppenhaus spielte. Dafür bietet die Erzählung Stoff für eine ausführlichere Schilderung der Ereignisse im Haus:
Zitat: | Damals war ich noch gar nicht auf der Welt. Meine Mutter und ihre Schwester hatten zu dieser Zeit im Stiegenhaus gespielt. Sie rutschten auf dem Hintern die glatten Steinstufen hinab. |
Eine kleine Erzählung mit Potenzial zu einem Roman, deshalb die Antwort, ja, ein Mikrokosmos, der den Bezug zu einer ganzen Epoche, den Menschen, die in dieser Zeit lebten und den Bogen von der Vergangenheit ins Jetzt, der Zeit des Erzählers, spannt.
Etwas schwach angedeutet nach dem grandiosen Einstieg, die Atmosphäre: hier ließe sich noch einiges ausarbeiten. In der Art wie folgender Satz:
Zitat: | Meine Großmutter stellte bei Fliegeralarm den Topf mit den Erbsen unter die Bettdecke, um sie fertig zu garen, wenn das Gas ausging und alle in den Keller liefen, um die Bomben zu überleben. |
Eine Geschichte, wie schon viele erzählt wurden, jedoch mit ihrem eigenen Charme und wie gesagt dem Potenzial zu etwas größerem.
Mardii
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Nihil { }
Moderator Alter: 34 Beiträge: 6039
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27.10.2010 14:45
von Nihil
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Hallo Mardii!
Dein Beitrag ist schon fast verjährt, aber ohne eine Antwort möchte ich ihn hier natürlich nicht stehen lassen. Ich hoffe, du bist nach wie vor daran interessiert. Für die Zukunft werde ich mir etwas anderes einfallen lassen, denke ich.
Deine Rezension finde ich ganz gelungen, weil du sowohl positiv wie auch negativ wertest, sogar interpretierst und auch mit Zitaten arbeitest. Zunächst fasst du die Geschichte zusammen, stellst dabei jedoch deine eigene Antwort auf den Sinn des Textes an den Anfang: Der Text sei ein Mikrokosmos, der den „Alltag“ der Nazi-Zeit kurz und prägnant zusammen fasst, so wie er in vielen Haushalten war, so wie er schon oft erzählt wurde. Den letzten Punkt kritisierst du gleichfalls. Ich würde dir darin zustimmen, dass dieser Text kein wirklich originelles Thema bietet, aber eine längere Ausführung sicherlich wert wäre. Zur Ausführung selbst führst du eine Zusammenfassung zu den Punkten Charakteren und Sprache an, die in ihrer Knappheit der Länge der gegebenen Geschichte angemessen sind. Natürlich kann man eine Szene, die mit wenigen Sätzen gezeichnet wurde, nicht in aller Ausführlichkeit auseinander nehmen, schon allein deshalb, weil meistens nicht genügend Stoff dafür vorhanden ist.
Ansonsten finde ich, dass du deinen Kommentar verständlich und nachvollziehbar gestaltet hast und finde gut, dass du zu den wichtigsten Punkten Stellung beziehst.
Gruß,
Nihil
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Mardii Stiefmütterle
Alter: 64 Beiträge: 1774
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27.10.2010 15:06
von Mardii
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Hallo Nihil,
Zitat: |
Dein Beitrag ist schon fast verjährt, |
Macht nichts mehr.
Zitat: |
und auch mit Zitaten arbeitest. |
Bin ganz stolz, dass ich jetzt zitieren kann!
Gruß von Mardii
_________________ `bin ein herzen´s gutes stück blech was halt gerne ein edelmetall wäre´
Ridickully |
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Mondokin Schneckenpost
M
Beiträge: 12
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