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Paragraphentigerin Gänsefüßchen
Alter: 70 Beiträge: 35 Wohnort: Hannover
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15.08.2010 22:59 Ein Bild aus Kindertagen von Paragraphentigerin
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Hallo!
Diese Geschichte ist mir wichtig, so dass ich auf jeden Fall möchte, dass sie wieder gelesen werden kann, obwohl ich mich evtl. die nächste Zeit kaum hier aufhalten und wirklich aktiv sein kann.
Wenn ich dann aus dem Krankenhaus zurück und wieder halbwegs fit bin, werde ich voller Tatendrang Kommentare beantworten und endlich selber auch welche verfassen.
Habe mich bisher vor allem umgesehen, wie das hier so läuft.
Es grüßt die Kyri
Ein Bild aus Kindertagen
Wie gebannt starrt sie auf den Monitor. Dieses Bild kennt sie. Über vierzig Jahre ist es her, aber sie erinnert sich noch, als wäre es gestern gewesen, dass der neue Nachbarsjunge plötzlich da stand, einen Apfel in den Händen, den Weidenkorb vor sich. Er sah sie an: „Hier, magst du? Habe ich eben gepflückt. Ich bin der Jan von nebenan“, und gab ihr einen Apfel ab.
„Ich bin die Lene, danke schön.“
Er war fast zwei Jahre älter als sie, kam aber in dieselbe Klasse. „Naja, wir sind öfter umgezogen“, erklärte er ihr, „überall lernen sie was anderes.“ Und damit war das Thema erledigt.
Der Schulweg war stets spannend: Hin, weil sie immer zu spät dran waren und rannten, um pünktlich zu sein; zurück, weil es so viel zu entdecken gab: Mal ein leeres Nest – da wusste sie oft, welcher Vogel dazu gehörte; dann wieder beobachteten sie Tiere, sahen, wie sich die Blätter verfärbten und die Samen reiften.
„Herbst halt“, meinte er, „guck mal, wie dick die Knospen sind, der Busch wird schön dicht nächstes Jahr.“
Sie zeigte ihm ihr unterirdisches Versteck, eine Art Keller. Ganz rein trauten sie sich nie, nur in den vorderen Bereich. Was es für ein Bau war, fragten sie lieber nicht. Eltern verboten einem ja alles, was spannend war. Und das war es dort, weil so vieles herumlag. Ein Stück welliges, kruspeliges Glas, rund wie ein Untersetzer und dunkelblau, nahm sie mit nach Hause, bemalte die Rückseite mit Goldfarbe und bestaunte dann das dunkle Goldgrün, das so entstanden war. Sie hatte es noch jahrzehntelang aufgehoben, genau wie die paar Mosaiksteinchen, die sie mit Bleistift berieben und als Orakel benutzt hatten. Ob sie die noch irgendwo hat? Ein Gebilde, wie eine Sonne, ihr ganzer Stolz, ist irgendwann den Katzen in die Pfoten geraten. War vielleicht auch gut so. Für sie war es etwas Wunderbares, Geheimnisvolles; dabei war es vermutlich nur der Zierteil irgendeines Knopfes. Wirklichkeit kann schon entzaubern. Vielleicht lächelte Jan deshalb aus der Erhabenheit seiner zehneinhalb Jahre manchmal über ihre Schätze? Aber das durfte er, war er doch für sie eine Art großer Bruder. Nie hätte er zugelassen, dass sie allein ins Versteck ging. Dabei kannte sie es doch schon länger als er. Vielleicht wusste er mehr - schon damals? Als sie später, nach Jahrzehnten, hörte, dass das Paradies ihrer Kindheit der Tiefbunker des Dörfchens gewesen war, musste sie heftig schlucken. Wie viel Angst und Entsetzen mochte dort geherrscht haben, wo sie fröhlich gespielt und Abenteuer erfunden hatten.
Nun ist der Bunker zugeschüttet. „Zu gefährlich“, hat der Gemeinderat befunden. Na klar, hatte ja auch bloß lächerliche 35 Jahre offen gestanden, ohne dass was passiert war.
Ob heutige Kinder das auch so toll finden würden? Vielleicht machen die so viele gefährliche Sachen, weil es keine kleinen Abenteuer mehr gibt?
Noch immer sieht sie das Bild auf dem Monitor an. Ja, er ist es. Sogar das Hemd erkennt sie wieder. Sie merkt, dass aus dem Lächeln ihrer Gedanken längst Tränen geworden sind. Lange dauerte die schöne Zeit nicht. Einen Spätsommer, Herbst und den Frühling: Äpfel, Kartoffeln, welke Blätter, Kastanien, Nieselregen, Schneemänner, die ersten Frühlingsblumen, die jungen Katzen bei den Nachbarn – und dann war auf einmal alles anders.
Sie erinnert sich, wie sie morgens auf ihn gewartet hatte und dann ganz erschrocken war, als sie ihn sah: verängstigt, mit Spuren von Schlägen im Gesicht. Auf ihre Frage sagte er nur: „Nachher, ich darf nicht zu spät kommen.“ Und auf dem Heimweg hatte er es sehr eilig. „Ich kriege Krach zu Hause, wenn ich zu spät komme.“
Ihren Fragen wich er aus, tagelang. Endlich hielt er es nicht mehr aus. „Onkel Heinz hat uns gefunden. Jetzt geht es wieder los mit dem Prügeln.“
„Wer ist das denn?“
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Onkel so viel ändern konnte und dass er einen Jungen so schlagen würde, dass der kaum mitturnen konnte. Jan hatte zwar zum Lehrer was von einem Sturz gesagt, aber sie hatte das nicht glauben können.
„Weiß nicht, ob er wirklich ein Onkel ist. Der hat schon mal bei uns gewohnt, als ich noch klein war. Dann hat die Mama ein paar Sachen genommen und wir sind weggegangen. Aber er hat uns gefunden, da war ich grade in die Schule gekommen. Dann sind wir wieder umgezogen, aber es hat kaum ein halbes Jahr gedauert, da war er auch da. So ging das immer weiter.“
„Bleibt der jetzt immer bei Euch?“
„Keine Ahnung, aber wenn, dann haue ich ab.“
„Ich helfe Dir.“
Das tat sie auch. Er versteckte sich, sie brachte ihm Essen und eine Decke, aber lange klappte das natürlich nicht. Der Ortspolizist wusste sicher eine ganze Menge; leider nicht, warum der Junge ausgerissen war. Er brachte ihn zurück zur Mutter und … .
Lene wagt auch jetzt nicht, sich vorzustellen, was dann passiert ist. Jedenfalls standen ein paar Stunden später Krankenwagen und Polizei vorm Nachbarhaus. Entsetzt hatte sie rübergesehen. „Oma, ist Jan was passiert?“
Die Oma hatte gezögert: „Ja, Lenchen, aber jetzt wird ihm keiner mehr was tun.“
Mehr sagte sie nicht, und Lene fragte nicht weiter, wollte wohl lieber nicht mehr wissen. Sie hat nie wieder von Jan gesprochen.
Und nun ist sein Bild auf der Homepage einer Zeichnergruppe. Ja, Zeichnen konnte er. Ein Bild ihrer Katze, sein Weihnachtsgeschenk, bewahrt sie auf als Kostbarkeit. Er ist es, bestimmt. Sie versucht zu begreifen, dass er lebt. Soll sie es wagen? Wird er sich erinnern? Will er sich erinnern? Die Mail-Adressen aller Künstler sind aufgeführt.
Sie rennt in der Wohnung umher, nimmt die Gießkanne, trifft mehr die Fensterbank als die Blumen, will in der Küche einen Lappen holen, macht stattdessen den Abwasch, legt die Messer ins Gabelfach – dann geht sie an den PC: „Hallo Jan von nebenan, wenn Du Dich erinnerst, melde Dich bitte bei Lene aus Wernrode.“ Namen, Adresse, Telefonnummer drauf. Senden. Korrektur Abbrechen. Abschicken. Hoffen.
Nach fünf Minuten guckt sie, ob schon Antwort da ist. Nach zehn Minuten stellt sie fest, dass sie wohl etwas irre sein muss, Jan sitzt bestimmt nicht grad vorm Rechner. Daraufhin fängt sie an Staub zu saugen, bis der Nachbar klingelt und fragt, ob sie ausgerechnet nachts um elf noch ihren Hausputz machen müsste. Sie entschuldigt sich und beginnt, Bücher umzuräumen – noch immer keine Antwort – wischt die Regale aus, stellt die Stühle in den Flur, die Wohnung sieht aus wie beim Umzug, wieder klingelt es. Armer Nachbar – sie setzt ihr nettestes Lächeln auf, öffnet die Tür und . . . sieht einen Apfel: „Hier, magst Du? Habe ich eben gepflückt. Ich bin der Jan von nebenan.“
Kyri Becker
Weitere Werke von Paragraphentigerin:
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anuphti Trostkeks
Alter: 58 Beiträge: 4320 Wohnort: Isarstrand
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15.08.2010 23:14
von anuphti
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Liebe Kyri!
Das ist eine wunderschöne Geschichte! Mein Kopfkino geht sofort an, ich kann die beiden sehen, wie sie gemeinsam in dem alten Bunker spielen, ich erinnere mich an meine eigenen Schätze aus meiner Kinderzeit, an all die Glasstücke, Steine, Federn ...
EIne wunderschöne Geschichte über Kindheit, Erinnerungen, Freundschaft und Liebe.
Danke für das Happy End!!!
Sehr gerne gelesen!!
Liebe Grüße und alles Gute.
Ich drück Dir die Daumen für Deinen Krankenhausaufenthalt!
Nuff
_________________ Pronomen: sie/ihr
Learn from the mistakes of others. You don´t live long enough to make all of them yourself. (Eleanor Roosevelt)
You don´t have to fight to live as you wish; live as you wish and pay whatever price is required. (Richard Bach) |
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The Brain Reißwolf
Alter: 65 Beiträge: 1966 Wohnort: Over the rainbow
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15.08.2010 23:39
von The Brain
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Hallo Tigerin,
erst einmal alles Gute für deinen Krankenhausaufenthalt!
Zu deiner Geschichte - sehr einfühlsam erzählt - aber ....
Ist es Realistisch, dass sie nicht weiß, ob er tot it? Sie ging mit ihm in eine Klasse - dort wurde das fernbleiben doch bestimmt besprochen? Hier solltest du vielleicht noch mal in die Trickkiste greifen ....
Ebenso bei dem so schönen Happyend ... Lebt er in der selben Stadt? Welch ein Zufall! Und auch noch so nah, dass er in wenigen Minuten bei ihr ist?
Sehr stimmungsvolles Bild, dass aber ein wenig an der Logik, dem real Wahrscheinlichen, scheitert.
Bin schon ein bisschen müde - vielleicht morgen mehr ...
Liebe Grüße
The Brain
_________________ Dinge wahrzunehmen,
der Keim der Intelligenz
(Laotse)
***********
Die Kindheit endet nicht mit dem Erwachsenwerden.
Sie begleitet dich durch all deine Lebenstage.
***********
Alle Bücher dieser Welt
Bringen dir kein Glück,
Doch sie weisen dich geheim
In dich selbst zurück.
(Hermann Hesse) |
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Paragraphentigerin Gänsefüßchen
Alter: 70 Beiträge: 35 Wohnort: Hannover
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16.08.2010 00:49
von Paragraphentigerin
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Danke, TheBrain!
Zu Deinen Fragen: Ja, es ist realistisch. Du musst bedenken, dass sie es ja nicht wissen wollte, weil sie dachte, sie wüsste es, sich aber noch die Hoffnung erhalten wollte. Wenn man etwas nicht wissen will, kann man das auch gut verhindern.
Und besprochen wurden solche Dinge früher nicht unbedingt. Bei uns im Ort hat es mal irgendein Familiendrama mit Toten gegeben, in der Schule hat da niemand drüber gesprochen.
Ich könnte mir Gespräche vorstellen zwischen Mutter und Oma: "Hat sie nach Jan gefragt?" "Nein, vielleicht sollten wir es ihr mal erzählen, wie es ihm geht." "Sie wird doch irgendwann fragen müssen. Auch wenn es ein furchtbarer Schreck war." Aber sie sind letztlich ja auch hilflos, wie man mit sowas umgeht.
Ich könnt mir auch vorstellen, dass die Klassenkameraden sie eh nicht angesprochen hätten, Selbst wenn sie was wussten.
--
Der Rest ist auch kein so großer Zufall. Ich bin z.B. hier aufgewachsen, habe lange Zeit in anderen Städten gewohnt und bin dann doch wieder hier gelandet. Etliche meiner Klassenkameraden sind nie in eine andere Stadt gezogen.
Und mehr als ein paar Minuten waren es schon, wenn ich mir angucke, wie viel Chaos die Gute in der Zeit in ihrer Wohnung angerichtet hat. Ich denk mal, eine gute Stunde war es mindestens.
Klar ist es Zufall, aber die Wirklichkeit schreibt da wesentlich unwahrscheinlichere Geschichten.
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Paragraphentigerin Gänsefüßchen
Alter: 70 Beiträge: 35 Wohnort: Hannover
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16.08.2010 07:44
von Paragraphentigerin
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Danke noch mal , TheBrain, für Deine Frage!
Ich hab die halbe Nacht dran rumüberlegt, und ich glaub, es könnte lohnen, die Geschichte mal auf eine andere Art zu beschreiben, also den inneren Teil gewissermaßen. Sozusagen den Roman zur Geschichte. Mal sehen, wann ich das schaffe.
Vermutlich werde ich das erste Mal in meinem Autorenleben einen Plot verfassen, alle Personen samt Lebenslauf vorher einigermaßen entwickeln - aber die Richtung wird ja durch diese Geschichte vorgegeben.
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Gast3 Klammeraffe
G
Beiträge: 794 Wohnort: BY
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G 16.08.2010 17:55
von Gast3
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Hallo Kyri,
ich schließe mich anuphti gerne an - eine wunderschöne Geschichte. Auch wenn ich anfangs von einer ganz anderen Situation ausgegangen bin, da ich bei Monitor automatisch an einen Überwachungsmonitor in einem Krankenhaus gedacht habe und dadurch einen Hänger hatte, weil ich nicht wusste, wie das jetzt zusammenhängt.
Dass Jan letztlich nicht tot ist, und ein sogar ein Zusammentreffen mit ihm möglich ist, gefällt mir sehr gut.
Auch von mir alles Gute!
Liebe Grüße
schneestern
Ich hab ja noch was vergessen. Dieses Bild ist einfach nur schööön:
Sie merkt, dass aus dem Lächeln ihrer Gedanken längst Tränen geworden sind.
_________________ Sich vergleichen, ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. |
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Gast
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18.08.2010 20:49
von Gast
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Liebe Kyri,
mir gefällt Deine Geschichte auch sehr gut. Ich finde Du hast sehr eindrucksvolle Bilder geschaffen.
Liebe Grüße und gute Besserung
Monika
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